Energie, Kommunikation, Mobilität

Vorgemerkt: TERRA X Harald Lesch

https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/was-die-welt-am-laufen-haelt-energie-mit-harald-lesch-doku-100.html HIER ENERGIE

darin erwähnt das Feilichtmuseum Hagen, siehe hier

Ab 8:24 über die SONNE ab 12:40 Elektrisiermaschine 14:20 Stromleitwarte in Brauweiler 17:00 „Kohlendioxid ist die Asche aller Feuer“ – „Überall brennt es, aber das Feuer selbst sieht man nicht!“ (Beispiel Zündschlüssel) 18:00 Zeitenwende: das jahrtausedalte Spiel mit dem Feuer braucht neue Regeln / ab 19:00 aus Pech : URAN über Strahlung (Joachimsthal) Curie / Kernspaltung 1945 bis 25:00

 

https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/was-die-welt-am-laufen-haelt-kommunikation-mit-harald-lesch-doku-100.html HIER KOMMUNIKATION

https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/was-die-welt-am-laufen-haelt-mobilitaet-mit-harald-lesch-doku-100.html HIER MOBILITÄT

Computerspiele u.ä.

Ein philosophisches Thema?

Ich habe eine Abneigung gegen Computerspiele, vielleicht sogar gegen Spiele überhaupt. Hauptgrund: Zeitverlust, ohne erkennbaren immateriellen Gewinn. Damit bin ich zufrieden…  und werde erst stutzig, wenn ich höre, dass andere womöglich das Klavierspielen als überflüssig bewerten. Ein irritierender Gedanke. Der Hinweis auf den Ernst des Spiels läge auf der Hand, ist aber kein Argument.

https://de.wikipedia.org/wiki/Computerspiel hier

Daniel Martin Feige:

https://media.suhrkamp.de/mediadelivery/asset/755c720198454b66abad0fa507d130db/computerspiele_9783518297605_leseprobe.pdf?contentdisposition=inline HIER

Auszug:

Mit Computerspielen ist ein neues ästhetisches Medium entstanden – und die Geburt ästhetischer Medien ist seit jeher von kritischen Stimmen begleitet worden, denen der kulturelle Wandel, der mit diesen Medien einhergeht, nicht geheuer war. Schon bei der Erfindung der Fotografie und des Films wurde der Untergang des Abendlandes ausgerufen. Natürlich lässt sich aus dieser Beobachtung nicht schon eine Apologie des Computerspiels stricken. Damit würde man einer Gleichsetzung des Ungleichen das Wort reden, insofern historische Genesen unterschiedlicher ästhetischer Medien keineswegs bloße Variationen eines letztlich identischen Vorgangs sind. Eine Analogisierung kann aber zumindest den Blick dafür schärfen, kritische Reaktionen gegenüber Computerspielen vorgängig ins rechte Licht zu rücken und sich von pauschalen Verurteilungen dieses Mediums freizumachen, wie sie etwa für die unsägliche, weil von jeglicher Kenntnis des Gegenstands freie Diskussion um so genannte »Killerspiele« charakteristisch sind. Es kann, kurz gesagt, nicht darum gehen, das Computerspiel als solches und das heißt alle Computerspiele entweder als Ausdruck einer defekten Lebensform oder als wertvoll anzusehen. Denn offensichtlich sind Computerspiele sehr unterschiedlich und können zudem in ausgesprochen unterschiedlichen Hinsichten als misslungen oder gelungen, als förderlich oder schädlich angesehen werden.

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Das Buch unternimmt somit den Versuch, aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik zu explizieren, was für Computerspiele wesentlich ist. In diesem Sinne konkurriert oder konvergiert es in seinen Thesen nur dort mit Beiträgen der Game Studies, wo diese explizit oder implizit als philosophische Thesen zu Fragen der Ästhetik oder Kunstphilosophie gelesen werden können. Das wirft die Frage auf, was eine philosophische Beschäftigung mit Computerspielen von anderen Arten der Beschäftigung mit Computerspielen und damit auch von denjenigen Beiträgen der Game Studies, die keine philosophischen Thesen entwickeln, unterscheidet. Die Antwort darauf lautet kurz und bündig: Einer philosophischen Analyse des Computerspiels in seiner ästhetischen Eigenart geht es um eine reflexive Klärung der für unser Verständnis dieser ästhetischen Eigenart unverzichtbaren Grundbegriffe. In diesem Sinne ist die bereits erwähnte Kontroverse zwischen Deutungen, die Computerspiele primär in Begriffen der Tätigkeit des Spielens erläutern, und Deutungen, die Computerspiele primär in Begriffen interaktiver Erzählungen verstehen, durchaus eine philosophisch relevante Kontroverse. Denn es scheint bei ihr darum zu gehen, was Computerspiele im Kern sind. Die Frage hingegen, was
für die sozialen Interaktionen bei Multiplayerspielen übers Internet oder im Fall der leiblichen Ko-Präsenz bei Lan-Partys relevant ist, ist dort richtig aufgehoben, wo sie ohnehin in weiten Teilen bereits diskutiert wird: in der Soziologie. Die Frage, ob der exzessive tägliche Konsum von Computerspielen einen schädlichen Einfluss auf die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern hat, ist ebenfalls dort am besten aufgehoben, wo sie ohnehin diskutiert wird:
in der Pädagogik und Psychologie. Auch wenn die Grenzen keineswegs bei allen Fragen so deutlich liegen mögen – bei der Frage der Schädlichkeit des exzessiven Konsums von Computerspielen könnte man zum Beispiel die Rückfrage stellen, warum so etwas nicht auch beim exzessiven Konsum von Romanen oder von Musik untersucht wird und ob eine  Vorentscheidung in dieser Frage nicht subkutan eine bestimmte problematische medien- und kulturpolitische Agenda kolportiert: Die Tatsache, dass das vorliegende Buch zu vielen derartigen Fragen schweigt, ist keineswegs Ausdruck einer Borniertheit oder Ignoranz, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet, dass die Philosophie zu solchen Fragen schlichtweg gar keine Auskunft geben kann, weil sie nicht in der Reichweite ihrer theoretischen Mittel liegen.

– – – – – – – – – – Zitatende – – – – – – – – – –

Oder besorge ich mir zunächst was anderes, was mir noch zur Bewältigung der aktuellen Krise fehlt? Mal sehen: Byung-Chul Han in seinem Buch „Infokratie – Digitalisierung und die Krise der Demokratie“ (Berlin: Matthes & Seitz 2021)

Zu Computerspielen befrage ich erstmal die Enkelgeneration, ich kenne da sehr gesprächsbereite menschliche Exemplare.

So geht es los:

s.a. hier

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Nachholen (bis 22.03.2024) den Film über K-Pop:

https://www.3sat.de/gesellschaft/politik-und-gesellschaft/suedkorea-milliardengeschaeft-k-pop-102.html hier

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TUVA Bernard Kleikamp: ab 25.2.24 anschauen siehe unten LINKs rechts neben dem Foto

At WDR Folk Festival in Cologne, Germany, 4 July 1991. Gennadi Tumat was born on 25 February 1964. This video premiered on what was to be his 60th birthday, 25 February 2024

HIER und Hier

WDR Folkfestival 1991

Zu dem interessanten pansdelight blogspot hier

Kunst der Fügung

Zu Bachs Spiegelfugen

Der Zufall wollte, dass es sich so gefügt hat: die Erinnerung an die Problematik der Bachschen Zusammenfügung der Fugen zu einem „Kunstbuch“, besonders im letzten Teil des Werkes. Meine Irritation, ob Zoltán Kocsis etwa die Rectus- und die Inversus Version nach der (irrigen) Leibowitz-Idee zusammengefügt hat, – alldies veranlasste mich, in aller Eile (ich hatte eigentlich anderes zu tun) die Belege zu sammeln, die ich so schnell greifen konnte. Der Zufall beruhte darauf, dass mich die Aufnahme mit Schaghajegh Nosrati sehr faszinierte, ihre Leichtigkeit plus Präzision, dass es mir keine Ruhe ließ, bis mir das ganz besondere Bach-Thema wieder präsent war.

