Suzanne

Warum ich heute Leonard Cohen höre

Nicht weil er gestorben ist und ich Trauerarbeit leisten muss. Ich habe ihn ja mein Leben lang nicht beachtet. Nein, es ist banaler: mich interessiert immer, wenn Nicht-Musiker über Musik reden und mehr oder weniger ein Bekenntnis ablegen. Ich versuche, ob ich das nachempfinden kann, und es funktioniert recht oft. Ich nehme dann etwas wahr, was mir vorher nicht bemerkenswert erschien. „Aha, so also bewegt sich ein Lied in das Gehirn und setzt sich fest…“ (Eigentlich müssten die alten LPs wieder knistern, was bei mir aber keinen Sinn hätte.)

Eine ganze Wochenendseite der Süddeutschen für Leonard Cohen, ein großer Beitrag von Kurt Kister, ein kleinerer, mehr auf die Stadt Montreal bezogen, von Thomas Steinfeld. Und beide Artikel kann man im Internet nachlesen (s.u., unter dem Video), und sie sind durchaus von der professionellen Sicht und vom politischen Standort der beiden Journalisten geprägt. Kurt Kister:

Es geht nun, mit Verlaub und der Bitte um Entschuldigung für diesen Ausdruck, eine Scheißwoche zu Ende. Ein Klotzkopf, der in nichts für das steht, was Leonard Cohen war, wird US-Präsident, und Leonard Cohen ist gestorben. Heute Abend möge jeder, der noch einen Plattenspieler hat, die alte „Songs of Leonard Cohen“ auflegen, ja, genau die, die so knistert (streamen ist als schlechter Ersatz erlaubt). Der erste Song auf der A-Seite ist „Suzanne“, tausend Mal gehört. Die letzten Zeilen lauten: And you want to travel with her, and you want to travel blind, and you know that you can trust her, for she’s touched your perfect body with her mind.

So war es. Leonard Cohen hat viele von uns mit seinem Geist berührt. Es ist Zeit zu trauern.

Quelle Süddeutsche Zeitung 12./13. November 2016 Seite 15 Ein Licht erlischt Der Songwriter und Dichter Leonard Cohen ist gestorben, der wie kaum ein anderer die dunklen Seiten der Seele strahlen lassen konnte, ohne die Liebe aus dem Blick zu verlieren. Von Kurt Kister. /   Das Heilige und das Gebrochene Leonard Cohen und Montreal: Eine Stadt, die in seinem gesamten Werk gegenwärtig ist. Von Thomas Steinfeld.

Und in beiden Artikeln spielt „Suzanne“ eine besondere Rolle, kurz: die Liebe. Ich lese den Text hier und finde die zitierten Zeilen wieder. Sogar auf deutsch, wenn ich will. Ich höre das Lied auf youtube (s.u.) und registriere, dass er hier und dort andere Worte verwendet. Macht nichts. Die kritischen Ausgaben werden kommen, auch wenn kein Nobel-Preis nachgeholfen hat.

Hier klicken, wenn man beim Hören des Liedes (und der Ansage bis 0:55!) zurückkehren und weiterlesen möchte. Sonst folgenden Zugang wählen:

Kurt Kister also sagt dies: hier.
Thomas Steinfeld sagt das: hier.

Ich finde es gut, dass all dies gesagt wird, und ich werde noch andere Lieder hören.

„Man hat nie einen Sänger erlebt, der in so großer Würde alt geworden ist“. (Kister)

„In dieser Zeit (…) muss Montreal für junge Intellektuelle eine Stadt von grenzenloser Offenheit gewesen sein. Das Blasphemische und wohl auch das Obszöne, das zum Beispiel dem Text der Hymne „Hallelujah“ zueignet (siehe dazu Allan Lights Buch: „The Holy or the Broken“, New York 2012), entsteht aus diesem Zusammenhang, der sich oft in den Werken Leonard Cohens findet.“  (Steinfeld)

Für einen Moment dachte ich an ein anderes Buch („Das Rohe und das Gekochte“ von Lévi-Strauss) und als ich keinen Zusammenhang fand, blieb ich lieber beim Thema. Also: „Hallelujah“. Text hier, Übersetzung hier.

Und dann die Musik. Würde ich dafür ein Buch lesen? Vielleicht. Oder doch nicht.

(Achtung: Werbung am Anfang.) HIER (im Extrafenster) oder wie folgt:

Was mir Freund Berthold kürzlich (13.11.16) zum Thema schrieb:

