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Adorno noch einmal

Von der Terz und der Zersetzung der musikalischen Sprache

Adorno 1960 in Berlin

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik / Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958 (Seite 76 f)

1993 Beethoven-Buch + umgeblättert:

… „der gleiche Tatbestand nach seinen verschiedenen Aspekten. Wie aber, wenn schließlich der Ausdrucksdrang gegen die Möglichkeit des Ausdrucks selber sich kehrte?   [141]“

Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Fragmente und Texte herausgegeben von Rolf Tiedemann / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993

P.S. Natürlich war mir damals klar, dass man diese (hier isolierten) Äußerungen Adornos nicht grundsätzlich als gegen die Idee der „Zwölftonmusik“ gerichtet verstehen darf.

Vom Salon mit Chopin

JR 6.12.1966 Solingen

Quelle Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie / Zwölf theoretische Vorlesungen / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962

Chromatische Tonsprache und kujawische Motivik (s.a. hier)

Tadeusz A. Zielinski Chopin Lübbe 1999

Universalität?

Museum und integrales Konzert

Ich hätte damals noch etwas ergänzen können oder müssen: aus Adornos Kritik am Persönlichkeitsideal (jetzt 24.07.23 wiedergelesen, damals in „Stichworte“ von 1969, zuvor auch im Radio gehört):

So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte -, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückgezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.h. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß.

Quelle Theodor W. Adorno: Stichworte / Kritische Modelle 2 / darin: Glosse über Persönlichkeit / Suhrkamp Frankfurt am Main 1969 / Zitat Seite 54

Damals schon früher aus der Radiosendung mit Adorno notiert:

Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er dovon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seinern puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlicheit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«

*    *     *

P.S. Und heute nach 54 Jahren ein Wermuthstropfen in Adornos Hölderlin-Zitat? der – doch so ermutigende – letzte Halbsatz lautet im Original womöglich anders: nämlich so. (nein! Aufklärung folgt)

Fazit: auch angesichts höherer Autoritäten lohnt sich die Überprüfung von Zitaten ebenfalls hoher oder höherer Autorität. Oder? Am Ende behält gar die Philologie das allerletzte Wort…

Kritischer Bericht Seite 305 – 322, hier wiedergegeben Seite 316 – 319 / und die letzte Fortsetzung von „Dichtermuth“:

Neue Links zu Hölderlins Ode „Dichtermut“  1. Fassung 2. Fassung und Wikipedia hier (darin Link zu Versmaßen). Neue Ermutigung, Hölderlin selbst im Original zu suchen und verstehen zu lernen, gefunden bei Roland Reuß in dem sehr lesenswerten Buch „Ende der Hypnose“, Zitat:

Quelle Roland Reuß: Ende der Hypnose Vom Netz zum Buch / Verlag Strœmfeld Frankfurt am Main 2012 ( hier )

Patmos bei Wikipedia hier

Wessen ich bedarf (privatissime)

oder: was braucht der Mensch? 

Ich habe mich gesträubt, das Wort „Bedürfnis“ anzuerkennen und begann, es in Varianten auszubreiten. Allmählich verfolgte es mich. Um die „Bedürfnisanstalt“ aus den Augen zu verlieren, kam ich auf das menschliche Grundbedürfnis, nein, das philosophische Grundbedürfnis des Menschen, getarnt als Neugier, die Neigung zum Warum, überhaupt zum Fragen, dieses Für-alles-eine-Erklärung, einen-Sinn-suchen-müssen, der tägliche Versuch, den Zufall zu unterwandern. „Das habe ich doch geahnt!“ Und dann das Lob der Tiefen-Entspanntheit, des In-sich selbst-Ruhens, des Cool-Seins, der Unaufgeregtheit. Ich vergesse nie, wie Adorno in seiner Glosse über Persönlichkeit am Ende Hölderlin zitiert (in den 60er Jahren habe ich einige Radio-Vorträge vom Tonband abgeschrieben, aus Sorge, sie würden nicht veröffentlicht). Ich zitiere ihn aus der Veröffentlichung (1969):

Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlichkeit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: „Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!“

Ja, aber wenn ich nun kein Dichter bin? Eben!

Damals haben wir keine neue Veröffentlichung von Adorno verpasst. Selbst als ich gerade von der Orienttournee zurückkam, die unser Leben änderte. Und so verpasste ich 1983 eine neue Ästhetik, deren ich nach der Musikästhetik von Dahlhaus nicht mehr bedurfte. Glaubte ich. (Ansonsten seit 1963: „Über Grund und Wesen der Kunst“ von Rudolf Krämer-Badoni.) Sie hätte aus der Musikethnologie kommen müssen (und kam auch: mit John Blacking, Mantle Hood, Alan P. Merriam, Bruno Nettl, aber letztlich – ins Unendliche aufgefächert).

   und die wichtigen Stellen…   Verlag Gerig Köln 1967

Als ich endlich auf das folgende Büchlein stieß (vor kurzem, dank Martin Hufner in Facebook), da war diese neue Ästhetik längst wieder aus der wissenschaftlichen Rezeption verschwunden:

Ein Glücksfall, – für mich das Missing Link zu Ernst Cassirer und Susanne Langer. Noch ein Glücksfall: diese Ästhetik ist wieder greifbar (nicht nur dank Internet s.o.).

Was mich fast entmutigt hätte, ist das eine Wort, das ich im Vorfeld gelesen hatte:

 Für die vorliegende Neuausgabe hat der Verfasser den Text erweitert und ergänzt: den theoriehistorischen ersten Teil durch eine Auseinandersetzung mit der Postmoderne, den systematischen zweiten Teil durch ein umfangreiches Postskript. Das ursprüngliche Konzept, das die Kunst als eine besondere Weise der Bedürfnisartikulation charakterisiert, erfährt so eine semiotische Präzisierung und – in einem Verständnis der Kunst als Ausdruck personaler Eigenart und Eigensicht – eine anthropologische Vertiefung.