Wikipedia:

Spiegelfugen

Beginn von Contrapunctus XII (Spiegelfuge)
Gespiegelte Fassung von Contrapunctus XII (Spiegelfuge)

Mit Contrapunctus XII erscheint die erste von zwei Spiegelfugen. Unter einer Spiegelfuge wird hierbei verstanden, dass der gesamte Satz anschließend mit umgekehrten Intervallen wiederholt wird (das Partiturbild lässt manchmal bei Laien die Vorstellung entstehen, beide Versionen sollten gleichzeitig erklingen). Das Thema besteht exakt aus den Tönen der Grundgestalt, erklingt jedoch hier im Dreiertakt; die rhythmische Gestalt mit Betonung auf der zweiten Zählzeit in den beiden ersten Takten erinnert an eine Sarabande. Wahrscheinlich ist die kontrapunktische Komplexität der Aufgabe dafür verantwortlich, dass dieses Stück (bzw. diese beiden Stücke) als einziges nicht durch einen einzigen Spieler auf einem Tasteninstrument spielbar ist (eine Ausführung auf zwei Cembali, die jeweils zwei Stimmen spielen, ist möglich).

Variante des Themas in Contrapunctus XIII

Die dreistimmige Spiegelfuge Contrapunctus XIII hat einen ausgesprochen tänzerischen Charakter im Sinne einer Gigue, bei der Bach fast immer zu Beginn des zweiten Teils das Thema umkehrt. Auch dieses Thema ist aus dem Urthema abgeleitet. Nach einem Oktavsprung, der schon in Contrapunctus IX auftaucht, geht es für drei Takte in eine Triolenbewegung über. Im weiteren Verlauf wechselt diese Triolenbewegung immer wieder mit punktierten Sechzehnteln ab (die nach den Regeln der damaligen Aufführungspraxis rhythmisch an die Triolenbewegung anzugleichen sind). Dieser Satz ist auf dem Cembalo nur spielbar, wenn ein Interpret über eine gewisse Virtuosität hinaus mindestens eine Dezime greifen kann (Ausnahme: Fermate in T. 59 der forma inversa). Der Umfang einer typischen Orgel der Bachzeit wird nach oben hin mit den Tönen d“‘ und e“‘ überschritten. Es existiert auch eine Fassung für zwei Cembali, bei der Bach die drei Stimmen durch eine freie vierte Stimme ergänzte.

Hier der Notentext meiner alten Graeser-Ausgabe (Juli 1956) – andere Zählung (XVI=12) / wenn Sie die Noten verfolgen, – die richtige Fuge ist der gespiegelten unmittelbar zugeordnet, und zwar ebenso in Partitur (3-stimmig) wie in „Klavierzusammenfassung“ (untereinander!); ich verfolge hier in jedem Block die unterste Doppelzeile. Jede Seite hat 2 Blocks. (Die Pianistin spielt die gespiegelte Fassung. Sie sehen die Kontur des Inversus-Themenanfangs also in der 4. Zeile bzw. 9. Zeile.)

Eine andere Druckeinteilung (nur jeweils 1.Seite) zum Vergleich

Boosey & Hawkes

die Doppelfassung à 2 Clav. (nur jeweils 1. Seite)

Kolneder: Kunst der Fuge Bd.I / II (betr. den Irrtum aufgrund der Druckanordnung, – fraglich ob Leibowitz von K. korrekt interpretiert wird )

Hier folgt die Fuge in der Fassung für 2  Cembali bzw. hier mit 2 Klavieren, ebenfalls in der Inversus-Fassung, jedoch hat Bach (!) zu den 3 Stimmen eine freie vierte hinzugefügt.

https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/bach-die-kunst-der-fuge/hnum/11625752 (Rousset) hier

Kunst der Fuge Reihenfolge nach dem „Schmieder“-BWV Verzeichnis

Zur Reihenfolge der Aufnahme 1984 + Text, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel

Bemerkungen (aus der Henle-Ausgabe):
Ursprünglich schrieb Bach die dreistimmige Fassung (in kurzen Notenwerten) und arbeitete diese dann in eine vierstimmige Version für zwei Cembali um. Dann revidierte er die erste, dreistimmige Fassung für den Druck, wobei er die Notenwerte verdoppelte. Die Version für zwei  Cembali dient als Sekundärquelle für die dreistimmige Fassung für ein Cembalo. Ähnlich dient der inversus als Sekundärquelle für den rectus und umgekehrt, da ja rectus und inversus zwei Versionen desselben Stückes darstellen.
Es gibt für diese Komposition also insgesamt acht Quellen, die in der Reihenfolge ihrer Bedeutung vorgestellt wurden (s. o.).
Im Originaldruck ist keine Fassung der Fuge nummeriert – die Nummerierung hört ja, wie erwähnt, mit Cp 12 auf. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass diese Fuge die Nr. 13 sein sollte.
Einige Fachleute haben vorgeschlagen, sie vor Cp 12 zu stellen, da sie nur dreistimmig ist. Aber Bachs Autograph und die Druckausgabe platzieren sie übereinstimmend hinter die Nr. 12 – und, was schwerer wiegt, in kontrapunktischer Kunstfertigkeit übertrifft sie die Nr. 12 bei weitem.
Die Taktvorzeichnung lautet C für den rectus und X für den inversus. Der Vergleich mit anderen Fugen, die ursprünglich in 5 notiert waren und dann in ihren Notenwerten verdoppelt wurden (Fugen Nr. 8 und 11), ergibt, dass die Vorzeichnung für den inversus korrekt ist und für beide Versionen also X gelten muss. (Vgl. die Bemerkungen zu Cp 9.)
Ein Hauptproblem für die Erstellung einer modernen Edition sind die punktierten Noten. In zahlreichen Fällen hat Bach die Punktierungen vergessen oder die Notenbalken für die kurzen Noten nicht genau bezeichnet. Besonders in dieser Frage habe ich alle verfügbaren Quellen heranziehen müssen, um eine „Urfassung“ für die dreistimmige rectus-Fuge zu eruieren, von der alle Fassungen abhängen müssen. Bach kann keine rhythmischen Inkonsequenzen zwischen rectus und inversus beabsichtigt haben; und da die vierstimmigen Bearbeitungen für zwei Cembali unmittelbar aus den dreistimmigen Fassungen für ein Cembalo entstanden sind, bin ich davon ausgegangen, dass Bach alle Punktierungen, die in einer der acht Quellen vorkommen, grundsätzlich als für alle anderen Fassungen verbindlich erachtete. Ich habe jedoch Rhythmen, die in keiner der acht Quellen punktiert sind, auch unpunktiert belassen. (In
Takt 46 z. B. sollte der Spieler jedoch zweifellos die fehlenden Punkte selbst hinzufügen und die raschen Noten dem vorherrschenden punktierten, d. h. Triolen-Rhythmus anpassen; vgl. den inversus.) Die Dutzenden von kleinen rhythmischen Abweichungen zwischen den Quellen sind weiter unten nicht eigens aufgeführt, es sei denn, sie sind in anderer Weise von Belang. Hingewiesen sei auf die fehlende Übereinstimmung zwischen rectus (Bass) und inversus (So-
pran) in Takt 15.

