Nach dem Aufwachen

Provisorische Konstruktionen

Als erstes fiel mir morgens eine alte Beobachtung ein, die vielleicht universale Bedeutung hat: dass Bach (bzw. jeder Barockkomponist) nie oder selten ein Stück schreibt, indem er nicht zu allererst die Tonika mit einer Kadenz festigt. Das Fundament muss stehen. Ganz genau so verfährt der indische Musiker: die ersten – sagen wir – 20, 30 Sekunden dienen dazu den Grundton Sa zu etablieren (auch wenn dies durch das Einstimmen eigentlich bereits geschehen ist), ihn zu einem Nukleus weniger Töne zu erweitern und ausdrücklich zu ihm zurückzukehren. Dies festzustellen ist eine Banalität, beruhigt mich aber und erweitert augenblicklich meine Perspektive.

Beispiel Bach (BWV 1007):

In beiden Beispielen ist der Status des Anfangs in Takt 4 wiederhergestellt, oder besser gesagt: begründet und mit einer minimalen Variante versehen, die den Status in einen Motus verwandelt. Im ersten Beispiel dadurch, dass anstelle des zweiten Tones D ein G tritt und vor allem dadurch, dass als letzter Ton dieses vierten Taktes ein Fis auftritt, das hinausweist, und es will nicht nur hinaus, sondern zum E. Und nun geht es „los“.

Im zweiten Beispiel ist es die Wiedergewinnung  des Tones H, der am Anfang stand, sowie der Abstieg zum tiefsten Ton G, und dies in Zweiergruppen, also einer neuen Bewegungsart, einem Motus der Unruhe; dass er weiterstrebt, weitertreibt, erfährt man spätesten auf dem Dis, dem nächsten Halteton nach dem tiefen G; und vor allem durch das „Echo“ der wiederum absteigenden Zweiergruppen in Takt 6. (Das lockere Versprechen, dass dies ein bleibendes Motiv sei, wird nicht eingelöst…)

Ähnlich geht es mit den Phänomenen, die ich des öfteren – nicht ohne mich gleichzeitig zu distanzieren – benenne: Stichworte wie „Assoziation“ oder „Koinzidenz“. Ich muss ihnen kurz nachgehen, weil sie Zusammenhang schaffen, und sei es ganz provisorisch: die Vorstellung, jeder Punkt des Wissens (um die Welt) stehe für sich und die Hoffnung, jemals alle Mosaiksteinchen zu einem wenn auch vorläufigen Muster nebeneinanderzulegen, sei kindlich und diene der Illusion eines vergangenen, harmonischen Weltbildes, – das mag so sein, behindert andererseits aber nicht die Arbeit an einzelnen Themen. Im Gegenteil, es beflügelt und motiviert. Und sei es nur zu einem Ausflug ins Internet, verschiedenen Wikipedia-Punkten, fast so wie man sich früher ins Lexikon vertiefte und am Ende kaum noch wusste, wo der Ausgangspunkt war. Zum Beispiel hätte ich der folgenden punktuellen Erinnerung nie ein besondere Bedeutung beigemessen:

Der Blick (aus dem Kinderzimmer) auf die Pauluskirche in Bielefeld, gegenüber der Kindergarten, weiter hinten das Gemeindehaus, in dem die Kirchenchorproben stattfanden; es muss etwa um 1952 gewesen sein. Jemand von dort drüben hat mir ein einfaches, für mich hochkompliziertes Filmvorführgerät ausgeliehen, dazu eine Reihe kleiner Spulen mit Filmen. Mir sind Szenen mit Charlie Chaplin in Erinnerung geblieben, die wir unglaublich lustig fanden, also Stummfilmszenen, z.B. Chaplin als Kellner: er versucht  dem feingekleideten Gast ein gebratenes Hähnchen in einem Gartenrestaurant zu servieren, was aber nicht ohne weiteres gelingt. Der Gast reklamiert, es lasse sich nicht schneiden. Chaplin will demonstrieren, dass es sehr wohl möglich ist, dabei macht sich aber das Hähnchen selbständig und landet im hohen Bogen am Nebentisch auf dem Schoß einer vornehmen, sehr beleibten Dame, die heftig erschrickt, sich vom Tisch abstößt und rücklings in den Büschen landet. Wie auch immer, Szenen dieser Art, damals von meinen Eltern als unter Niveau behandelt – heute würde ich es nicht bei der punktuellen Erinnerung belassen, sondern nach ihnen auf Youtube fahnden. Es war nicht einfach „Stummfilm“, sondern Kindheitserinnerung (mit eigener imaginärer „Akustik“). Nebenbei hätte ich mich an Marcel Marceau erinnert, den meine Eltern auf der Bühne erlebten und lobten (ohne eine Verbindung anzudeuten oder zuzulassen). Usw. – aber nie hätte ich geahnt, das all dies damals einen Zusammenhang mit Richard Wagner offenbaren könnte, was mir erst jetzt, aufgrund des Aufsatzes von Mathias Spohr, in den Sinn kam. Pantomime! Melodram! Natürlich kannte ich das inzwischen alles, aber die Worte motivierten mich nicht. Die erste Reaktivierung fand statt durch die alten Noten, die Freund Konrad auf den Flügel gelegt hatte, er konnte damit nichts anfangen konnten; ich auch nicht, behandelte sie aber mit Vorsicht, weil es sich um eine späte Komposition von Robert Schumann handelte. Was hatte er nur daran finden können? Was hat er sich vorgestellt? Balladen von Hebbel, als Melodramen, Klaviermusik, die zur Rezitation der Texte gespielt werden soll. Bedeutend fand ich das nicht. Erste motivierende Idee: Vielleicht gab es damals noch eine völlig andere, „übertriebende“ Kunst des gesprochenen Wortes, mit notwendigem Pathos, mit aufgerissenen, rollenden Augen und übertriebenen Gesten, uns völlig fremd, aber authentisch, ähnlich wie die rekonstruierte Aufführung der Lully-Oper, die ich auf DVD bestaunt hatte.

Und nun die dringlichen Stichworte aus dem Aufsatz über Wagners „Lehrmeister“, interessant weit über Wagner hinaus, zu dem, was in der Zeit vor und um 1800 eine Riesenrolle gespielt hat (ich denke an die seltsamen Gesellschaftsspiele bei Schubert „Tableaux vivantes“), dann allmählich zurücktrat und dann völlig in der Versenkung verschwand, mit der Folge, dass wir auch nicht mehr im geringsten ahnen, welche Bedeutung diese Phänomene einmal hatte, Vor- und Nebenformen des Bühnen-Dramas, sagen wir: zur Verlebendigung des Lebens.

Und nun auch: meines Leben …

Huawei-Fotos JR Texel 16.10.2018