„Bedürfnisartikulation“. Es ist kindisch, aber für mich stand fest, dass Kunst nicht aus der Not, sondern aus der Fülle kommt. Es ist ein Überschuss, der schöpferisch macht, nicht ein Mangel. „Not macht erfinderisch“? Man muss sich einmal klargemacht haben, dass solche punktuellen Einsichten – „Lebensweisheiten“ – nicht viel wert sind. Der kleinste Einwand entkräftet sie: wie ist es denn mit psychischer Not? Erinnert man sich nicht blitzartig an Fälle, wo sie einen lähmt, Notlagen, in denen man keinen Ausweg sieht und die Gedanken im Kreis laufen, statt neue Chancen freizulegen. Wenn ich krank bin, habe ich das Bedürfnis, wieder gesund zu werden. Aber wenn ich gesund bin, habe ich das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen, in die Berge zu fahren, an die See. Mich anzustrengen, zu rennen, zu schreien, zu jodeln. Oder sogar zu singen? oder ich freue mich, wenn ich jemanden singen höre. Und was für eine Art „Bedürfnis“ steht denn hinter dem Gefühl der Sehnsucht? Bei Goethe führte es zu Gedichten. Bei Dostojewski zu Romanen. Bei Munch zu Bildern. Bei Schubert  … usw.

Das Schreiben schützt mich vor Kurzschlüssen, das Umkreisen eines Themas und die allmähliche Kreiserweiterung hilft mir im Alltag aus der „Not“. Als ich die Überschrift für diesen Artikel suchte, bzw. den Untertitel, glaubte ich, das sei ein Titel von André Malraux, den ich einmal sehr verehrte wegen seines Buches über das „Imaginäre Museum“, das die Kunst der ganzen Welt umfasste. Sein Roman aber hieß „So lebt der Mensch“ im französischen Original „La Condition humaine“, nicht: „Was braucht der Mensch?“.

Gut, ich lege diesen Versuch, eine Arbeit ernsthaft zu beginnen, erst einmal ad acta. Nebst dem üblichen Zusatz: (Fortsetzung folgt).

Doch ich lege die Musikästhetik von Carl Dahlhaus auch nicht ins Regal zurück, ohne den Text zu reflektieren, den ich damals schon mit Seitenzahl 109 (s.o. Umschlag-Notizen) abrufbar machen wollte: über „ästhetische Unmittelbarkeit“, die von manchen Leuten betont wird, um sich des Denkens bei Musik zu entheben. Es betraf mich direkt, weil es auch auf die gesamte nicht-westliche Musik bezogen werden konnte, die ohne Vorbereitung nun einmal nicht „verstanden“ wird. ZITAT Dahlhaus:

Daß unverkürzte ästhetische Erfahrung Geschichtliches impliziert, zeigt sich negativ an dem Unverständnis oder Mißverständnis, dem historisch entlegene Musik, etwa die des 14. Jahrhunderts, begegnet: einer Fremdheit, von der die ästhetische Kontemplation nicht so unabhängig ist, daß sie nicht beeinträchtigt oder sogar durchkreuzt würde. (Daß ein Hörer Unbegriffenes gerade darum genießt, weil es unbegriffen bleibt, mag zwar nicht ausgeschlossen sein, darf aber zu den peripheren, um nicht zu sagen belanglosen Phänomenen gezählt werden.) Was bei Vergangenem und Ferngerücktem drastisch hervortritt, gilt jedoch, obwohl es unauffälliger bleibt, in gleichem Maße auch von Werken, die uns näher liegen und zu deren Verständnis es keiner fühlbaren Anstrengung bedarf: Ein Kommentar – die Mühe historischer Reflexion – ist nur darum überflüssig, weil die intellektuellen und geschichtlichen Momente, die das Werk einschließt, uns selbstverständlich sind. Und daß sie es sind, verführt dazu, sie zu übersehen und der Täuschung zu verfallen, die ästhetische Betrachtung sei „voraussetzungslos unmittelbar“. Die geschichtlichen Vermittlungen, die dem Verständnis einer Symphonie von Brahms oder eines Musikdramas von Wagner „zur Grundlage und zur Bedingung“ dienen, bleiben verborgen, weil sie zu Traditionen, über die man nicht reflektiert, eingeschliffen sind; dennoch sind sie wirksam, und es würde die ästhetische Erfahrung reicher machen, wenn man sich ihrer bewußt wäre. Daß die „zweite Unmittelbarkeit“ das Ziel des ästhetischen Verhaltens darstellt, sollte nicht als Argument zur Rechtfertigung der „ersten“ mißbraucht werden, die bei denen, die sie für sich in Anspruch nehmen, in der Regel nichts als ein Alibi für Stumpfheit ist. Die Versenkung in ein Kunstwerk ist, so selbstvergessen sie sei, selten ein mystischer Zustand im unverwässerten Sinne, ein regungsloses und verzücktes Starren. Ist sie aber ein Hin und Her zwischen Kontemplation und Reflexion, so hängt die Stufe, die sie erreicht, von den ästhetischen und intellektuellen Erfahrungen ab, die ein Hörer mitbringt und in deren Kontext das Werk, das er gerade betrachtet, einfügt. Intellektuelle Momente sind keine überflüssige Zutat, sondern in der ästhetischen Wahrnehmung immer schon enthalten, und zwar entweder in rudimentärer oder in entwickelter Gestalt – und daß es ästhetisch ein Vorzug sei, wenn sie in primitivem Zustand gehalten werden, ist nicht einzusehen. Begriffsstutzigkeit ist schwerlich eine Gewähr oder ein Zeichen für ästhetische Sensibilität.

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln TB 256 (1967) Seite 109f

Kleiner Vorstoß zu Hegel

Phänomenologie des Geistes

Wie so oft. Früher schon durch Herbert Schnädelbachs schönes Buch, das verständlich macht, weshalb es ohne diesen hohen Abstraktheitsgrad nicht geht. (Was aber mir dann doch nicht half.) Und gerade auch am konkret fasslichen Herr-Knecht-Dualismus, der mir leicht zugänglich schien, bin ich gescheitert.