Kunst der Fuge: das Rätsel, um das ich mich nie (wirklich) gekümmert habe:

Gräser-Ausgabe

Im Sinn behalten! Diese Interpretation (Kunst der Fuge Robert Hill, haenssler Classic 2000) ist also nicht identisch mit Tr. 20 auf der MAK-CD unter Goebel: dort spielt Andreas Staier solo (etwas langsamer). Robert Hill spielt solo nur den Contrapunctus 3 (Tr. 3). Es folgt dieser Canon in der Taschenpartitur-Ausgabe von Boosey & Hawkes. Meine Übung: in diesen Noten auch die direkt angeschlossene Version mit den vertauschten Stimmen mitzulesen und mitzudenken: jetzt beginnt also die linke Hand, die rechte folgt 4 Takte später.

Ausgabe Boosey & Hawkes

Dem entspricht:

Aber was ist dies?

Das dritte Ohr (eine schlechte Vorlage)

Um es festzuhalten

Ich gehe aus von Peter Szendy, der mich schon einmal in recht skeptische Stimmung versetzt hat (siehe hier , später habe ich das Thema wohl aufgegeben, ratlos), sein neuer Aufsatz begegnete mir jetzt in dem Magazin „Musik & Ästhetik“ (Heft 109, Januar 2024, S, 5-15): „Wie viele Ohren? Oder : Der Adressat des Hörens“.

Das „dritte Ohr“ als Thema ist nicht neu, zu der Kurz-Übersicht eines sehr tüchtigen Bloggers fand ich durch google, hier, wobei mich wiederum skeptisch stimmt, dass ich alle in diesem Zusammenhang wichtigen Namen falsch geschrieben sehe, nämlich so: Theodor Reick, Joachim E. Behrendt und auch Siegmund Freud.

Da mir Szendy nach wie vor aus dem Nietzsche-Aphorismus etwas anderes herauszuhören scheint als drinsteckt, etwas „Anderes“, oder gar die „Andersheit“, möchte ich die ausschlaggebenden Texte vollständig wiedergeben, um zu prüfen, ob meine intuitive Weise des Verstehens auf einem fehlenden dritten Ohr beruht, – das mir schon bei Berendt aus der Luft gegriffen schien, nachgebildet dem „dritten Auge“ der Inder. Aus Nietzsches „Morgenröte“ (alte Kröner-Ausgabe 1952) Nr. 255:

 

Von einem dritten Ohr ist im Gespräch zwischen A und B keineswegs die Rede: „Horch“ heißt es da, als die Musik von neuem beginnt, von der B überwältigt war, während A aufklärerisch von einem Drama spricht , das B „beim ersten Hören“ wohl nicht habe sehen können oder wollen, obwohl jener, wie er sagt, „zwei Ohren und mehr hat, wenn es nötig ist“. Deshalb ermuntert er A, ihm Näheres zu erklären. Und d e r flüstert seinen Kommentar offenbar parallel zur laufenden Musik.

Es ist also Person A, die nun den Aufbau der Melodie charakterisiert, die Abfolge der Motive, die sich zu einem größeren Zusammenhang formen wollen: vielmehr er hält es für die Stimme des Komponisten, die da in der Musik zu hören ist, der Anfang „ist es noch nicht, was er uns sagen will, er verspricht bisher nur, daß er etwas sagen werde, etwas Unerhörtes, wie er mit diesen Gebärden zu verstehen gibt. Denn Gebärden sind es. Wie er winkt! sich hoch aufrichtet! die Arme wirft! Und jetzt scheint ihm der höchste Augenblick der Spannung gekommen: noch zwei Fanfaren, und er führt sein Thema vor, prächtig und geputzt, wie klirrend von edlen Steinen.“

Ich sehe das Thema im Cello vor meinem geistigen Auge, wie es aus einzelnen Gebärden entsteht. Dass Musik eine Gebärdensprache ist, gilt ja als ausgemacht, es ist ein geläufiges Bild; ich stelle mir die stufenweise ausgreifenden Gesten des berühmten Mendelssohn-Trios vor, erst die „zwei Fanfaren“ kann ich nicht zuordnen, aber sonst „passt es“ überraschend: „So verschüttet er seine Melodie unter Süßigkeiten – jetzt ruft er sogar unsere gröberen Sinne an, um uns aufzuregen, und so wieder unter seine Gewalt zu bringen. Hören Sie, wie er das Elementarísche stürmischer und donnernder Rhythmen beschwört!“ – Hören Sie es auch?

Versuchen Sie jetzt nur nicht, jede musikalische Wendung auf Nietzsches Text zu beziehen, er hat sich gewiss nicht Mendelssohn dazu vorgestellt, vielleicht eher Wagner oder etwas Eigenes, es geht lediglich um die Tatsache, dass man eine Musik so beschreiben und – herabsetzen kann, wenn man sie in jedem Punkt mit einer Absicht verbindet. Zugleich sind wir wirklich erschüttert und glauben gern, „unsere Betäubung und Erschütterung sei die Wirkung seines Wunder-Themas.“ – S.o. im wiedergegebenen Text, den Sie zur Musik hören könnten…

–   –    –

Ein weiterer Nietzsche-Text, den Szendy zitiert, schlicht, weil er auch mit den Ohren zu tun hat, sei wiederum aus meiner alten Ausgabe wiedergegeben, samt dem Umfeld in  „Jenseits von Gut und Böse“ Nr 246:

Festzuhalten ist, dass der erste Nietzsche-Text sich eindeutig auf Musik bezieht, dieser zweite aber auf das Bücherlesen, und nur hier taucht explizit das d r i t t e Ohr auf. Es ist zweifellos ein innerer Sinn, mit dem wir in geschriebenen Texten auch den Klang der Sprache wahrnehmen, der den Rhythmus,  das Tempo, „den Sinn in der Folge der Vokale und Diphtonge rät, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man hat zuletzt eben ‚das Ohr nicht dafür‘ : und so werden die stärksten Gegensätze des Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben  v e r s c h w e n d e t . -“

Klarer kann man es kaum sagen: es ist der Klang der Sprache, der auch beim stummen Lesen eine große Rolle spielen sollte, aber nicht mit dem Klang von Musik zu verwechseln ist. Das Wort Musik kommt in diesen beiden Aphorismen nicht vor, allerdings die Musiker, da es denn doch verwunderlich ist, dass auch sie wie alle Deutschen beim Schreiben und Lesen die Ohren ins Schubfach gelegt haben. Dann folgt die ausgedehnte Eloge auf die antike Redekunst (hörbar!) und schließlich das ferne deutsche Abbild, die Predigt von der Kanzel und das schriftliche Meisterstück der deutschen Prosa, Luthers Bibel.

Szendy, der allerdings von dem Psychoanalytiker Theodor Reik die (fragwürdige) Gleichsetzung des dritten Ohres mit dem inneren Ohr übernehmen will und auch noch Conan Doyle und des Heiligen Augustinus‘ „Ohren des Herzens“ zwischenschaltet, will über das dritte Ohr als das Ohr des Anderen  und überhaupt über Andersheit reden. Von daher erhält die Aufteilung des Dialogs zwischen A und B eine Bedeutung, die bei Nietzsche nicht vorgegeben ist, und das geht so:

Hier „finde nicht einfach ein Austausch zwischen zwei Hörern darüber statt, was sie hören in dem Moment in Nietzsches Gespräch über Musik, in dem B in seiner Antwort auf A das dritte Ohr erwähnt («Ich habe zwei Ohren und mehr wenn nöthig»). Jeder Hörer trägt jeweils in sich, in ihren oder in seinen Ohren die Möglichkeit, mehr als zwei oder weniger als zwei Ohren zu haben, was es unmöglich macht, sie zu zählen.“ Wo steht das bei Nietzsche? Wo erwähnt B von sein drittes Ohr?

