Musik und Religion

Ein Selbstversuch

Bruckner IX Adagio 1 Die Musik im externen Fenster HIERBruckner IX Adagio 2

Der Anlass, das Adagio aufs neue zu hören und auch den Mythos zu (r)evozieren:

Musik & Ästhetik April 2018 Bruckners Gott Stolzenberg Titel Musik & Ästhetik HIER

Entscheidend war für mich, dass es ein ausgewiesener Philosoph ist, der sich hier offenbar kompetent zur Musik äußert: Jürgen Stolzenberg. In einer Schlussanmerkung dankt er Johannes Menke (siehe obiges Titelblatt) für harmonietechnische Erläuterungen. Ich bin froh über die Lektüre und die erneute Begegnung mit Bruckners letztem Werk, der 9. Sinfonie d-moll, kann aber letztlich den Ergebnissen der Arbeit über „Bruckners Gott“ am Ende vielleicht weniger abgewinnen, als ich erhofft habe.

Der Autor nennt eine semantische Analyse (mit der man etwa tonsymbolische Bedeutungen dingfest machen kann, die auf einen religiösen Gehalt verweisen) unreflektiert. Zitat:

Sie geht stillschweigend davon aus, dass bei einem Transfer von Motiven oder Themen aus einem Werk mit einem durch den Text vorgegebenen religiösen Gehalt in den Kontext einer textlosen Symphonie die begrifflich bestimmbare Bedeutung dieser musikalischen Elemente unverändert bleibe. Von dieser Prämisse kann jedoch nicht ausgegangen werden. Ein Motiv oder ein Thema etwa aus dem  Miserere oder dem Dona nobis pacem einer Messe kann schon aufgrund des Umstandes, dass es in einer textlosen Symphonie erscheint, nicht dieselbe Funktion des Ausdrucks des emotionalen Gehalts einer religiösen Bitte um Erbarmen oder um Frieden wie in dieser Messe haben. In einer textlosen Symphonie gibt es keine Korrelate, auf die sich solche Bitten beziehen könnten, und so gibt es auch keinen musikalisch darstellbaren Gehalt einer Bitte. Damit wird die Rede von einer Bitte oder einem Gebet selber obsolet. [Seite 10]

Wissen wir denn, ob der Textgehalt in einer Messe auch wirklich ein stimmiges Korrelat in ihrem musikalischen Gehalt findet? Oder wird nur erwartet, dass wir es hineinlegen und akzeptieren, weil der Wortlaut und das gesamte Umfeld nichts anderes nahelegen? Was bedeutet es denn, wenn ein Komponist wie Bartók die Satzbezeichnung „Religioso“ wählt? Garantiert sie einen religiösen „Gehalt“? Oder will sie uns eine emotionale Haltung nahelegen, die dem Charakter der Musik zugutekommt? Was sagt denn die Musik wirklich, für sich selbst genommen? Was sagt uns ein bestimmtes Parsifal-Motiv, wenn wir das „Dresdner Amen“ nie gehört haben? Weniger oder mehr?

Der Autor problematisiert indessen auch die Distanzierung von semantischen Analysen:

Mit der Konzentration auf die Analyse formaler Zusammenhänge eines Werks wird der subjektive Erfahrungs- und Resonanzraum weitgehend abgeriegelt, der für Aussagen über den expressiven Gehalt eines Werks unverzichtbar ist. Es trifft nicht zu, […], dass sich nur über formale und kompositionstechnische Tatsachen auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Weise sprechen lässt. Der expressive Gehalt eines musikalische autonomen Kunstwerks wie einer Symphonie lässt sich durchaus, im Ausgang von den formalen und kompositionstechnischen Tatsachen und gestützt auf sie, musikhistorisch informiert und mit einer hinreichend sensiblen Reflexion auf die subjektive Resonanz des musikalischen Geschehens, auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Weise zur Darstellung bringen, ohne damit den Anspruch auf eine begrifflich fixierbare Eindeutigkeit und alternativlose Ausschließlichkeit zu verbinden. Das gilt auch für die Frage eines möglichen religiösen Gehalts. [Seite 11]

Das klingt nicht nur etwas schlimm, sondern lässt  auch erahnen, dass es nicht plausibler wird, den Weg zu „Bruckners Gott“ in seinem letzten Adagio finden zu wollen. (Zudem wird in einer Anmerkung als informative Quelle ein Autor empfohlen, der 2010 ein Buch über „Die Expressivität in der Musik“ herausgebracht hat, mir aber in „Musik, Emotionen und Ethik“ 2011 jede Lust auf weitere Lektüre vergällt hat. Siehe hier.)

Ich kann die Skepsis nicht leugnen, die mich erfasst beim Überhandnehmen der Worte „erlebbar“, „durchlebte Prozesse“, „Vollzug des Lebens“, eines „musikalisch gestalteten Lebensweges“ auf den letzten Seiten des Essays, als stünden wir nun bald leibhaftig vor Bruckners Gott.