Jetzt aber plötzlich nahe gerückt, z.T. durch den Zugang über Wikipedia:

Hier Herrschaft und Knechtschaft

Hier Phänomenologie des Geistes

Dann aber vor allem durch den einen Artikel „Anerkennung“ im tollen und sehr empfehlenswerten Stichwort-Buch „Philosophie! die 101 wichtigsten Fragen“ von Thomas Vašek (Theiss/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017). Seite 146:

Für Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) braucht die Ausbildung des Selbstbewusstseins notwendig die Anerkennung durch ein anderes Selobstbewusstsein. In seiner „Phänomenologie des Geistes“ stellt er diesen Gedanken vor. Das Selbsbewusstsein ist dialektisch – es besteht aus zwei entgegengesetzten Komponenten: dem Herrn und dem Knecht. Der Herr ist dabei „für sich“, er gebnügt sich selbst und will diesen Zustand um jeden Preis erhalten. Der Knecht hingegen begehrt die Gegenstände der Sinnenwelt (zu denen der Herr keinen Zugang hat, weil er nicht körperlich arbeiten muss) und lebt in Furcht vor dem eigenen Tod. Vereinfacht könnte man sagen, der Herr steht für das absolute, der Knecht für das partielle, abhängige Selbst. Beide brauchen sich gegenseitig, da ihnen ohne den anderen etwas fehlt. Hegel beschreibt die Beziehung von Herr und Knecht als Prozess, stellenweise sogar als Kampf, in dem sich das Selbstbewusstsein in gegenseitiger Anerkennung der beiden Parteien formt.

Was in Bezug auf die Bildung des Selbstbewusstseins noch sehr abstrakt klingt, wird anschaulicher, wenn man es auf die zwischenmenschliche Ebene überträgt. Wie Johann Gottlieb Fichte (1762-1840) darlegt, muss der Einzelne seinen Totalitätsanspruch aufgeben, um in ein soziales Miteinander zu treten. Nur wer den anderen als gleichwertiges, selbstständiges Individuum anerkennt, wird bereit sein, sich moralisch zu verhalten. Somit ist die gegenseitige Anerkennung, die wir heute vielleicht eher als Respekt vor der Integrität des anderen beschreiben würden, die gesellschaftliche Basis, auf der Rechte, Gesetze und Normen entstehen können. Zwischen uns selbst und dem anderen vollzieht sich ein Wechselspiel. Wir können unser Gegenüber darum anerkennen und respektvoll behandeln, weil wir uns selbst in ihm erkennen und auch er uns als Person anerkennt. Ohne den anderen, den Gegenspieler, bleibt uns also auch ein Teil von uns selbst verborgen.

Und nun mit neuem Elan hinein in die „Phänomenologie“:

Hegel Herr und Knecht kl

Es ist nicht leichter geworden? Ich lese kreuz und quer, beobachte den wieder wachsenden Widerstand, werde milder gestimmt (gegen mich? oder ihn?), wenn ich auf die Botanik oder das Organische stoße, auf die absurde Schädellehre (im Verhältnis zum Gehirn), dann aber auf den fahrlässigen Gebrauch von Zitaten, selbst im Fall Goethe, wo der Wortlaut wohl auch für Hegel leicht auffindbar wäre (im „Faust“):

Hegel Lust

Da steht im Ernst in der Anmerkung 2):

Derartig frei umgestaltete Zitate finden sich bei Hegel häufig.

Ja, und wie heißt es denn nun korrekt???? Herr Georg Lasson, ich meine Sie! Dessen Ausgabe (1921) schon Adorno benutzte, und dieser konnte gewiss auch das Gemeinte sofort auswendig hersagen, mit seiner Roboter-Stimme. Und ich, im Moment recht vorurteilsfrei, lasse es mir korrekt per Internet von einem Jesuiten verklickern, der in der Zeitschrift für Christliche Kultur („Stimmen der Zeit“) schrieb:

Hegel bezieht sich mit seinem ungenauen Zitat auf eine schadenfrohe Bemerkung Mephistos über Faust; diese beginnt mit den Worten: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, Des Menschen allerhöchste Kraft, Laß nur in Blend- und Zauberwerken Dich von dem Lügengeist bestärken, So hab‘ ich dich schon unbedingt.“ Und sie schließt: „Und hätt‘ er sich auch nicht dem Teufel übergeben, Er müßte doch zugrunde gehn!“

Hegels Text trifft jenen Menschen, der durch sein bloßes Tun die Vernunft verachtet, weil er unüberlegt und unvernünftig „zum Genüsse der Lust“ handelt; er unterstellt jedoch nicht, daß dieser auch die Überzeugung hegt, die Vernunft sei verächtlich. Faust hingegen bekennt ausdrücklich: „Mich ekelt lange vor allem Wissen.“ Er steht also bewußt dazu, „Vernunft und Wissenschaft“ zu verachten, weil sie ihm mit ihrer „grauen Theorie“ nicht – wie er es sich von ihnen versprochen hatte – die bunte Fülle des Lebens nahezubringen vermögen.

Quelle siehe HIER.

Sind wir nun weiter? Immerhin, die Anerkennung meiner selbst ist gewachsen, zunächst bei mir, aber die breite Öffentlichkeit wird folgen.

Vom Zweifachen, Vielfachen und vom Einfachen

Carl Dahlhaus und ein Märchen, wiedergelesen

ZITAT

Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere, ist zu grob, um der musikalischen Wirklichkeit gerecht zu werden, obwohl angesichts der Tendenz, Kompliziertes als unverständlich zu denunzieren und aus psychologischen Tests, in denen Versuchspersonen gegenüber verwickelten Gebilden versagen, hämische ästhetische Urteile abzuleiten, das Verfahren, ähnlich simplifizierend zu erwidern, nicht unangemessen wäre.

Das sind 51 Wörter in einem Text von 420 Zeichen. Es wäre eine schöne Übung, dies „mit eigenen Worten“ wiederzugeben. Oder auch darzulegen, warum es sinnvoll ist, die Satzteile so ineinander zu verschachteln. Der Sinn ist vielleicht, gleichzeitig mit der Aussage über verwickelte Gebilde eine solche Konstruktion als Beleg mitzuliefern.

ZITAT

Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens: und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.

Das sind 72 Wörter in einem Text von 384 Zeichen. Mehr Wörter also, aber weniger Zeichen. Was folgt daraus? Gar nichts, außer, dass man – in diesem Falle – weiterlesen möchte. Man könnte hinzufügen: aber in dem vorhergehenden Zitat möchte man vielleicht weiterdenken.