Einesteils eine unerlaubte Begriffsverengung von dem „Zwei-Ohren-und mehr“-Satz auf das eine, das dritte Ohr, andererseits eine absurde Begriffserweiterung von B’s Ohren-Satz auf – alle Ohren im folgenden Satz: „Jeder Hörer trägt jeweils in sich…“

Später heißt es – wiederum kurzschlüssig – es handle sich bei dem Dialog nicht etwa um einen Duolog, „weil einer der beiden Charaktere, B, mehr als zwei Ohren hat, die ihn  oder sie zu mehr als einer Person machen.“ Er hat sie nicht in dem Sinne, wie er eine Person ist, sie stehen ihm imaginär zur Verfügung. (Plötzlich beginnt er zu genderisieren oder zu pluralisieren, um es nicht zu einfach zu machen.)

(Abgebrochen am Ohrenmontag)

Lotte in Weimar

Angekommen im 7. Kapitel…

…habe ich endlich meinen Frieden gemacht mit diesem Werk, gegen das ich immer wieder neuen Widerstand entwickelte. Als ich kapierte, dass nun Goethe selbst das Wort hat und wie täuschend ähnlich und bewundernswert souverän er getroffen ist, wusste ich, dass ich die Lektüre wohl doch nicht mehr aufgeben kann. Ich werde sogar die seltsamen Passagen über das Alter und die Jugend abschreiben, um sie mir vergleichend anzueignen oder abzuweisen, als habe ich bisher nur den Mut nicht gehabt, so groß von mir zu denken. Ist es gute Prosa? Oder soll sie dem „corrosiv angehauchten“ Altersgefühl entsprechen?

Erst heute kam ich auf die naheliegende Idee, Wikipedia zu konsultieren, nachzusehen, ob die Kapitel inhaltlich näher beschrieben seien. Hervorragend! Überhaupt alles lesenswert, gerade wo es um die Wirkung in Deutschland geht, z.B. nach den Nürnberger Prozessen, die Verwechslung der Thomas-Mann-Erfindung mit dem echten Goethe durch den britischen Botschafter. Die Richtigstellung der bekannten (und oft memorierten) Äußerung, er habe noch von keinem Verbrechen gehört, das er nicht habe begehen können.

HIER

Der Film hier

ZITAT (Ein Blick aufs Alter – damals)

Da ist mir die morgenfreundliche Laune getrübt und corrosiv angehaucht von ärgerlichem Sinnieren -! Wie stehts denn überall? Was ist mit dem Arm? Tut als brav weh, wenn ich ihn hintüberlege. Immer denkt man, die gute Nacht wirds bessern, aber es hat der Schlaf die alte Heilkraft nicht mehr, muß es wohl bleiben lassen. Und das Ekzem am Schenkel? Meldet sich auch zur Stelle mit gehorsamstem Guten Morgen. Weder Haut noch Gelenke wollen mehr mittun. Ach, ich sehn mich nach Tennstedt zurück ins Schwefelwasser. Früher sehnt ich mich nach Italien, jetzt in die heiße Brühe, daß sie die verhärtenden Glieder löse: so modificiert das Alter die Wünsche und bringt uns herunter. Es muß der Mensch wieder ruiniert werden. Ist aber doch ein groß, wunderbar Ding um diesen Ruin und um das Alter und eine lächelnde Erfindung der ewigen Güte, daß der Mensch sich in seinen Zuständen behagt und sie selbst ihn sich zurichten, daß er einsinnig mit ihnen und so der Ihre wie sie die Seinen. Du wirst alt, so wirst du ein Alter und siehst allenfalls mit Wohlwollen, aber geringschätzig auf die Jugend herab, das Spatzenvolk. Möchtest du wieder jung und der Spatz sein von dazumal? Schrieb den ›Werther‹, der Spatz, mit lächerlicher Fixigkeit, und das war denn was, freilich, für seine Jahre. Aber leben und alt werden danach, das ist es erst, da liegt der Spielmann begraben. All Heroismus liegt in der Ausdauer, im Willen zu leben und nicht zu sterben, das ists, und Größe ist nur beim Alter. Ein Junger kann ein Genie sein, aber nicht groß. Größe ist erst bei der Macht, dem Dauergewicht und dem Geist des Alters. Macht und Geist, das ist das Alter und ist die Größe – und die Liebe ists auch erst! Was ist Jugendliebe gegen die geistige Liebesmacht des Alters? Was für ein Spatzenfest ist das, die Liebe der Jugend, gegen die schwindlichte Schmeichelei, die holde Jugend erfährt, wenn Altersgröße sie liebend erwählt und erhebt, mit gewaltigem Geistesgefühl ihre Zartheit ziert – gegen das rosige Glück, worin lebensversichert das große Alter prangt, wenn Jugend sie liebt? Sei bedankt, ewige Güte! Alles wird immer schöner, bedeutender, mächtiger und feierlicher. Und so fortan!

Das heiße ich sich wiederherstellen. Schaffts der Schlaf nicht mehr so schafft es der Gedanke. Schellen wir also nun dem Carl, daß er den Kaffee bringt; ehe man sich erwärmt und belebt, ist sogar der Tag nicht einzuschätzen und nicht zu sagen, wies heute um den Guten steht. Vorhin war mir, als wollt ich marode machen, im Bett bleiben und alles sein lassen.

Quelle Thomas Mann: Lotte in Weimar / Fischer Frankfurt am Main 1990 (Seite 260f)

Etwas ziellos in meiner Bibliothek, – ah, was ich noch bedenken sollte: was Katja Mann und die Tochter Erika zu „Lotte in Weimar“ gesagt haben…

↑ Fischer Frankfurt am Main 1988 (1976)

↑ Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1996

Rätsel Fußball

Ein Abend mit Bayer Leverkusen (6.Februar 2024)

Wie entsteht Wirkung? Nach diesem Spiel weiß man es wieder. So laut und wild es zugeht: es hat auch rituellen Charakter, der sich eher in der Kreuzung der Gesänge und Rhythmen spiegelt. Ich versuche, es auf dem Handy einzufangen, aber ich vermag es nicht. Vielmehr: ich kenne jemanden, der es besser kann. Ich helfe der Erinnerung visuell nach.

Fotos: ©JR

In Fußballsprache / Zitat:

Lange Zeit hatte Bayer Leverkusen vor 30.210 Zuschauer*innen in der ausverkauften BayArena große Probleme im Aufbau mit den Stuttgartern. Diese boten den Gastgebern Paroli und verhinderten klare Torchancen für B04. Eine Ecke brachte dem VfB die Führung: Angelo Stiller schlenzte den Ball von der rechten Seite an den zweiten Pfosten, wo Waldemar Anton recht frei zum Kopfball kam – und zum 1:0 einnickte (11. Spielminute). Weiterhin zeigte die Hoeneß-Elf ein bärenstarkes Spiel: Wenn sie in Ballbesitz waren, schalteten sie sofort gefährlich um. Erst in der Schlussphase nahm der Druck der Werkself nahezu minütlich zu – dennoch blieb es zur Pause beim 1:0 für die Gäste. Ohne Wechsel ging es weiter. Die Gastgeber kamen mit Schwung aus der Kabine und durften schon nach wenigen Minuten jubeln: Florian Wirtz flankte von der linken Seite nach innen, wo die Hereingabe nur vermeintlich geklärt wurde. Der Ball landete halblinks vor dem Sechzehner bei Robert Andrich, der anschließend im hohen Bogen über Keeper Alexander Nübel hinweg unter die Querlatte schlenzte (50.). Ein Traumtor! Als Bayer wenig später den Ball im Aufbau am eigenen Sechzehner verlor, ging der VfB dann durch einen Rechtsschuss von Chris Führich wieder in Führung (58.). Wieder glichen die Gastgeber aus, diesmal durch Joker Amine Adli, der halblinks im Sechzehner frei zum Abschluss kam (66.). Lange Zeit sah es ganz danach aus, als würde es in die Verlängerung gehen – ehe Jonathan Tah die Partie in letzter Minute per Kopf für Leverkusen entschied (90.). Die Aufstellungen: Bayer 04 Leverkusen: Kovar – Tapsoba, Tah, Hincapie – Frimpong (90.+3 Stanisic), G. Xhaka, Andrich, Grimaldo – Hofmann (63. Adli), Schick (63. Borja Iglesias), Wirtz (90.+3 Hlozek) Trainer: Xabi Alonso VfB Stuttgart: Nübel – Rouault, Anton, H. Ito – Vagnoman, Karazor, Stiller, Mittelstädt (70. Stergiou), Millot (62. Leweling), Führich (79. Dahoud) – Undav Trainer: Sebastian Hoeneß Schiedsrichter: Daniel Schlager (Hügelsheim) Kommentator: Moritz Zschau  

