Palmers Fauxpas und die Grundrechte

Jürgen Habermas im Gespräch mit Klaus Günther 

Oder zuerst mal Lanz mit und über Palmer: Im Sat.1-Frühstücksfernsehen hatte Palmer vorige Woche gesagt: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Beim Großteil der an einer Corona-Infektion Gestorbenen handele es sich um Menschen mit Vorerkrankungen, die ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt hätten.

 bis 29.5.2020 HIER ab 20:23

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ZITAT Klaus Günther:

Das Recht auf Leben in Artikel 2 Absatz 2 GG war ursprünglich vor allem ein Abwehrrecht gegen einen Staat, der häufig mit Zwang und Gewalt willkürlich in das Leben seiner Untertanen eingegriffen hat. Infolge von Krankheiten sterben zu müssen gehörte in früheren Zeiten dagegen zum allgemeinen Lebensrisiko, das sich nur selten vermeiden oder reduzieren ließ. Erst seitdem wir über ein hochkomplexes und aufwendiges medizinisches Versorgungssystem verfügen, stellt sich überhaupt die Frage, was und wie viel Staat und Gesellschaft tun können und müssen, um vorhersehbar lebensgefährliche Krankheitsverläufe zu verhindern oder abzumildern.

Innerhalb des Rechts auf Leben tritt damit eine zweite Bedeutungskomponente hervor – die Verpflichtung des Staates, Leben und Gesundheit zu schützen, und zwar nicht nur, wie immer, vor rechtswidrigen Angriffen Dritter, sondern auch durch die Bereitstellung adäquater medizinischer Versorgung. Das steht jedoch unter dem Vorbehalt des Möglichen; keine Gesellschaft kann alle ihre Ressourcen in das Gesundheitssystem stecken. Je nachdem aber, wie gut eine Gesellschaft ihr Gesundheitssystem ausstattet und funktionsfähig hält, verschiebt sie die Grenze zwischen unvermeidbaren und vermeidbaren tödlichen Folgen der „allgemeinen Lebensrisiken“. Hier scheint mir der Kern des Abwägungsstreits zu liegen: Es herrscht Uneinigkeit darüber, wo die Grenze zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren tödlichen Krankheitsverläufen angesichts des hohen und in seinen Folgen nicht absehbaren Aufwands an Freiheitsverzichten gezogen werden soll – zwischen Minimum und Maximum.

Jürgen Habermas:

Ihre Beschreibung der unübersichtlichen Folgen der rigorosen Eindämmungspolitik leuchtet mir ein. [wurde hier nicht wiedergegeben JR] Wir müssen den Spielraum für rechtlich unbedenkliche Lockerungen erst ausloten. Aber Ihre Beschreibung berührt den kontroversen Punkt erst, wenn Sie im Vorbeigehen sagen, dass die Abwägung „vorstrukturiert“ sein kann durch einen Vorrang des Rechts auf Leben: Soll das heißen, dass es „immer“ Vorrang behält? Worauf könnte sich dieser Vorrang stützen, wenn das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gegen alle übrigen Grundrechte abgewogen werden kann?

Schon Ronald Dworkin hat uns vor der Metapher der Waagschale gewarnt. Rechte beziehen sich nicht auf „Güter“, die man nach Gewicht abwiegen könnte. Rechte sind auch keine „Werte“, die man nach politisch-kulturell geteilten Vorlieben in eine transitive Ordnung bringen könnte. Die Entscheidung, ob ein recht auf einen Fall zutrifft, erlaubt nur entweder ein „Ja“ oder ein „Nein“. Im Laufe der richterlichen Abwägungsprozesse können Grundrechte miteinander konkurrieren. Aber im Ergebnis behält eines die Oberhand, das heißt, es sticht alle anderen aus, auch wenn es erforderlichenfalls im Hinblick auf die Beeinträchtigung der anderen „zurücktretenden“ Grundrechte eingeschränkt werden muss.

(Fortsetzung folgt)

Ich muss einfügen, dass etwas Problemfremdes mich motiviert hat, bei diesem umfangreichen ZEIT-Artikel nicht lockerzulassen. Die umständlich klingende, aber sehr präzise juristisch-philosophische Sprache reizt mich in mehrfacher Hinsicht, ich ärgere mich, wenn ich konzentrationsmäßig „aussteige“ und ebenso, wenn ich diesen Punkt überwinde, einzelne Fragen nachgeschlagen habe, z.B. was mit „transitiver Ordnung“ gemeint ist, und schließlich eine zweite Gesamtlektüre durchziehe und alles intelligent finde, – als sei ich selber intelligenter geworden. Was mir vorher abstrakt erschien, ist jetzt konkret geworden, seltsam, und hat unmittelbar mit dem Thema zu tun, von dem ich sozusagen im täglichen Leben (Corona!) ausgegangen bin. Wer sagte dies:

Diejenigen, die jetzt im Namen der Freiheitsgrundrechte für noch weiter gehende Lockerungen plädieren und sich dafür auf die Relativierung des Grundrechts auf Leben berufen, glauben dies vermutlich deswegen tun zu dürfen, weil die oben genannte Grenze zwischen noch vermeidbaren und nicht mehr vermeidbaren tödlichen Krankheitsverläufen so schwer zu ziehen ist. Aber sie müssten dann nicht nur sagen, wie hoch die Zahl der vorhersehbaren Todesfälle denn ansteigen dürfe, ohne das Recht auf Leben ad absurdum zu führen, sondern sie müssten eben auch dem ersten Patienten, der infolge der Lockerungen nicht mehr beatmet werden kann, erklären, dass er um der Freiheit anderer willen zu sterben habe.

Vor allem wird dabei übersehen, dass es das Bundesverfassungsgericht ist, das in seiner Rechtsprechung dem Recht auf Leben einen hohen Rang beimisst. In seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1975, die unverkennbar die Handschrift des Richters Ernst-Wolfgang Böckenförde trägt, leitet es aus dem Grundrecht auf Leben für den Staat das Gebot ab, sich „schützend und fördernd“ vor das Leben zu stellen, und weist ihm „innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert zu, nicht zuletzt mit Bezug auf die deutsche Vergangenheit. Dabei stellt es auch einen Zusammenhang mit Artikel 1 her, der nicht näher erläutert wird: Das Recht auf Leben sei „die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“ – also auch des Rechts auf Freiheit.

Dies sagte der Richter Klaus Günther, und der Philosoph Jürgen Habermas antwortet:

Bei diesem Urteil sind natürlich ganz andere Fragen im Spiel. Aber die beiden Formulierungen, die Sie zitieren, sind doch aufschlussreich. Die Rede von „einem“ statt von „dem“ Höchstwert zeigt die Unangemessenheit der Sprache von Werten: in einer Rangordnung kann es immer nur einen einzigen obersten Wert geben. Andererseits soll mit der Formulierung wohl angedeutet werden, dass – anders als Schäuble und der Ethikrat meinen – „Leben“ einen ähnlich hohen Stellenwert hat wie „Menschenwürde“. Nehmen wir einmal an, wir hätten die von Ihnen beschriebene Grauzone verlassen und wüssten ziemlich unstrittig, was zum gegebenen Zeitpunkt  an Einschränkungen von Grundrechten in Kauf genommen werden müsste, um eine vermeidbare Steigerung der Todesraten voraussichtlich ausschließen zu können.  Bezeichnet dieses Kriterium (sagen wir: die „flache Kurve“) dann eine notwendige Bedingung für die Wahl gerechtfertigter Exit-Strategien?

Meine erste Konsequenz: endlich wieder nachlesen!