Ich unterbreche, um Erinnerungen zu rekapitulieren. Ja, das Märchen kannte ich seit den 50er Jahren nahezu auswendig, da ich eine 78er Schallplatte davon besaß, mit der Stimme von Mathias Wiemann, die ich liebte. Und mit Texten wie denen von Dahlhaus hatte das Musikstudium begonnen: Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ besaß ich seit Studienbeginn Mai 1960 in Berlin, hatte ein Stadtbüchereiexemplar aber schon im Freibad Bielefeld im Sommer vorher … angeblättert; deshalb kommt mir der Chlorgeruch in den Sinn, wenn ich den Anfangstext anschaue. Ich war gescheitert und nahm einen neuen Anlauf, von Berlin an sollte mein Leben „aufgeklärt“ werden, warum legte mir Adorno gedankliche Wackersteine in den Weg? Man sieht es dem Text an, welche Probleme ich schon mit dem Benjamin-Zitat hatte.

Adorno Benjamin-Zitat Ich schrieb also eine Auflösung des Textes auf die freie Seite daneben und war etwas stolz. Die zwei Autoren (Strawinsky und Schönberg) entsprachen den entlegenen Extremen, den scheinbaren Exzessen der Entwicklung und: ich durfte sie – auf einer höheren Ebene – beide gleichermaßen verehren.

Adorno Benjamin-Zitat Auflösung Es gibt in der Entwicklung entlegene Extreme, scheinbare Exzesse der Entwicklung. Es besteht aber ein höherer Zusammenhang, eine Totalität, da es möglich ist, daß die Gegensätze sinnvoll nebeneinander stehen; die Form der Betrachtung aber, die aufzeigt, wie sich eine einheitliche Idee verzweigt bis in entlegene Extreme, das ist philosophische Geschichte.

Die Furcht vor schwierigen Texten war mir genommen. Und auf die allererste Seite (mit dem Datum) notierte ich einen Satz, als sei ich der Erfinder der seriellen Musik: Jeder Ton muß durch die Reihe bestimmt sein!? Mit gleichem Recht: Wodurch legitimiert sich ein Rhythmus, Dynamik? Interessant auch der Hinweis Über Differenzierung S. 78, – zumal wenn ich das Dahlhaus-Zitat (oben) betrachte, das den Anlass zum heutigen Blog-Eintrag gab, der dann abdriftete.

Adorno JR Berlin Notiz

Um auf den Anfang (Dahlhaus) zurückzukommen, gebe ich zunächst folgende Aufteilung der Satzfolge zu bedenken (man springe probeweise auch von Satzteil 1 direkt zu Satzteil 2) :

1) Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere, ist zu grob, um der musikalischen Wirklichkeit gerecht zu werden, obwohl

2) angesichts der Tendenz, Kompliziertes als unverständlich zu denunzieren und aus psychologischen Tests, in denen Versuchspersonen gegenüber verwickelten Gebilden versagen, hämische ästhetische Urteile abzuleiten,

3) das Verfahren, ähnlich simplifizierend zu erwidern, nicht unangemessen wäre.

Anschließend versuche man zu erfassen, ob meine folgende Version den gemeinten Sachverhalt trifft:

Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere, ist zu grob und wird der musikalischen Wirklichkeit nicht gerecht. Es gibt [zwar] die Tendenz, Kompliziertes als unverständlich zu denunzieren. Oder auch hämische ästhetische Urteile aus psychologischen Tests abzuleiten, in denen Versuchspersonen, [die als intelligent gelten,] gegenüber verwickelten Gebilden versagt haben. [Aber] es wäre durchaus ein Verfahren möglich [und auch angemessen], ähnlich simplifizierend zu erwidern.

Jetzt wäre die Aufgabe, ein solches Verfahren probeweise zu formulieren. (Es würde der Komik nicht entbehren.) Mir scheint einstweilen, dass sich das Wort obwohl am Ende des Satzteils 1) in seiner logischen Funktion als angreifbar erweist. Enthält es gar eine Drohung?

Dahlhaus fährt jedenfalls fast in diesem Sinne fort, um dann – „jenseits von Apologie und Polemik“ – einzulenken:

Gegenüber auftrumpfenden Banausen reicht die Berufung auf eine Entwicklung zum Differenzierteren, die einen Fortschritt bedeutet, vorerst aus. Jenseits von Apologie und Polemik aber scheint festzustehen, daß zu allen Zeiten – und die Musik Anton von Weberns bildet keine Ausnahme – die Bemühung vorherrschte, Kompliziertheit in der einen Richtung durch Einfachheit in einer anderen im Gleichgewicht zu halten.

Hier sei auch noch der Ausgangspunkt des Gedankengangs nachgeliefert:

Die These Hans Mersmanns, daß die Analysierbarkeit musikalischer Werke ein Wertkriterium sei, stößt einerseits beim Volkslied, andererseits bei der noble simplicité des Klassischen an ihre Grenzen. Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere … (etc. s.o.).

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln TB 255 (1967) Seite 136 f

Dieses Problem des Einfachen ist es eigentlich, das mich interessiert. Daher auch der Zitatkontrast mit dem Märchen vom Froschkönig. Vorläufig abschließend sei hinzugefügt, wie eigentlich die Gebrüder Grimm zu ihrer sprachlich so suggestiv einfachen Fassung gekommen sind: von einer simpleren, aber weniger schönen Vorlage, die 1810 noch so ausgesehen hat:

Die jüngste Tochter des Königs ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Darauf nahm sie eine goldene Kugel und spielte damit, als diese plötzlich in den Brunnen hineinfiel.

Korrekter ist es natürlich als wenn (s.o.) von einem Königskind die Rede ist, dann aber sie (und nicht es) Langeweile hatte. Man merkt es nicht, weil der Erzählton darüber hinwegführt.

Mehr zu Wilhelm Grimms Arbeit am Märchen bei Ulrich Greiner in der ZEIT (11. Dez. 2009).

Nachtrag 8. Mai 2015

Frage an Joan Baez

Was muss ein Lied haben, um mehrere Jahrhunderte zu überdauern?

Das weiß ich selbst nicht so genau. Oft haben diese Lieder etwas Hymnisches. Sie wirken groß und wahrhaftig, selbst wenn sie ganz alltägliche Dinge behandeln. Aber um nicht vergessen zu werden, muss ein Song auch gut konstruiert sein. Ihn einem Publikum aus dem Nichts heraus vorsetzen zu können, ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin 19 / 8. Mai 2015 Seite 35 „Es gibt mehr Gründe zu protestieren als je zuvor“ Joan Baez / Interview: Johannes Waechter

Zur Charakteristik Adornos

Was ist Normalität?