Nächstes Spiel: Samstag 10.02.24 um 18.30 Uhr Bayer Leverkusen gegen Bayern München

ST 9.2.24 S.9 Thomas Schulz „Der Fußballflüsterer“ Xabi Alonso

Ich habe mich schon mehrfach mit dem Thema theoretisch beschäftigt, und wiederhole, was ich damals u.a. auch zitiert habe:

Auch wenn Fußball von Menschen gespielt wird, entsteht seine Poesie nicht durch menschliche Handlungen allein. In die unvergesslichen Spiele mischt sich etwas ein, was über Menschen hinausgeht. Der Zufall lässt unfassbare Dinge entstehen: übermenschliches Gelingen, aber auch unbegreifliches Versagen. Eine geheimnisvolle Dramaturgie kann einen Spielverlauf hervorbringen, der die menschliche Phantasie übersteigt. Fußball ist freilich nicht mit den Schönen Künsten verwandt. Er ist ein rohes Geschehen und vollzieht sich im Augenblick, wie der Einschlag eines Meteoriten.

Und doch:

 Im Drama des Fußballs findet man Elemente, die wir von anderen Dramen kennen, von den Dramen des Theaters, des Films, der Politik. Anders als in diesen entsteht seine Poesie aus einem gemeinen Spiel, das sich von der hohen Kultur abkehrt. Die Abwehr gegen den hohen Ton, den guten Geschmack, die vergeistigte Haltung lässt sich nicht mit Begriffen beschreiben, die der Hochkultur entnommen werden.

Quelle Gunter Gebauer Poetik des Fussballs, Campus Verlag, Frankfurt / M. 2006 (a.a.O. Seite 8 und 9)

Interessant auch Otto A. Böhmer in der Wiener Zeitung 4.6.2016: „Als Heidegger Sein und Zeit vergaß„.

10.02.24 abends – Das Wunder ist geschehen! (Kein Wunder!)

Die letzten Minuten im Kicker-Ticker-TV

Was ist hier passiert???

Korrektur – hier

Zusammenbruch eines Imperiums

Roms letzte Jahrzehnte: Klima, Krankheit und Vulkane

Das Thema reaktiviert frühere Lektüren (beide 2005): s.a hier und hier

Anknüpfend an Jugendlektüre: HIER https://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Kampf_um_Rom (JR ca.1955, nach Quo vadis, Julian Apostata)

(Fortsetzung folgt)

La Singla

Geschichten vom Flamenco (zum Vormerken)

https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/la-singla-2023 hier

https://www.arte.tv/de/videos/109359-000-A/la-singla/ HIER

Zitat

Der Film erzählt die unglaubliche Geschichte von Antoñita „La Singla“, der Flamenco-Tänzerin, die in den 1960-er Jahren Spanien und den Rest der Welt im Sturm eroberte. Als Kleinkind verlor sie ihr Gehör und lernte trotzdem zu tanzen. Mit zwölf Jahren begann sie aufzutreten. Und dann, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, verschwand sie spurlos.

Der Film erzählt die unglaubliche Geschichte von Antoñita „La Singla“, der Flamenco-Tänzerin, die in den 1960er Jahren Spanien und den Rest der Welt im Sturm eroberte. Aufgewachsen in einer Roma-Siedlung am heruntergekommenen Strand von Barcelona, war es eine Weltkarriere gegen alle Wahrscheinlichkeit. Denn als Kleinkind hatte Antoñita ihr Gehör verloren und lernte nur mühsam sprechen. Das Tanzen lernte sie, indem sie ihrer Mutter beim Klatschen zum Flamenco zusah und den Rhythmus in sich aufnahm. Mit zwölf Jahren begann sie, in den in Tavernen von Barcelona aufzutreten. 1965 erlebte sie ihren Durchbruch bei der internationalen Tournee des Festival Flamenco Gitano. Manche bezeichneten die damals 17-Jährige als beste Flamenco-Tänzerin der Welt. Sie ging mit Ella Fitzgerald auf Tournee, tanzte für Salvador Dalí, wurde bewundert von Marcel Duchamps und Jean Cocteau. Und dann, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, verschwand sie spurlos. Der Film erzählt das Leben und die Tragödie von Antoñita Singla. Paloma Zapata nutzt Archivmaterial, Fotos und Fernsehauftritte, aber auch nachgestellte Szenen. Sie erzählt das bewegende Leben eines Roma-Mädchens, deren Tanz wie ein stummer Schrei ihrer Verzweiflung wirkte. Aber warum verschwand sie spurlos? Der Film begibt sich auf die Suche nach dem verschollenen Flamenco-Star und findet in der Nähe des Strandes von Barcelona, dort, wo Antoñita Singla aufgewachsen ist, eine Spur zu ihrer Familie.

In der Arte Mediathek abrufbar vom 04/02/2024 bis 03/05/2024

https://en.wikipedia.org/wiki/Anto%C3%B1ita_Singla hier

Wikipedia zu Flamenco HIER

Alle Übersichten (alphabetisch) Flamencopolis HIER

Quelle: Bernard Leblon: Flamenco Palmyra-Verlag

Quelle MGG (Musik in Geschichte u Gegenwart 1995) Marlies Glück (Marius Schneider)

Wir „Migranten“ in Oberägypten

Ägyptern helfen, von Ägyptern lernen

von Hans Mauritz, Luxor, Januar 2024

„Assuan, Familienraum“ Foto ©Hans Mauritz

„Wer einmal Wasser aus dem Nil getrunken hat…“ Manchem Ausländer, der Ägypten besucht hat, ist Merkwürdiges geschehen: er hat sich verliebt in einen Menschen, ein Volk, eine Sprache, die Landschaft, die Kunst der Pharaonen. Er ist wiedergekommen, ist geblieben, monate- und jahrelang, ein ganzes Leben. Und weil der Wertverlust des ägyptischen Pfundes unsere europäischen Währungen so stark gemacht hat, konnten und können wir uns hier ein angenehmes Leben leisten. Übertriebene Sparsamkeit oder gar Geiz sollten für uns kein Thema sein. Das könnte man vermuten.

