Mendelssohn: der Schrei

Der Schrei (Edvard Munch)

Mendelssohn op 80 Schrei

„Der Schrei“, das Bild von Edvard Munch, hat natürlich nichts mit Mendelssohn Bartholdy zu tun, sondern entstand mehr als ein halbes Jahrhundert später. Aber das Urbild des Schreies, des existentiellen Schreies, ist wahrscheinlich der, den Jesus am Kreuz ausstieß, und es war nicht nur einer, da es heißt: Aber Jesus schrie abermals laut und verschied . (Matthäus 27:50-57)

Der junge Mendelssohn war es, der die Matthäus-Passion von Bach 1829 (mehr als 100 Jahre nach der Entstehung) zum ersten Mal wieder aufführte, und er kannte die Tonsprache Bachs besser als die meisten anderen Komponisten seiner Zeit. Ob er beim fp-Tremolo-Einsatz des Cellos zu Beginn des Streichquartetts op.80 an Bachs „Und die Erde erbebete“ gedacht hat?  Als er das letzte Werk konzipierte, das er noch vollenden konnte, 1847 – nach dem plötzlichen Tod seiner Schwester -, hat er es vielleicht mit seiner Erschütterung durch die Musik Bachs in Verbindung gebracht. (Seine Schwester hatte schon mit 12 Jahren das „Wohltemperierte Klavier“ auswendig gespielt.) Er war dem Motiv des Wehe-Schreies oft begegnet. Auch ganz unvermittelt, innerhalb eines Klavierwerkes oder einer Sonate für Violine Solo. Oder in einer Bach-Motette.

1Bach Kantate 102 „Weh! der Seele“ Kantate 102,3 Adagio

2Bach WTC II Fuge c-moll Wohltemperiertes Cl. II Fuge c-moll

3Bach Sonata III BWV 1005 Bach Sonata III Viol.Solo C-dur BWV 1005

4Bach Motette Erd und Abgrund Motette „Jesu, meine Freude“ Vers 3

5Bach Orgel h-moll-Einwurf Orgel Praeludium h-moll BWV 544

(Anmerkungen folgen)

Und wie geht’s weiter? Natürlich mit dem ganzen ersten Satz des Streichquartetts op. 80 von Felix Mendelssohn-Bartholdy, am besten in der ebenso ungestümen wie ausgefeilten Interpretation des Dudok Kwartets, 7:12, alles andere später.

Lesen und fortführen: a) Wikipedia hier b) „Requiem für Fanny“ hier

I. Allegro vivace assai 0:07 II. Allegro assai 7:34 III. Adagio 12:27 IV. Finale: Allegro molto 20:32

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Für meine Quartett-Kollegen Hanns-Heinz Odenthal, Klaus Naumann, Thomas Blees. Probe am Do 12. Mai 2016

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Seltsamer Eindruck während und nach der Probe: dass ich das Werk als solches überschätzt habe. Dass es ein Maß an Willkürlichkeiten enthält, die ich mir nicht schönreden kann. Vielleicht ist mir das dank des hohen Tempos und der verrückten Intensität der Dudok-Interpretation entgangen. Vielleicht irre ich jetzt. Im langsamen Satz glaube ich zu bemerken, dass der Komponist sich an dem Vorbild der ihm gewidmeten Schumann-Quartette orientiert: ihm ist zu Bewusstsein gekommen, dass er die Konvention fahren lassen und in jedem Moment originell sein muss. Vielleicht ist es nicht richtig, seine ungewöhnliche Verfahrensweise in diesem Werk allein mit der Schockerfahrung von Fannys Tod in Verbindung zu bringen. Vielleicht gab es darüberhinaus das krisenhafte Innewerden einer schöpferischen Sackgasse? Seine große Stärke, die weit tragende, wohl disponierte Dehnung einer Melodie, ist ihm selbst im Adagio suspekt, das sich in bestimmten rührenden Motiven verliert. (Man vergleiche die Funktion des punktierten Rhythmus mit dem in Schumanns op. 41 Nr.3, wo die Zeit magisch stillzustehen scheint.)