Wie den gemeinsamen Freund Benjamin interessieren die Briefpartner [Theodor W. Adorno und Gershom Scholem], aus jeweils verschiedener Perspektive, das Schicksal des Sakralen nach der Aufklärung – ob und wie es „in die Profanität einwandern“ kann.

Das Hellseherische einer solchen Antizipation, die in einem langen Prozess der Annäherung erst Schritt für Schritt eingeholt wird, möchte man eher einer körperlosen Intelligenz zuschreiben. Diese Qualität ist für den Menschen Adorno charakteristisch. Entspannt war er nur im engsten Kreise und wirklich frei nur an seinem Schreibtisch. Diese verletzbare Person behielt Zugang zur eigenen Kindheit und war gleichzeitig mehr als bloß erwachsen. Sie lebte überwach und ängstlich, gleichsam mit schützend vorgestreckter Hand, sowohl diesseits wie jenseits einer Normalität, an der wir anderen unseren Halt haben.

Scholem war ein Teil dieser Normalität, auch wenn er – mit seinen großen abstehenden Ohren – aus ihr als Person und Gelehrter herausragte. (…)

Quelle DIE ZEIT 9. April 2015 (Seite 43) Jürgen Habermas: Vom Funken der Wahrheit. Zwei große Denker und ihre ungewöhnliche Freundschaft: Der soeben erschienene Briefwechsel von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem ist eine Sternstunde deutsch-jüdischer Geistesgeschichte.

Ein weiteres Zitat daraus:

Scholem, der seinen Freund Benjamin in finanzieller Abhängigkeit von dem im New Yorker Exil noch vergleichsweise komfortabel überlebenden Institut für Sozialforschung wuste, wollte eigentlich von „diesen Leuten“ nichts wissen. Insbesondere Horkheimer mochte er nicht. Seine erste Meldung an Benjamin über die Begegnung mit Adorno und seiner Frau ist nüchtern: „Mit Wiesengrund war ich einige Male zusammen, sonst habe ich mit niemand von der Sekte intimer gesprochen.“

[Nach der ersten Begegnung im April 1938 in New York, „im Hause von Paul und Hannah Tillich. Auch Siegfried Kracauer war anwesend.“]

Das Wort Sekte erscheint wie ein leicht salopper Einfall, spielte aber doch wohl in dem Kreis eine gewissen Rolle, zumal es im Zusammenhang mit Anton Webern mehrfach verwendet wird.

Quelle Musik & Ästhetik Heft 74 April 2015 Stuttgart (Seite 5) Michael Schwarz: Über Anton von Webern Theodor W. Adorno bei den Darmstädter Ferienkursen 1951

Die Notizen Adornos zum Vortrag sind hier zum erstenmal abgedruckt (darin „Problem des Sektierertums“ Seite 19):

Der falsche Glaube an musikalische Naturheilverfahren liegt darin, dass ein selber so unendlich Geschichtliches, wie das von Webern ganz auf die Reihe konzentrierte Zwölftonverfahren, hier in einem gewissermaßen zahlenmystischen Sinn dem Material als solchem zugeschrieben wird. (Adorno)

Was ist schwer zu verstehen?

Den Finger auf die Wunde legen (Eine Übung)

Ich weiß aus Erfahrung, dass viele Leute dort, wo sie nicht klarkommen, schnell ablenken, um sich keine Blöße zu geben. Oder irgendeinen Allgemeinplatz zu Hilfe rufen, der besagt: es lohnt sich nicht, darüber weiterzureden, man ärgert sich nur. Es könnte aber nützlich sein, wenn man sagen dürfte: ich verstehe das nicht, und wenn du es besser verstehst, erkläre es mir bitte in wenigen Sätzen, – denn für eine Art Lehrgang haben wir hier keine Zeit. (Im Vertrauen: es würde auch die Machtverhältnisse zwischen uns verschieben.) – Man muss ohnehin wissen: wer zu lange allein das Wort führt, tötet jedes Gespräch, und niemand, der sich längere Zeit überhaupt nicht mehr einbringen kann, fühlt sich in einer Gesprächsrunde wohl. Erst recht nicht in einem Zwiegespräch. Das hätte selbst Sokrates wissen müssen. Aber er wollte vielleicht gar kein Wohlbefinden erzeugen, ebensowenig das Gegenteil: er wollte das Denken des anderen in Bewegung setzen. Und das kann sich nicht jeder leisten. „Möchtest du wohl, Gorgias, so wie wir jetzt miteinander reden, die Sache zu Ende bringen durch Frage und Antwort, die langen Reden aber, womit auch schon Polos anfing, für ein andermal versparen? Also was du versprichst, darum bringe uns nicht, sondern lass dir gefallen, in der Kürze das Gefragte zu beantworten.“ – Kein Zweifel, es ist eine Art Streitgespräch, allenfalls ein freundschaftliches Wortgefecht, würde aber in einer normalen geselligen Runde nicht sehr weit führen. Man sagt „in aller Freundschaft“: Hör mal, sind wir denn hier in der Schule? Oder schlimmer: vor Gericht?!

Worauf will ich hinaus? Mir selbst gegenüber darf ich anders verfahren: die persönliche Alarmglocke sollte schrillen, wenn ich etwas nicht verstehe. Nicht einmal beim zweiten Lesen… Dann lege ich den Finger genau auf die Stelle, an der es passiert, und prüfe, woran es mangelt. Hier (in meinem Kopf) oder dort (im Text)? Möglich auch, dass mir ein notwendiges Detail des Vorwissens fehlt. Es könnte auch sein, dass ich nicht schalte, „auf der Leitung stehe“. Ich weiß, dass ich bei bestimmten Schritten abstrakten Denkens in Verwirrung gerate, so ähnlich, wie manche Kinder – sonst durchaus aufgeweckt (sehen Sie? ich will mich schonen!) – , die plötzlich links und rechts verwechseln oder dergleichen.

Ich will einmal festhalten, wo ich zuletzt ins Schleudern geriet. 1) Im Text einer Radiosendung über „Diderot und das Paradox des Schauspielers„. 2) In einem Artikel der aktuellen (9. April) Wochenzeitung DIE ZEIT, Autor:  Jürgen Habermas, Thema: Adorno / Gershom Scholem. Titel: Vom Funken der Wahrheit. Zwei große Denker und ihre ungewöhnliche Freundschaft: Der soeben erschienene Briefwechsel von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem ist eine Sternstunde deutsch-jüdischer Geistesgeschichte.