Es bleibt das, was wir immer wieder festgestellt haben, wenn wir uns über Popmusik unterhalten haben – mit musikalischen Mitteln ist diese Musik nicht festzunageln (wobei man Cohen immerhin für den Einzug des Dreiertaktes in die Popmusik verantwortlich machen kann, wo sonst ja alles im Vierer- bzw. Zweiertakt ist – alles! auch eine Schwäche des Jazz übrigens, aber davon spricht kaum jemand). Denn rein musikalisch gesehen taugt sie natürlich nichts, die Melodien sind sehr simpel (nun, das kann man manchmal auch bei Mozart oder Beethoven feststellen), die Harmonik ist langweilig, die Rhythmik ebenso. Das, was sie für so viele Menschen interessant macht, ist ihr zeitkultureller Wert.
Dylan oder Cohen haben ja, jeder auf seine Weise, Hymnen komponiert, die viele (meist junge) Menschen sofort nachvollziehen konnten. Die ein Lebensgefühl deutlich machten (und die, würde ich aus heutiger Warte ergänzen, nicht die Mühe machten, sich erst aufwendig mit ihnen beschäftigen zu müssen, wie bei der ernsten Musik eben notwendig ist). Man könnte übrigens auch sagen, daß die Melancholie Cohens, die uns Jüngere in den 1970ern so gefangen nahm, nicht nur mit sowieso vorhandener pubertärer Daseinstraurigkeit zu tun hatte, sondern auch etwas mit unserer Traurigkeit angesichts der Verhältnisse – denn das war ja politisch die „bleierne Zeit“.
Das ist übrigens ein Unterschied zu einem Großteil zeitgenössischer Popmusik, in der es eigentlich nur noch um sinnlose Unterhaltung geht, also nicht einmal mehr das Zeitgenössische, das Lebensgefühl, die Hymnen vorkommen (Ausnahme: US-amerikanischer oder auch afrikanischer HipHop, jedenfalls seine besten Teile, und da wird’s ja auch musikalisch interessanter…).
Ich wills mir nicht einfach machen, aber es ist klar, daß die gesellschaftliche Entwicklung, die der kapitalistische Realismus/Neoliberalismus benötigt, um sich durchzusetzen (z.B. mangelhafte Bildung – es ist einfach so, daß Menschen, je klüger sie sind, desto kritischer werden), eben auch kulturell verheerende Folgen hat.
Dummheit und Konsumismus, alles nur noch dumpfe Unterhaltung. Nur dort, wo es noch um etwas geht,
– (für die Afroamerikaner etwa, die in den USA eben nicht nur marginalisiert sind wie die weißen Arbeiter, sondern auf den Straßen um ihr Leben besorgt sein müssen – lies das todtraurige und aufwühlende „Zwischen mir und der Welt“ von Te-Nehisi Coates, eine der besten Zustandsbeschreibungen der USA unserer Tage) -,
ist die Musik noch nonkonsumistisch und steht für etwas ein. Und es ist ja auch interessant, daß einige junge HipHoper sich der Musikindustrie komplett verweigern und ihre Alben einfach im Netz veröffentlichen (Chance The Rapper z.B.), weil sie um das Problem der Kulturindustrie aus eigener Anschauung (und ohne Adorno gelesen zu haben) wissen.
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Danke, Berthold!

Zur Ergänzung:

Te-Nehisi Coates  :  „Zwischen mir und der Welt“ siehe Perlentaucher HIER
20 Seiten Leseprobe im Perlentaucher-Link zum Hanser-Verlag beachten!!!
Chance The Rapper und über ihn hier.
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Nachtrag 17. November 2016

Erstens muss man heute den Nachruf auf Leonard Cohen in der ZEIT lesen.

Zweitens den Artikel von Gert Heidenreich im Netz-Magazin Faust-Kultur (s.u.). Ich zitiere nur die wunderbaren Zeilen über die hypnotische Wirkung des Plattentellers damals: Ich habe es nicht mit der Cohen-LP erlebt, aber mit anderen. Genau so war es, aber ich hätte es nicht beschreiben können. Erst ab jetzt:

Vielleicht ist das heute gar nicht mehr vorstellbar: Dieses Ritual, wenn man mit einer neuen LP nachhause kam, sie aus der äußeren Hülle nahm, dann vorsichtig aus dem Papierhemdchen zog, sich über ihren schwarzen Glanz freute und sie an den Enden ihres Äquators zwischen den Mittelfingerspitzen in Balance haltend auf den Plattenteller legte, den Tonarm vorsichtig über die Fangrillen am Rand hob und absenkte. Der dumpfe, knackende Laut, mit dem der Saphir in die Spur rutschte, war Auftakt zu einem seltsamen Vorgang: Wie behext starrte man auf die sich drehende Scheibe, als könne man nicht begreifen, wie dieses Karussell der Töne funktioniert. Dabei wusste es jeder … Doch besonders, wenn man allein war und die Musik gefiel oder sogar begeisterte, war es schwer, den Blick vom Plattenteller zu lösen und sich frei zu machen von dieser Klangspirale, die irgend etwas gemein haben muss mit Kaminfeuer, Meereswogen und Sonnenuntergängen, die man ja auch zur Genüge kennt und doch immer wieder unverwandt betrachtet.
Und da sang er nun. Sang von Suzanne. Suzanne takes you down to her place near the river… Sang davon, dass Jesus ein Seemann gewesen sei, als er übers Wasser ging … Sang von dem Fremden, dem Spieler, der trotz der Liebe einer Frau immer wieder aufbrechen und weiterziehen muss …

Gert Heidenreich in Faust-Kultur HIER.