„Geiz ist geil“. Der Werbeslogan einer deutschen Elektrohandelskette, im Oktober 2002 lanciert, hatte unerwarteten Erfolg. Ähnliche Werbesprüche wurden in den Niederlanden, in Belgien, in Spanien und Frankreich kreiert. Ein grosser Non-Food-Discounter machte Filialen auf, die den Namen „Mäc-Geiz“ trugen. Sogar ein Bordell auf der Hamburger Reeperbahn wählte den Namen „Geiz-Club“, weil es seine Dienstleistungen zu einem besonders günstigen Preis anbot. (1)

Diese neue Mentalität machte auch vor der Reisebranche nicht halt. Ein Tourismusunternehmen gab sich den Namen „Reisegeier“ und ermunterte seine Kunden , „Geizreisen“ zu buchen. Meinungsinstitute stellten ein „Geiz-Ranking“ auf, das zeigte, dass die Deutschen sich unter den europäischen Urlaubern als besonders geizig erweisen. (2)

Diese Kampagne hat ihren Höhepunkt längst überschritten. Aber sie hat bewirkt, dass eine neue „Geiz-ist-geil“-Mentalität offen und schamlos zur Schau gestellt werden kann. „Supergeile Preise“, „Ausverkauf“, „Aktionen“, „Tiefpreise“, „sottocosto“ oder „Black Friday“ haben für manche Menschen eine existentielle Bedeutung bekommen. Es sieht so aus, als ob wir Deutschen ein Volk von Schnäppchenjägern geworden seien.

Dabei gilt doch der Geiz seit altersher in der christlichen Lehre als eine der Todsünden. Den Geizigen droht die Hölle. Im Alten Testament wird gesagt, dass „ein geiziges Auge die Seele austrocknet“ (Sir 14,9). Für Paulus ist der Geiz die Wurzel allen Übels und der Geizige ein Götzendiener. Augustinus definiert den Geiz als „Wahnsinn der Seele“. Der Kirchenvater Thascius Cäcilius Cyprian erklärte im 3.Jahrhundert: „Die Geizigen besitzen ihr Geld weniger als es sie besitzt. Sie sind Sklaven ihrer Schätze“ (3)

So wird die „Geiz ist geil“-Kampagne auch von heutigen Theologen verurteilt. Die Erzdiozöse Wien prangert den Geiz als Lebensverneinung an, und das Hilfswerk „Adveniat“ lanciert seine Gegenkampagne unter dem Motto“Geiz ist gottlos“. (4)

Wie die christlichen Kirchen geisselt auch der Islam dieses Laster. Der Koran preist den Frommen, der seinen Besitz hingibt, um sich zu läutern, und warnt den Geizigen und Selbstherrlichen vor dem lodernden Feuer (Sure 92). „Geiz und Glaube kommen im Herzen eines Muslims nicht zusammen“, sagt ein Hadith des Propheten.

  Ramadhan-Tafel Foto: ©Asmaa Waguih für Reuter

Weil der Geiz „harâm“ und Sünde ist, fordern beide Religionen vom Gläubigen, freigebig zu sein und einen Teil seines Reichtums für die Ärmeren zu spenden. Im Islam wird von ihm eine Spende verlangt, die 2,5 % des Einkommens betragen soll. Dieses Gebot der زكاة „Zakât“, einer der fünf Säulen des Islam, bedeutet „Reinheit, Lauterkeit“ und „Zuwachs“. (4a) Wer spendet, reinigt sich und bekommt einen Zuwachs an Wert. Gespendet wird vor allem im Fastenmonat Ramadhan. Die Vermögenden stellen für die Armen مائدة الرحمان (mâ’idet ar-rahmân), „eine Tafel des Barmherzigen“, auf. Man sieht dann ganze Strassen, in denen solche Tische aneinander gereiht sind. Weniger Reiche übergeben einem Armen aus der Nachbarschaft einen Geldbetrag.

Auch das Christentum verlangt, Almosen zu geben. Im Alten Testament heisst es: „Mit deinem Hab und Gut hilf den Armen und wende dich auch nicht von einem einzigen ab (…) Wo du kannst, hilf den Bedürftigen. Hast du viel, so gib reichlich. Hast du wenig, so gib doch das Wenige von Herzen.“ (Lutherbibel, Tobias 4)

  „Tod des Geizhalses“ von Hieronymus Bosch, 1494

Die Geizigen werden seit eh und je verspottet und verlacht, nicht nur im täglichen Leben, sondern auch in der Literatur. Was wäre das Welttheater ohne jene Figuren, über die sich das Publikum seit Jahrhunderten amüsiert: Pantalone in der „Commedia dell’arte“, Volpone in Ben Jonsons gleichnamiger Komödie, Shylock in Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ und Harpagon in Molières „L’Avare“. (5) Auch die arabische Welt spottet über „al-bakhil“, den Geizhals, und in der Literatur ist das „Kitâb al-Bukhalâ'“ (Das Buch der Geizigen) von al-Jâhiz zu einem Klassiker geworden.

Unter den erzählerischen Darstellungen des Geizes ist der Roman „Eugénie Grandet“ von Honoré de Balzac die berühmteste. Hier wird vor allem der Altersgeiz behandelt, ein Phänomen das letztlich auf der Angst vor dem Tod beruht. Der französische Moralist Vauvernagues nennt ihn „die letzte und tyrannischste unserer Leidenschaften“, und Schopenhauer meint, dass „das Geldraffen im Alter an die Stelle der abgestorbenen Lüste tritt.“ (6) Den Altersgeiz verurteilen zahlreiche Redensarten und Sprichwörter, europäische wie arabische. „Der Gedanke an den Tod macht knausrig, obwohl das letzte Hemd keine Taschen hat“. „Der gierige Mund wird nicht gefüllt, ausser mit der Erde des Grabes.“

 Detail aus „l’Avaro“, Druck von Antonio Piccinni, 1878

Grosszügig, edel und würdig

Das Gegenteil von „geizig“ ist in der deutschen Sprache „großzügig“, „freigebig“, „wohltätig“. Im Arabischen steht dafür das Adjektiv كريم (karím), das ein breites Bedeutungsfeld abdeckt. Es bedeutet auch „freundlich“, „gütig“, „gastfreundlich“, „vornehm“, „edel“ und „ritterlich“. حجر كريم „hagar karîm“ ist ein Edelstein, كاتب كريم „kâtib karîm“ ein berümter Schriftsteller. „karîm“ ist einer der 99 Namen Allahs, und „Karim“ oder „Abd-el-Karim“ und „Karima“ sind beliebte Vornamen. Das Adjektiv „karîm“ ist eines der am häufigsten gebrauchten Wörter der arabischen Sprache. In der nach ihrer Häufigkeit geordneten Rangliste des arabischen Wortschatzes (7) nimmt „karîm“ den Rang 381 ein. „Großzügig“ dürfte in einer Häufigkeitsliste der deutschen Sprache an einem wesentlich späteren Platz figurieren.

Die entsprechenden Substantive sind كرم (karam) und كرامة (karâma). „Karam“ bedeutet Großzügigkeit, Freundlichkeit, Güte, „karâma“ Ehre, Würde, Adel, Ansehen, Prestige. Dass beide Begriffe vom selben Stamm gebildet sind, deutet an, dass nur der Grosszügige ein edler, würdiger, angesehener Mensch sein kann. „(8) Großzügig, freigebig, wohltätig sein ist eine Grundbedingung für den Araber, der etwas auf sich hält. Der Geizhals dagegen ist ein gemeines, verächtliches Exemplar der Gattung Mensch.

Was Geiz und Großzügigkeit angeht, stimmen also die Urteile der europäischen und der arabischen Ethik weitgehend überein. Freilich nimmt freigebiges, wohltätiges Verhalten in der islamisch geprägten Welt einen weit höheren Rang ein als bei uns, und kaum jemand würde dort wagen, sich schamlos zu seinem Geiz zu bekennen. Das ethische Verhalten ist durch die Religion bestimmt, während der Westen weitgehend laizistisch denkt und handelt.