Das Merkwürdige daran ist, dass mich beide Themen interessieren: ich habe mich in letzter Zeit relativ eingehend mit Diderots „Paradox“ beschäftigt, und ich habe in meinem Leben viel Adorno gelesen (nur weniges von Habermas, gewiss, weil er sich nie zur Musik geäußert hat), von Scholem nichts, aber es ist ja zwischen den beiden ausführlich von Walter Benjamin die Rede, von dem ich einiges kenne. Ohne „mitreden“ zu wollen. Aber Zuhören müsste doch gelingen?

Was also ist los mit mir? Oder mit den Texten, die ich lesen will, aber nicht kann? Warum sage ich nicht: ich brauche keine Texte, die mir „ausweichen“? Weil ich darin etwas spüre, was entschlüsselt werden könnte. Der Fehler könnte bei mir liegen…

2) Zunächst hätte ich den biographischen „Kasten“ gründlich lesen sollen: ja, richtig, Habermas war Adornos Assistent in Frankfurt und war mit Scholem, „dem Erforscher der jüdischen Mystik“ nach Adornos Tod befreundet. Der Titel des Buches lautet „Der liebe Gott wohnt im Detail. Briefwechsel 1939 – 1969“. Was direkt an ein Wort erinnert, das ich mir vor langer Zeit aus Adornos „Charakteristik Walter Benjamins“ (Prismen S. 232) notiert hatte:

das Ewige [ist] jedenfalls eher ein Rüsche am Kleid als eine Idee.

Doch weiter, zu den Sätzen, bei denen ich die Lust verloren habe:

Das ‚Umschlagen der Mystik in Aufklärung‘ bezeichnet den Ort, an dem sich Adorno und Scholem treffen. Dieser hatte das Fortwirken der abgründigen Lehren eines Luria von Safed in den frankistischen Sekten des 18. Jahrhunderts untersucht und bis in die Französische Revolution hinein verfolgt. An dieser revolutionären Einmischung heterodoxer Lehren in die säkulare Gesellschaft sind die beiden aus verschiedenen Gründen interessiert.

Einem junghegelianischen Adorno steht der Zerfall der Hegelschen Philosophie vor Augen – der „Verwesungsprozess des absoluten Geistes“ (Marx). Er sieht im Wahrheitskern der liegen gelassenen Metaphysik ein transzendierendes, ein befreiendes Moment, das die dumpfe Immanenz eines alle Lebensbezirke durchdringenden Kapitalismus aufsprengen könnte. Wie kann dieser Wahrheitskern in den fortgeschrittensten Gestalten der Moderne, vor allem in der Kunst, wirksam werden?

Ja, da gibt es Namen und Andeutungen, die ich nur außerhalb des vorliegenden Textes klären kann: Luria von Safed … frankistische Sekten… Ich versuche es z.B. hier und hier.

Zugleich weiß ich: das liegt wohl doch jenseits meiner Ambitionen, das waren halt Gershom Scholems Forschungsgebiete. Aber die Entwicklung der persönlichen Konstellationen unter den Denkern in jener schwierigen Zeit ist zweifellos interessant. Die schwierige Stelle jedenfalls ist fast aufgelöst.

Und nun der Brückenschlag zwischen 2) und 1) :

Irgendwo las ich, dass Georg Simmel etwas über Schauspielerei geschrieben habe, schlage in seinem Sammelband „Philosophische Kultur“ nach, ob dieser Essay darin enthalten sei, – ist er nicht, aber ich entdecke, dass es eine Einleitung von – Jürgen Habermas gibt: Simmel als Zeitdiagnostiker. Und alle wichtigen Zeitgenossen werden erwähnt, darunter Adorno, der geschrieben habe:

Georg Simmel … hat doch als erster, bei allem psychologischen Idealismus, jene Rückwendung der Philosophie auf konkrete Gegenstände vollzogen, die kanonisch blieb für jeden. dem das Klappern von Erkenntniskritik und Geistesgeschichte nicht behagte.

O-Ton Adorno aus: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. Und weiter Habermas:

Blochs Spuren, zwischen 1919 und 1929 entstanden, verraten den Schritt des Mannes, der auf diesem Weg vorausgegangen war. Bloch hat das Sinnieren über „Lampe und Schrank“ oder über die „erste Lokomotive“ einem Simmel abgeschaut, der gleichermaßen über den Schauspieler wie über das Abenteuer philosophiert, der über „Brücke und Tür“ reflektiert hatte, um in diesen exemplarischen Gebilden Grundzüge des menschlichen Geistes verkörpert zu finden. Simmel hat nicht nur, eine Generation vor Heidegger und Jaspers, die Studenten ermutigt, aus den Bahnen der Schulphilosophie herauszuspringen und „konkret“ zu denken; seine Arbeiten haben, von Lukács bis Adorno, den Anstoß dafür gegeben, den wissenschaftlichen Essay als Form zu rehabilitieren.

 Quelle Jürgen Habermas: Simmel als Zeitdiagnostiker / in: Georg Simmel: Philosophische Kultur / Zweitausendeins 2008 Seite 17-32  (Habermas zuerst bei Verlag Klaus Wagenbach 1983)

1) Im SWR2-Text über „Diderot und das Paradox des Schauspielers“ von Christian Schärf bin ich ziemlich angetan bis etwa Seite 16. Insbesondere Rousseau von einer kritischen Seite behandelt zu sehen, die ich für mich schon länger ausbauen möchte (seit der Vorbereitung durch Rüdiger Safranski und Maximilian Hendler), aber auch die Verbindung mit Goethe und Hegel. – Die „Kontrolle“ eines orthographischen Fehlers („Verse“ statt Ferse) führt mich zu Goethes Originalübersetzung des Diderot-Werkes „Rameaus Neffe“ :

Es mag schön oder häßlich Wetter sein, meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall um fünf Uhr abends im Palais Royal spazierenzugehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d’Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder töricht. So sieht man in der Allée de Foi unsre jungen Liederlichen einer Kurtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen, lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber gleich verlassen sie diese um eine andre, necken sie sämtlich und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen.

(Und dieser Text wiederum erinnert mich an das schon behandelte Thema Krimskram im Kopf.)

