Noch ein diskutabler Ton bei Bach

Wohltemperiertes Clavier II in Cis-dur bzw. Des-dur

Praeludium letzter Teil (kleine Fuge ab Takt 25)

Bach WTC II Cis

Ich mache hier nur dingfest, was ich seit Jahrzehnten in meinen Noten stehen habe, eine Korrektur – schlechten Gewissens, und oben sieht man die Handschrift, die solches verursacht. Gut lesbar: zweites System, dritter Takt, Mittelstimme, drittes Sechzehntel – ist das cis‘ (in Des-dur-Ausgaben das des‘) wirklich richtig? (Nicht irritieren lassen durch den versetzten Notenschlüssel: die rechte Hand muss eine Terz tiefer gelesen werden!) Siehe auch folgendes Beispiel, darin zweites System, vierter Takt:

Bach WTC II Cis Druck

Die hineingeschriebene Zahl 25 bedeutet 25. Takt und Ende des ersten Praeludium-Teils, die hineingeschriebene 1 heißt erster Takt der kleinen Fuge, die wie der erste Teil aus 25 Takten besteht.

Meine alte Übe-Ausgabe von Kroll (Edition Peters):

Bach WTC II Des Kroll

Ich lasse den Leser, die Leserin damit vorläufig allein. Sagen Sie ruhig: Warum denn nicht dieser Ton in Takt 35?? Warum der Terzenwahn, warum soll die Mittelstimme sofort mit einer Unterterz dabeisein? Ja, genau, das meine ich! Aber nur beim Spielen, beim Hören bin ich vielleicht zufrieden…. oder? Ich bin der Sache noch nicht nachgegangen… mal sehen… Ton Koopman und Andras Schiff.

***

Leider: von beiden besitze ich nur WTC I, von Evgeni Koroliev jedoch auch WTC II. Er spielt nicht meinen Ton, und ich muss zugeben, in seinem flotten Allegro-Tempo stört nichts daran. Aber in einem Fugengebilde kann letztlich nicht das täuschbare Ohr die letzte Instanz sein, sondern die Grammatik, ja, selbst der Buchstabe, meine ich. Ich werde die Sache weiterverfolgen (s.u.), andererseits auch nicht so wichtig nehmen wie im Fall des einen Tones im ersten Satz der ersten Violin-Solo-Sonate. Dort scheint mir schwer verzeihlich, wenn jemand – gegen bessere Argumente – beim strittigen Ton verharrt. (Siehe hier!)

In der Tat ist die Geschichte dieses Praeludiums, wie sie von Alfred Dürr dargelegt wird, ergiebig genug, und sie gewährt gerade dank der Variabilität dieses Vor-Spiels einen Zugang zum experimentellen Bereich des Schaffensprozesses. Ähnlich wie das C-dur-Praeludium, an dessen Stelle dieses nach Cis-dur transponierte (!) Stück vielleicht einmal hat stehen sollen.

Hier nur soviel:

Das Cis-Dur-Präludium ist das einzige Klangflächenpräludium reinen Wassers des WK II, und auch daß es eine im Tempo beschleunigte Coda besitzt, hat es mit vielen Präludien des WK I gemeinsam – auch wenn der Unterschied hier besonders kraß ist, so daß (…) auch an ein zunächst ohne nachfolgende Fuge konzipiertes Stück gedacht werden kann.

(…)

Als eigentlicher Schluß erweist sich Takt 20 (= 6, subdominanttransponiert); die darauffolgenden vier Takte stellen den Übergang zum Allegro her. Dieses Allegro (nur in der Cis-Dur-Version so bezeichnet), ein dreistimmiges Fugato, erweist sich bei aller Knappheit als reizvolles Kabinettstückchen mit Exposition (T. 25-34, Kadenz auf der Tonika), II. Durchführung mit Themenumkehrung (T. 34-41, Kadenz auf der Dominante) und reprisenartiger III. Durchführung (T. 41-44 = 25-28) samt nachfolgender Coda – dies alles auf kleinstem Raum.

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel Basel London etc. 1998 (Seite 266 f)

Ich habe mir das jetzt in meine alte Kroll-Ausgabe rot eingetragen: als „Kabinettstückchen“ übe ich es seltsamerweise mit neuem Impetus. Übrigens füge ich den Achtelvorhalt aus Takt 26 auch an den anderen Stellen ein, also Takt 27, 31, 38, 42, und 43.

Bach Des Fugato

Ich glaube, es war ein notwendiger Prozess, mich von einem schnell gefassten und dann eingebrannten Vorurteil zu lösen. Das geschah beim Üben und Abwägen. Der eine Ton hat sich letztlich als irrelevant erwiesen, meine Auflösung in Terzenparallelen war für eine polyphone Arbeit zu simpel gedacht. Im langsamen Tempo gespielt, zeigt sich, dass die Mittelstimme des Taktes 35 samt Abwärts-Terz korrespondiert mit der Bassstimme des Taktes 36 und ihrer Abwärts-Terz.

Aber dieses Praeludium hat sich als eine Fundgrube anderer Art erwiesen. Der nächste Schritt wird sein – so äußerlich das scheint – es nicht mehr in Des-dur zu lesen, sondern in Cis-dur. Die Struktur des Klangflächen-Teils zu erfassen, Christoph Bergners Taktgruppen-Gliederung überprüfen: das Ohr sagt etwas anderes als seine Zahlen…

Chr. Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von J.S.B. / Hänssler Neuhausen-Stuttgart 1986

Youtube-Versionen anbieten – z.B. Evelyne Crochet hier oder Nikolai Demidenko (Angela Hewitt)  hier, die absurd schnelle Fuge bei Demidenko. Hässlicher Klang (aufnahmetechnisch). Der Übergang im Praeludium zum Allegro: es besteht kein Anlass, den ersten Akkord (bei 11:04 als „Break“-Effekt) hart anzuschlagen, so auch bei Koroliev. Bach hat die Tempobezeichnung allegro mit Bedacht erst über die Sechzehntel, also den Themenbeginn, gesetzt. Die Fermate am Ende bedeutet nicht, dass man den Schlussakkord sinnlos lang aushalten soll; er muss im Verhältnis zum allegro-Tempo bzw. ritardando (falls man es macht) stehen. Besser: den Abstand zur Fuge genau nehmen, nicht irrational. Z.B. 1 Takt Schlussakkord, 1 Takt Pause, nächste Zählzeit = Achtelpause des Fugenbeginns.

Kriterium für gutes Fugenspiel: Deutlichkeit! Vorbildlich bei Koroliov. Mögliche Temporelation im Ganzen: Die Viertel des Praeludiums gehen im „allegro“ als ganze Takte weiter und sind in der Fuge wieder als Viertel-Zählzeit gültig, wobei dies durchaus nicht im metronomischen Sinn gelten muss.

Das Werk ist ein erratischer Bestandteil des WTC II, nämlich in Vorformen bis in die Weimarer Zeit (1708-1717) zurückreichend. Fast der ganze Rest ist ja nach 1738 enstanden.

Ich werde diesen Beitrag einfach abbrechen.