Unter den Fremden, die bei uns in Luxor leben, gibt es nicht wenige, die großzügig helfen. Ein Engländer baut auf der Strasse eine Schiefertafel auf gibt den Kindern des Dorfes Englisch-Unterricht. Diese machen begeistert mit, aber schliesslich kommen so viele, dass er den Unterricht einstellen muss, bis er einen Helfer findet, der die Aufgabe mit ihm teilt. Eine Dame aus Deutschland verschaffte sich gebrauchte Nähmaschinen und liess sie von der Egyptair kostenlos nach Luxor transportieren. So konnte sie mittellosen jungen Frauen helfen, sich einen kleinen Verdienst zu verschaffen. Einige der Niedergelassenen, freilich viel zu wenige, übernehmen Patenschaften, damit Kinder aus bescheidenem Milieu eine Privatschule besuchen statt die hoffnungslos überfüllten und wenig effizienten öffentlichen Schulen. Eine Dame, die vor ein paar Jahren verstorben ist, hinterließ ihr Erbe einem Hilfswerk, das sich um behinderte Kinder kümmert.

Geiz-Strategien

Leider engagieren sich längst nicht alle in solcher Großzügigkeit. Dabei gehört doch jemand, der in Europa bescheidene Einkünfte hat, in Ägypten zu den Reichen und könnte es sich leisten, einen Teil seines Reichtums abzugeben. Indessen hört man Sätze wie „Mach‘ bloss die Preise nicht kaputt“ oder „Hier ist ohnehin alles viel zu teuer“. Die Preise sind tatsächlich kaputt, denn für Ägypter ist wegen der Geldentwertung alles sehr teuer geworden. Der Fremde, der heute bis zu 50 ägyptische Pfund für einen Euro bekommt, lebt wie im Schlaraffenland. „Wir Europäer können die Probleme Ägyptens nicht lösen“, sagt eine andere Ausländerin. Recht hat sie, aber das heisst nicht, dass nicht jeder in seinem Umkreis sein Bestes tun kann. Im Restaurant hört man über das Trinkgeld diskutieren. „Geben wir etwas oder nicht? Sind 50 Pfund zuviel?“ Dabei wird ausgeblendet, dass 50 Pfund nur noch wenig mehr als einen Euro wert sind.

Um Geld zu sparen, hat sich einer dieser Fremden einen fast genialen Trick ausgedacht: er lehnt das Umrechnen einfach ab. Für ihn bleibt ein Pfund gleich einem Euro. Damit vermeidet er große Ausgaben und bleibt beim Schenken und beim Trinkgeld bei unglaublich kleinen Beträgen. Alle anderen wissen natürlich genau, wieviel ihre Währung wert ist. Im täglichen Leben schaffen sie es dennoch, dieses Wissen auszublenden. Der uneingestandene Geiz hat seine eigenen abstrusen Strategien.

Eine solche Sparsamkeit wird dadurch erleichtert, dass man über das Leben und die finanzielle Situation der Einheimischen wenig weiss und vielleicht wenig wissen will. Der Verdienst der Leute bleibt weit hinter der Preissteigerung zurück. Die Ärmsten verdienen 2000 Pfund (etwa 40 bis 50 Euro), was nicht mehr reicht, um ihre Familie zu ernähren.

Toleranz

Unwissenheit in Bezug auf die Einheimischen geht einher mit Unverständnis und Besserwisserei. Die Unterschiede im Leben und Denken zwischen Ägyptern und Ausländern sind riesengross. Es gibt Dinge, die wir Europäer nur schwer akzeptieren können. Aber als Gäste in diesem Land ziemt es sich, mit der Kritik zurückzuhalten. Es ist anzunehmen, dass die Einheimischen auch nicht alles verstehen und akzeptieren, was ihnen an uns auffällt. Wer miteinander lebt, muss Toleranz üben und sich bemühen, auch das Gute im Verhalten der Anderen zu sehen. Er wird erkennen, dass wir manches von den Ägyptern lernen können. Wer hier lebt, erkennt sehr schnell, wie gross die Anteilnahme untereinander ist. Wenn man sein Gegenüber nicht mit dem Vornamen anspricht, sagt man أخويا „akhûya“ (mein Bruder), عمّي „‚ammî“ (mein Onkel) oder حبيبي „habîbî“ (mein Liebling). Wer krank ist, wird sofort besucht. Wer hungert, wird unterstützt. Wer dringend Geld braucht, bekommt es geliehen, auch von Verwandten und Freunden, die selbst Schulden haben. Die Alten bleiben in ihrer Familie, verrichten kleine Aufgaben und haben die Gewissheit, ein sinnvolles Leben zu führen. Behinderte, Blinde und alte Menschen werden mit einer Zärtlichkeit behandelt, die wir fast als peinlich empfinden. Wenn jemand stirbt, wird vor dem Haus ein Trauerzelt aufgeschlagen, in welchem die Leute drei Tage lang zusammenkommen, kondolieren und schweigend dasitzen, wobei die Nachbarn für das Essen sorgen. Solche Kranken- und Kondolenzbesuche, „wâgib“ (Pflicht) genannt, können mehrmals in der Woche anstehen. Niemand beruft sich darauf, unabkömmlich zu sein. Für andere da zu sein, ist Pflicht, auch weil Einsamkeit das Schlimmste ist, das man sich vorstellen kann. „Wer allein ist, der hustet auch allein.“ Ein anderes Sprichwort sagt: „Sogar ein Frommer würde aus dem Paradies entfliehen, wenn er dort allein bleiben müsste.“ Dieses Bestreben, nicht allein zu sein, führt zu einem beständigen Bemühen um die anderen, in der Familie und der Dorfgemeinschaft.

  „Trauerzug in Ägypten“ Foto ©picture-alliance/Hervé Champollion/akg-image

Was manchem Fremden zu schaffen macht, ist die Religion und die Art, wie sie das Leben bestimmt. „Jetzt fängt der schon wieder an!“ ruft eine Touristin aus, als der Muezzin zum Gebet ruft, wie er es fünfmal am Tag zu tun hat. Eine andere Europäerin vergnügt sich damit, den Gebetruf „Allah akbar“ zu verballhornen, indem sie daraus „Ulla in der Eckbar“ macht. Wer Gast ist in einem Land, sollte den Glauben seiner Gastgeber respektieren, so gross auch seine Vorbehalte sein mögen. Dasselbe verlangen wir ja von den Fremden und Migranten, die bei uns leben. Wir sollten uns hüten, gängige Stereotype ungeprüft zu übernehmen. Einen fanatischen und gewaltbereiten „Moslembruder“ habe ich in den 25 Jahren meines Lebens hier noch nie erblickt. Der Glaube in Oberägypten ist stark geprägt vom Sufismus, der islamischen Mystik, die nicht das Dogma in den Mittelpunkt stellt, sondern die Meditation, das Gebet, den Gesang und die rhythmische Bewegung (9). Dieser Islam schenkt, das ist unverkennbar, den Gläubigen Sicherheit und Zuversicht. Aus den Gesichtern der Alten strahlt eine Gelassenheit, welche keine Angst vor dem Ende verrät.

„Kinder in Assuan“ Foto: ©Hans Mauritz

Wir Fremden sollten dankbar sein dafür, in diesem Land freundlich empfangen und verwöhnt zu werden. Viele Migranten und Flüchtlinge in Europa werden wohl weit weniger wohlgesonnen und tolerant behandelt als wir „Luxus-Migranten“ in Ägypten.