Dann steige ich allmählich aus, etwa ab Christian Schärfs Skriptseite 17, wenn es von Nietzsche auf die Frauen geht, anschließend (aus modernen Paritätsgründen?) auf die Männer, zwischendurch auf Sloterdijks „Anthropotechnik“ und auf die amerikanische Philosophin Judith Butler, aus deren Sicht

auch unser Sprechen (…) nur als eine Verkörperungspraxis denkbar [ist]. Sprechakte sind reenactments bereits vollzogener Sprechakte, nur werden sie jeweils in einer neuen Präsenz zur Aufführung gebracht. Jedes reenactment verschiebt die Idee der Autorschaft eines Sprechens oder einer schriftlichen Handlung auf neue Akteure und auf eine neue Situation der gleichzeitigen Präsenz von Text, Rolle und Publikum.

Zweifel am Sinn dieser Zusammenfassung. Und nun folgt noch der Übergang zu Simmels Schauspieler-Essay und einer abstrakten Gedankenreihe, die – so meine ich – nicht nachvollziehbar ist, wenn man nicht genau die gleiche Literatur kennt, die der Autor sich angeeignet hat. Und dies nicht recht überzeugend vermittelt, wenn er zum Schluss doch wieder auf Rousseau kommt, als sei da noch was zu holen:

Das Paradox des Schauspielers ist noch lange nicht begriffen. Es scheint gar so, als sei es gar nicht lösbar, denn wer diesen Knoten zerschlagen wollte, müsste sich wohl selbst außerhalb jeder Rolle bewegen, müsste die Fiktionen Rousseaus vom Naturzustand in Lebenspraxis übersetzt und das Theater hinter sich gelassen haben.

Das klingt etwas nach Kleists Aufsatz über das Marionettentheater, aber wer weiß, ob der auf die Rousseau-Fiktion angewiesen wäre. Alles in allem eine anregende Lektüre also, dennoch ein Text, der nach aktiver Ergänzung verlangt und beim bloßen Hören am Radio am Ende zu viele Fragen offen lässt.

Aufbruchsstimmung

Aber womit beginnen?

(Natürlich, ich weiß es, schiebe es beiseite, um Ersatzhandlungen auszuführen, „Übersprung“ oder wie heißt es, das Hauptthema kann noch ein paar Stunden warten. Oder Tage?)

Zunächst also die Presse, die für soviel Anregung oder auch Aufregung sorgt. Die Themen müssen knapp sein, wenn Beethoven ins Zentrum der Seite „Wissen“ rückt. Nein, auf die rechte Seite, links pariert der Artikel „Wenn Frauen zur Nixe werden. TREND Wasserliebende Mädchen und Frauen tauschen ihren Badeanzug gegen Bikinioberteil und Fischschwanz.“ Bravo, gut für „Beethovens Werkstatt. Wie das Genie mit den Noten kämpfte“. Links unten: „Schon Ahnen des Menschen konsumierten Alkohol. STUDIE Biologen analysieren Enzym zum Alkoholabbau.“ Gottseidank, der Abbau funktioniert bis heute! Aber wie lange dauert es jeweils? Tage oder Wochen? Tage und Zeilen?

ST nach Neujahr 2015 Bitte anklicken!

Also, hier muss auf jeden Fall noch der Link zum Beethoven-Haus folgen, damit ich die Original-Skizzen studieren kann. Auch das nimmt Zeit! Es kann dauern!!! Dann die Frage, ob ich die Klassik nicht naiv überbewerte. Oder vielmehr grotesk unterbewerte. Der neue Link liegt mir vor. Aber noch fällt mir dazu nur ein, wie man (ich?) einst über die Liebe dachte: der Gegenstand der Liebe sei so heilig, dass man ihn nie und nimmer berührt. Was für ein unvergessliches Kapitel in der Werk-Einführung zu Robert Musil von Kaiser/Wilkins (1962), ich meine über die „Fernstenliebe“ oder so. Oder Goethes oder Philines „Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an.“ Beginne ich einfach mit dem Titel „Aufbruchsstimmung“ und danach endlich weiter in Moritz Eggerts Blog-Folgen. (Fortsetzungen eventuell später hier eruieren.)

Neben diese Symptome einer resignativen Dekadenz trat zeitgleich um die Jahreswende eine Aufbruchstimmung, die für den „neuen Menschen“, wie er in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ angekündigt worden war, eine geistige und körperliche Befreiung von bisher geltenden Normen bedeutete. Vor allem Künstler suchten nach neuen Lebensformen unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen und gruppierten sich in Gemeinschaften, um ein Leben im Einklang mit Natur und Kunst führen zu können. Damit verbunden war häufig ein neues Bewußtsein für den Körper, der nun nicht mehr in Kleidern versteckt und deformiert werden sollte, sondern sich in Licht und Luft bewegen durfte; der menschliche Körper wurde als ausdrucksstarkes Sprachorgan entdeckt. Die Freikörperkultur und der Ausdruckstanz nahmen hier ihren Ursprung. Hinzu kam die Weiterentwicklung der Fotografie sowie die Entstehung des Films um 1999, die eine Fixierung von Bewegungsabläufen ermöglichte und eine neue Wahrnehmungsästhetik einleitete.

Ich halte erschrocken inne: meine Zitattechnik im Neuen Jahr grenzt an Fälschung. Ich vertraue auf meinen Leser, der ich vor allem selbst bin und bleiben werde. Ich habe Zeit, meine Quellen offenzulegen. Monate, Jahre! (Nur nicht warten, bis ich alles vergessen habe.) Die Sache mit der Freikörperkultur gehört natürlich zu dem Artikel über den Bikini „Wenn Frauen zur Nixe werden“. Ich halte meinem Tageblatt die Treue! Schon wegen der blauen Zeile: „Im Wasser ist man geschmeidig, man bleibt unberührbar“. Es lebe die Soziologie! Ein Neujahrsbrief hat mir Neues über Adornos Charakter gebracht, – ich möge bitte Peter Sloterdijk lesen: Zeilen und Tage. Seite 157 f („In der Frankfurter Rundschau findet sich ein Artikel, der an Golo Manns Rückkehr aus dem Exil erinnert. Im Jahr 1963 sollen Horkheimer und Adorno“ usw. usw. vonwegen, – werde ich denn alles vorwegnehmen?)