Es ist eine abgeklärte, erhabene Ruhe, die Schmerz, Not und Leiden durchlebt und überwunden hat. [Seite 27]

Oder auch nicht! Da ist von „naturreinen [!] Quarten und Quinten“ die Rede. Der Satz ende, so heißt es,  „auf einem erlösenden Einklang, der ins Unendliche fortzutönen scheint.“ Für mich ist es ein vollständiger E-dur-Dreiklang, wenngleich die Hörner auf dem hohen h verklingen, der Quinte des Grundtones, anders als es hier gesagt wird: „Dieser Einklang ist nicht der Grundton e, sondern der ins Offene weisende Dominantton h.“ Es ist und bleibt aber die Quinte des real erklingenden Tonika-Dreiklangs.

Dieser Aufstieg ist doch kein Aufstieg der Seele zu Gott. Es ist vielmehr ein Ausblick oder auch, wenn man will, ein Aufbruch in eine Freiheit, eine Freiheit, die ohne Grenzen, aber nicht ohne Gesetz ist. Das Gesetz ist die im Zuge der Erinnerung sichtbar gewordene, von Anfang an waltende Ordnung. Da sie eine alles umfassende Ordnung ist, ist sie unbedingt. Als solche ist sie der Grund einer Kohärenz, in der der Prozess der Erfahrung einbegriffen ist und der auch für das, was noch kommen kann, verbindlich ist. So geschieht der Ausblick oder Aufbruch in eine Freiheit ohne Grenzen im Horizont und unter der Leitung der Idee eines sich selbst affirmierenden, sinnstiftenden Unbedingten, dessen Wirklichkeit zuvor in höchster Not und tiefster Verzweiflung beschworen worden war. [Seite 27]

Mein Gott! Aber nur „wenn man will“ ! Wie schon eine Seite vorher formuliert, „nachdem die zum Ausdruck kommende Verzweiflung auf eine nicht mehr zu steigernde Weise dargestellt und, wie man vielleicht sagen darf, bis auf den Grund durchlebt worden ist…“ Bleibt nur noch eine faustische Frage: Wie steht’s denn mit der Religion?

Wenn Religion – Religion im allgemeinsten Sinn – dadurch bestimmt ist, den Vollzug des Lebens unter der Idee des Unbedingten zu begreifen, so die Erklärung Paul Tillichs, dann hat die Musik Anton Bruckners einen religiösen Gehalt. Mehr ist hier nicht zu sagen. Dessen Verfassung entdeckt sich aber erst vom Ende des musikalisch gestalteten Lebensweges her, nach der Katastrophe. Das ist ihr Sinn. [Seite 27f]

Quelle Jürgen Stolzenberg: Bruckners Gott, in: Musik & Ästhetik Heft 86, April 2018 Klett-Cotta Stuttgart, Seite 8-29.

Ich beginne ganz von vorn. Oder jedenfalls: das Adagio ganz von vorn. Mein Selbstversuch ist noch lange nicht am Ende.

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Bruckners ADAGIO – wie es ein wahrer Jünger seiner Zeit beschrieb: Max Auer (1923)

Bruckner Adagio Max Auer

Bruckner Adagio Max Auer f

Das hier gegebene Formschema, auf die Aufnahme mit Celibidache bezogen:

ab 0:06 B ab 5:31 A ab 10:35 B ab 16:45 A ab 18:23 B ab 22:14 Koda ab 28:51        

Die Notenbeispiele, auf „Celi“ bezogen: 18 0:07 bis 1:01 / 19 ab 1:59 / 20 ab 3:27

Bruckner Adagio1

21 ab 5:31 22 ab 7:40 / 8:47 / 10:36 23 ab 12:36 / 24 ab 20:06

Bruckner Adagio 2

25 ab 28:51 (Ende 30:38)

Bruckner Adagio 3

Formschema??? Sonatenform??? Rondo??? Was habe ich denn davon!? Zu wissen, in welcher „Abtheilung“ ich mich befinde? Deutlicher als Bruckner in diesem Adagio kann man ja die Bereiche gar nicht aufeinanderfolgen lassen, bzw. durch Zäsuren gliedern. Man braucht keine Hörhilfen, um die Übersicht zu wahren. Und der obige Text, den Max Auer am Geschehen entlang geschrieben hat, ist inhaltlich an Peinlichkeit nicht zu überbieten und animiert nur zum offenen Widerstand. Aber ist der strenge (?) „musikanalytische“ Weg zu Bruckners Gott auch nur einen Deut akzeptabler?

Am besten, man lauscht der Musik so offen wie möglich, wie ein kluges Kind.

(Hat Bruckner zum Adagio der Achten, das natürlich auch nur mit dem Allerhöchsten in Verbindung gebracht wurde, nicht den Wink gegeben: „da habe ich wohl zu tief in ein Mädchenauge geblickt“…? Als metaphysischer Hinweis eigentlich unbezahlbar.)