Stimmengewebe oder Solostimme?

Wird meine alte Lieblings-CD durch die neue verdrängt?

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2011                                                                               1994

Es entscheidet sich mit der Rolle des Klaviers /  Im Vordergrund steht zunächst die vom Wort getragene Botschaft (wer spricht was wie?). Aber die Struktur der Musik erlaubt es nicht, dabei zu verharren. Der Gesang artikuliert, skandiert, deklamiert Sprache, aber der musikalische Text bildet den wesentlichen Zusammenhang.

Der ursprüngliche Einfall („Prägung oder Verdrängungswettbewerb“) bezog sich nur auf die zuweilen wahrgenommene Gefahr, dass man durch die Interpretation, die einem das Werk erschlossen hat, so geprägt wird, dass man jede neue Interpretation „sekundär“ findet, weniger überzeugend. Aber es gibt Fälle, in denen die neuen Qualitäten so überwältigend sind, dass die bisher wahrgenommenen defizitär erscheinen. Manchmal wirkt die differenziertere Version überinterpretiert, „gewollt“, manchmal setzt sie sich durch, verdrängt sie die einfachere, die ihren „natürlichen“ Charakter verliert und eher harmlos, naiv, unkundig daherkommt.

Aber um von Prägung und Voreingenommenheit zu schweigen, – beide sind letztlich durch geduldiges Vergleichen überwindbar -, was ist das A und O einer Liedaufnahme?

Etwa der Sänger, die Sängerin? Ja, aber nicht „die Stimme“, sondern die Gestaltung, das Verständnis des Gesungenen, die Seele, wie auch immer ich es in ein einzelnes Wort fassen will, – das ist das A.

Und das O?

Das ist der Klavierklang, nichts anderes! Aber nicht hier die Stimme, dort das Klavier, nicht A und O, sondern symbolisch bezeichnet als AO, umgeben von einem Kreis. Und dies ist mein erster Eindruck: in der neueren Aufnahme spielt das Klavier die zweite Geige, – die im Streichquartett durchaus nicht zu verachten wäre. Aber was bei Hugo Wolf im Klavier geschieht, ist die Hauptsache! Und wenn es diese Präsenz bei Geoffrey Parsons jederzeit hat, weniger jedoch bei Gerold Huber, so liegt das, wie mir scheint, zunächst an der Aufnahmetechnik. Steht das Instrument wirklich im selben Raum wie die Stimme, greift es tätig in die Gestaltung ein – oder bildet es nur den Hintergrund?

Bei Wagner geht es um das Orchester. Für meine Auffassung habe ich in der „Tristan“-Übertragung aus Bayreuth viel zu wenig davon gehört, das schamhafte Verbergen des physischen Klangapparates, angeblich von Wagner beabsichtigt, der tönende „mystische Abgrund“, verleitet offenbar zur sträflichen Missachtung in der Mikrofonierung. Um so schrecklicher das isolierte Vibrato der vielgerühmten Solisten auf der Bühne. Das gilt auch für Beethoven, Berlioz oder Verdi, man höre doch dessen Requiem live von der Konzertbühne und nachher dieselbe Aufführung aus dem Radio: dort wo im wirklichen Leben die Solostimmen in dem gewaltigen Schwall der Chor- und Orchestermassen fast unterzugehen drohten (fast!!!!), da stechen jetzt die Solostimmen mühelos hervor – und lassen einen kalt.

Man lese einmal, was Liedbegleiter hervorheben, wenn sie darüber reden; Erik Werba in seinem Hugo-Wolf-Buch, gewiss kein großer Wurf, aber authentisch:

„Auch kleine Dinge können uns entzücken“ ist mit Recht eines der berühmtesten Wolf-Lieder geworden. Man spiele oder höre einmal den Klavierpart allein: da haben wir ein nuancenreiches Klavierstück, dem mit keiner Sechzehntelnote und in keiner Phrasenpause die eliminierte Singstimme abgeht. Diese wieder hat den Tonfall der Worte und auch den Rhythmus des Gedichtes geradezu beispielhaft in Noten gesetzt erhalten. Dabei profiliert weder die Gesangsmelodie allein noch die Klavierstimme an sich die innere Aussage dieser Heyse-Poesie; das Miteinander wohlgemerkt: das belebende und belebte Miteinander, das Ineinandergreifen der Phrasierungsbögen von Singstimme und Klavierhänden, die komplementäre „Atmung“ der drei „Stimmen“ – des Gesanges, der rechten (harmoniegebenden) und der linken (Melodie bzw. Gegenmelodie tragenden) Hand – macht die schier vollkommene Einheit von Wort und Ton möglich.

Quelle Erik Werba: HUGO WOLF oder Der zornige Romantiker / Verlag Fritz Molden Wien München Zürich 1971 (Seite 221)

Was mir fehlt ist auch das Rühmen des Textes. Wie konnte man nur Paul Heyse nach seinem Tod so schmählich fallen lassen, was für ein Instinkt auf Seiten des Komponisten, diese Gedichtfolgen zu einem Zyklus zusammenzustellen, dessen Worte man nie ohne Rührung zitieren wird. Und man hört dabei eine innere Stimme singen: „Bedenkt, wie klein ist die Olivenfrucht“, „Es schließen Frieden Fürsten und Soldaten, und sollt‘ es zwei Verliebten wohl missraten?“, „Wie viele Zeit verlor ich, dich zu lieben! Hätt‘ ich doch Gott geliebt in all der Zeit.“ „Wie goldne Fäden, die der Wind bewegt, schön sind die Haare, schön ist, die sie trägt! Goldfäden, Seidenfäden ungezählt, schön sind die Haare, schön ist, die sie strählt!“

(Fortsetzung folgt)