ST WISSEN nach Neujahr 2015

Ein Autograph der Kreutzer-Sonate studieren? Hier! (Unter „Beethoven-Haus Bonn, NE 86“ oben weiterblättern 1-13 !)

Quellen 

Solinger Tageblatt 5. Januar 2015 Seite 22

Stefanie Lieb: Was ist Jugendstil? Eine Analyse der Jugendstilarchitecktur 1890-1910 WBG Darmstadt Sonderausgabe 2010 ISBN 978-3-534-23652-7 Zitat Seite 15 (absichtliche Errata: Jahreswende statt Jahrhundertwende und 1999 statt 1900 JR).

Höchstes Glück der Erdenkinder…

… ist doch die … (nun?) … sei nun … (nein!) … sei nur …

Ja, „sei nur die Persönlichkeit“, so steht es da. Und zwar im Zeichen der Suleika. Aber wie kam ich heute nacht drauf? Heute Nacht? Weil ich vorm Einschlafen über Hamlet gelesen hatte. Und spottete noch, dass es wohl „Enkelkinder“ heißen müsste, frühmorgens vor Heiligabend, und „Persönlichkeit des Großvaters“. Erinnerte mich aber , dass ich Adornos „Glosse über Persönlichkeit“ Ende der 60er Jahre noch nach einer auf Tonband genommenen Radiosendung mit eigner Hand aufgeschrieben habe, von Anfang bis Ende, aber letztlich allein durch das Ende derart motiviert:

Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlichkeit, aber auch nicht unter ihr, kein Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: „Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!“

Shakespeare Titel  Shakespeare Text Cover gr Shakespeare Text Cover kl

Vielleicht erscheint diese geträumte Bildergeschichte im Nachhinein haltlos übertrieben, selbst mir, denn es ging vorerst nur um Hamlet (nein, zuerst über den Mohren von Venedig, nein, den „Mohren“ von Venedig). Wie kam ich in diesem Zusammenhang noch auf den Buchtitel „Wer bin ich und wenn ja wie viele“? Noch zu behandeln: Wie kam eigentlich Monteverdi in seiner Marienvesper auf „Nigra sum“? Wie schwarz ist Clorinda in seinem Combattimento? (Natürlich ist sie weiß! Aber das ist nicht selbstverständlich, sie musste von Tasso weiß gemacht werden.) Es gibt Arbeit! Lese- und Schreib-Arbeit.

Frank Günther zitiert einen Text von Jacob Burckhardt (1860) über die Renaissance, als man in Italien sämtliche Dinge dieser Welt objektiv betrachten lernt; wobei sich zugleich „mit voller Macht das Subjektive erhebt, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.“ Und fügt hinzu:

In diesem alten Text schwingt selbstbewusster Jubel über das Geleistete und Erreichte: der Glaube an die unwiderruflichen Werte des abendländischen Individualismus. Sie gehören, wie ein fernsehtauglicher Mode-Philosoph kürzlich sagte, längst in die Mülltonne der Geschichte. Die Begriffe Identität und Individualität, unsere Ich-Konstitution, sind nicht zuletzt durch Performanz-Theorien und Neurophysiologie pulverisiert – sie sind Chimären: Ich ist ein anderer. Ich bin viele. Und die numerische Mehrheit der Weltbevölkerung hat sie nie nachvollzogen; sie sind eine westliche Erfindung ohne Nachfolge.

Quelle Frank Günther: Unser Shakespeare / dtv München 2014 ISBN 978-3-423-26001-5

Ich finde, dass der Satz von der Mülltonne nicht der bedeutendste ist, den „ein  fernsehtauglicher Mode-Philosoph“ hätte sagen können, aber für seinen Namen und für seinen wirklich bekanntesten Satz wäre wohl noch Platz gewesen. Denn wer sich auf diese neue Philosophie-Mode eingelassen hat, könnte gerade dadurch auch potentieller Leser dieses von Denis Scheck bei Markus Lanz dringend empfohlenen Shakespeare-Buches geworden sein. Und sich selbst als Individuum im Hamlet-Kapitel wiedererkannt haben.

ZITAT

Denn in ihm, in seinem Selbst, meint Hamlet, lebt etwas anderes, „was Schau weit übersteigt“. Was ist das, was da in ihm lebt?

Es ist eine Frage, mit der Hamlet sich, das ganze weitere Stück über, weit mehr beschäftigen wird als mit seinem Racheauftrag. Sie beschäftigt auch uns heute mehrals die zeitgenössischen Verstehenshorizonte und die religiös-metaphysischen Implikationen eines Königsmodes und des Rache-Konzeptes. Die Figur Hamlet gilt als der erste Mensch der Neuzeit auf der Bühne. Wie der Kulturhistoriker Jakob Burckhardt aufgezeigt hat, war die Renaissance die Geburtsstunde der Individualität. Im Hamlet beobachten wir die theatralische Darstellung der Geburtswehen, mit denen jenes neue Etwas in die abendländische Welt geboren wurde, dessen letzte Nachfahren wir Heutigen sind: Hamlet steht als Archetypus am Beginn der Geschichte unseres „Ich“.

Denn der Einzelne war nicht immer ein „Individuum“: Er war im Mittelalter Teil einer paternalistischen, strikt religiös ausgerichteten Gemeinschaft, einem domestizierenden Kollektiv aus Familie, Clan oder Volk, das für ihn eine vorgegebene Rolle bereithielt und deren Einhaltung die soziale Kontrolle der Gemeinschaft überwachte. Vom Einzelnen wurde die Ausfüllung dieser Rolle verlangt, aber nicht etwa zum Wohle seines Selbst, sondern im Dienst an Gott und Gemeinschaft. Auch die christliche Einzelseele war nur in Beziehung zu Gott gesehen, war dienend ausgerichtet auf den „Herrn“. Mit Misstrauen betrachtete man Abweichungen: Ein persönlicher „Stil“, eine eigene „Handschrift“, „Selbstverwirklichung“ war kein kulturelles Ideal – im Gegenteil: Der Abweichler erschien negativ als Störelement im konformen Ganzen.

Quelle (s.o.) Frank Günther: „Unser Shakespeare“ Seite 66 (oben: Seite 76)

Zur Geschichte von weiß und schwarz, zu Monteverdi und Tasso ein andermal.