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Quellen

(1) Wikipedia, „Geiz ist geil“. Siehe auch Erzdiozöse Wien „Todsünde: Geiz und Enge“

(2) Heute.at: „Deutsche besonders geizig beim Reisen“

(3) Rosa Luxemburg Stiftung: „Geiz ist geil! Wieso auf einmal?“

(4) Wikipedia: „Almosen“ und „Zakat“

(5) Wikibrief: „Geizig“

(6) Rosa Luxemburg Stiftung, s. (3)

(7) Abdulghafir Sabuni, „Wörterbuch des arabischen Grundwortschatzes. Die 2000 häufigsten Wörter“, Helmut Buske Verlag, Hamburg 1988

(8) Vgl. Hans Mauritz, „Ägypten verstehen – seine Sprache erleben“, p.53 ff. (Kubri Verlag, Zürich 2016)

(9) ders., „Arabische Volksfrömmigkeit. Allahs Namen nennen“ http://s128739886.online.de/volksfroemmigkeit/ hier

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Veröffentlicht am 5. Februar 2024, am 85. Geburtstag des Autors Dr. Hans Mauritz (s.a. hier)

Herzlichen Glückwunsch, lieber Hans, „ad multos annos“ und lieben Dank für Jahrzehnte der Freundschaft, die – wenn ich es recht erinnere – in Langeoog1955 begann („Klingsors letzter Sommer“). Erinnerungsfoto von unserm Wiedersehen im Sommer 2010 in der Toskana:

Das Weltraumgefühl

Nur die goldne Abendsonne?

Ich kannte es lange nicht mehr, außer in meiner Kindheit, auf der Lohe und in Misburg, – späte Spaziergänge -, auf Langeoog, – dann war es nur, um das Meeresleuchten zu sehen, auf Texel, beim Rückweg von „Paal 9“ auf den Parkplatz, wo man im Dunkeln das Auto sucht und plötzlich innehält, Blick nach oben. Der gestirnte Himmel. Wer hat das blöde Lied gesummt, Sonnenuntergang hat nichts damit zu tun. Nein, das kommt nicht vom Alter! (Und was ist das schon: 70 !)

Es war aber „die güldne Sonne“, nur sie gilt!!!

GOLD ! Sterne kollideren !

EWIGKEIT ! Nicht ausgeschlossen !

Es kam also beim Zeitunglesen, ZEIT lesen, Seite 26 die Geschichte vom Gold, also doch wohl Wissenschaft, und erst Tage später, nahe am Kitsch, dachte ich, die Geschichte von Helga Schubert, Seite 45 „In der Ewigkeit“. Die Ewigkeit sei nicht woanders, „ich bin nicht ausgeschlossen, die Sekunden, die ich sterblicher Mensch auf dieser winzigen Erde bin, diesem blauen Planeten, wenn man ihn vom Mond sieht aus kurzer Entfernung, diese Sekunden sind ein Geschenk. Ich darf es annehmen. Und ich gehöre dazu, und die, die ich liebe, gehören auch dazu.“ Auch noch das Gedicht von Friederike Mayröcker zitieren, das endet mit: „O Sirius, o Mandelbaum und Stern: Noch leben alle, die wir lieben.“

Eines Tages, wenn ich dieses wiederlese, ärgere ich mich, dass ich es nicht ganz zitiert habe, alle 8 Zeilen. Oder Näheres darüber, dass das Leben von Helga Schubert (84) gerade in die Kinos gekommen sei…

Aber fest vorgenommen hatte ich mir nur die Geschichte vom Gold, und zwar die Zeilen, deren Summierung mich spürbar ergriffen hat, nein, „ergriffen“ nicht – ? es war nur die Erinnerung an den Parkplatz  bei „Paal 9“. Ganz kurz, aber fast wäre es auch das Weltall persönlich gewesen, wie damals. Und die wirklich vergangene ZEIT, die schwindlig macht, der „WeltRAUM“.

Wie groß jedoch so ein schöpferischer Wumms sein muss, damit das Edelmetall entsteht, davon konnte sich die Wissenschaft lange keine Vorstellung machen. Die Erde, so stellte sich bald heraus, ist für ein solches Ereignis viel zu klein. Alles Gold auf dem Planeten ist außerirdischen Ursprungs. Denn es müssen dazu schon Sterne miteinander kollidieren – Neutronensterne. (…)

Das frühe Universum war, vor fast 14 Milliarden Jahren, noch recht arm an Elementen. Nach dem Urknall gab es zunächst nur Wasserstoff und Helium sowie ein wenig Lithium und Beryllium. Nach wenigen Minuten sanken im expandierenden Universum Temperatur und Dichte, sodass vorerst keine schwereren Atomkerne entstanden. Für die Bildung weiterer Elemente brauchte es kosmische Backstuben, in denen mithilfe von Kernfusionen schweres Material hergestellt werden konnte. Diese Backprozesse gelangen später im Innern von Sonnen. Je größer die Masse eines Sterns, desto protonenreichere und schwerere Elemente konnte er hervorbringen: Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Silizium. Spätestens bei Eisen mit 26 zusammengebackenen Protonen war jedoch Schluss.

Wie also können schwere Elemente wie Gold entstehen? (…)

Neutronensterne – extrem kompakte Überreste ausgebrannter Sonnen. Wenn zwei dieser gigantisch dichten Objekte kollidieren und verschmelzen, tragen ihre Neutronen in rasender Geschwindigkeit dazu bei, dass verschiedene Elemente sich bilden und wieder zerfallen. Das Licht, das bei diesen chemischen Reaktionen erzeugt wird, gelangt bis zur Erde.

2017 konnten Astrophysiker eine solche Kollision zweier Sternenleichen beobachten – sie hatte sich vor 130 Millionen Jahren ereignet (so lange brauchte das Licht, bis es zur Erde gelangte). Das optische Spektakel dauerte eine Woche. Erst sahen die Forscher viel blaues , und nach drei Tagen viel infrarotes Licht. Die exakten Wellenlängen verrieten ihnen, was damals (als auf der Erde noch Dinosaurier lebten) entstanden war: unter anderem Gold in der Größenordnung von 30 Erdmassen plus zehn Erdmassen Uran. (…)

Was sich bei solchen Kollisionen bildet, fliegt danach als Sternenstaub durch das Universum. Ab und zu landet etwas davon auf einem Planeten – etwa Gold auf der Erde. (…)

Quelle DIE ZEIT Nº 5 25. Januar 2024 Seite 26 Als das Gold vom Himmel fiel / Wie das Edelmetall entstand, verstehen Forscher erst heute. Eines wissen sie aber schon länger: Das Weltall spielte eine wichtige Rolle / Von Urs Willmann

vorher:

DIE ZEIT Nº 5 25. Januar 2024 Seite 45 In der Ewigkeit / Wir verlieren uns nicht, egal wo wir sind. Über Trost – und wo er zu finden ist. Eine Betrachtung / Von Helga Schubert

P.S. Was war nun mit dem Lied?

Das gäbe eine lange Geschichte. Ich habe es kennengelernt in meinem 4. Schuljahr, als ich – noch nicht zehnjährig – von der Dorfschule in Lohe bei Bad Oeynhausen zur Melanchthon-Schule in Bielefeld kam: dort wurde als erstes morgens ein gemeinsames Lied gesungen  (Bielefelder Kinderchor! manchmal kam der „alte Oberschelp“, auf der Suche nach glockenhellen Kinderstimmen), aber nur dieses prägte sich mir unauslöschlich ein. Bis ich das Gedicht von Ingeborg Bachmann fand, von ihr gelesen, „An die Sonne“, und wieder dachte ich über die alte Melodie nach, die so kindgerecht Unter- und Aufgang der Sonne nachzeichnet („Mein Haupt und Glieder die lagen darnieder, aber nun steh ich, bin munter und fröhlich“), Text von Paul Gerhardt; wenn man umblättert hat es 12 Strophen. Das andere Lied ist für mich „das falsche“.

richtig!

„falsch“

Übrigens: von der Lohe kannte ich ein anderes frommes Lied, dessen mittlere Sequenz ich schon bald lieber  parodistisch verfälscht sang: „Jesu geh voran / auf der Lebensbahn! / Und ich will mich nicht verweilen, / dir getreulich nachzueilen: / Jesu geh voran / auf der Lebensbahn!“