Kleinigkeiten zu Bach

Die wunderbare (verwundbare) Symmetrie

Es ist Zeit, mal wieder Bach zu bewundern: lassen Sie doch das schöne Menuett aus der E-dur-Partita BWV 1006 mal wieder in Ruhe an sich vorüberziehen, singen Sie es innerlich durch. Ich habe es extra noch nach Takt-Gruppen geordnet umgeschrieben. Sie sehen, wie in Takt 27 der Anfang wiederkehrt, Sie erkennen den gleichmäßigen 4-taktigen Periodenbau, und die Achtel ab Takt 29 können Sie leicht gedanklich umkomponieren, so dass sie den A-Teil von oben – statt ihn in einen Halbschluss zu führen – alternativ und doch ähnlich zuendebringen.

Merken Sie, wie Ihnen die Symmetrie gut tut? Oben 2 Zeilen A-Teil, unten 2 Zeilen Wiederkehr, in der Mitte 4 Zeilen B-Teil.

Ich erinnere mich gut, wie ich diese Partita studiert habe, gleichzeitig mit meinem Freund Klaus Giersch; ich trug mir seine Fingersätze und Auf- und Abstriche sorgfältig ein, weil er sie bereits von unserm Lehrer Franzjosef authentisch übernommen hatte. Da es sich hier um 2 Menuette hintereinander handelt, fragte ich aus irgendeinem Grund noch schriftlich nach, ob wir das erste Menuett nach dem zweiten als Dacapo (und dann ohne interne Wiederholungen) noch einmal spielen sollen. Ich wollte nicht der Dumme sein, falls das stilistisch selbstverständlich ist; irgendwo in einer Orchestersuite war das wohl schon mal vorgekommen, jedoch – die flapsige Antwort war: „wennste willst“… Klar, ad libitum. Ich erwähne das nur, weil über wirklich Wichtiges im Wechselverhältnis dieser beiden Menuette dabei gerade nicht gesprochen wurde. Das war typisch für Geiger, sie kümmern sich um Fingersatz und Phrasierung aller Stücke: aber um sie wirklich zu „studieren“, muss man sie nicht unbedingt analysiert und verstanden haben. Dachte man insgeheim. Man kennt sie ja, man kann sie sogar schon auswendig. – Vielleicht sollte man sich aber einmal produktiv verunsichern und sie anders lesen. Hier ist unsere heutige Übung.

Ich weiß, dass es einen Stolperstein im Ablauf gibt; er wurde von mir listigerweise eingebaut. Der Zweck heiligt die Mittel…  Falls Sie einige Zeit investieren mussten, um ihn zu entdecken, bitte ich um Vergebung. Meine Absicht war, die Attraktivität der Symmetrie auf uns wirken zu lassen, man trennt sich schwer von der Vorstellung, dass gerade dieser wohlgefällige Eindruck unser kritisches Vermögen aushebelt. Es dauert nicht lange, bis man dann sagt, die Form solcher Tänzchen sei doch recht simpel.

Aber schauen Sie nur in der vierten Zeile auf die Takte zwischen 14 und 17! Sie haben vielleicht das Notenbeispiel gar nicht angeklickt, um die Taktzahlen leichter lesen zu können??? Bitte schön.

*    *    *

Und nun die eigentliche Arbeit: Bach im Original. Es ist gar nicht so leicht, den Stolperstein zu identifizieren, es handelt sich um eine Dehnung, fast eine motivische Wiederholung, um ein Viertel verschoben. (Kleiner Scherz: Die Stufe, die man erwartet hat, ist gar nicht da…)

vgl. mit dem Orig. unten (!)

Darauf, den Vorgang so unmäßig zu verdeutlichen, kam ich durch die relativ neue Monographie von Moosbauer, deren Analyse mich nicht zufriedenstellte, obwohl sie in den Details korrekt ist.  Ohne eine solche Analyse analysieren zu wollen, gebe ich sie hier wieder; allein das Unbehagen könnte schon zu musikalischeren Ideen führen.

-pen bestehenden Figurationen den Weg. Kombiniert mit einer kurzen Wiederaufnahme der beiden Anfangstakte zu Beginn der zweiten Gruppe endet der Satz. (Seite 169)

Quelle Bernhard Moosbauer: Johann Sebastian Bach: Sonaten und Partiten für Violine Solo / Bärenreiter Werkeinführungen / Kassel 2015 / ISBN 978-3-7618-2220-3

Was mich stört, ist das bloß Buchhaltērische einer solchen Beschreibung. Schon der Hinweis, dass Bach „auf das Mittel des zur Differenzierung gebrauchten Wechsels des Tongeschlechtes beim zweiten Teil eines Paares gleichnamiger Tänze verzichtet“, regt mich auf. Niemand weiß, worauf Bach verzichtet, wenn er das schreibt, was er schreibt. Und erst recht verwendet er keine „Bausteine“, um dann irgendwelchen Figurationen einen Weg zu bereiten. „Kombiniert mit einer kurzen Wiederaufnahme der beiden Anfangstakte zu Beginn der zweiten Gruppe endet der Satz.“

Ist von lebendiger Musik die Rede? Daran gibt es jedenfalls keinen Zweifel, wenn ein wirklicher Analytiker sich ihr zuwendet, – der die notwendigen „Formalitäten“ schnell hinter sich bringt und freilich eines genauen Lesens bedarf („Stau in Takt 12“):

Gewiss gibt es auch hier strittige psychologisierende Deutungen – „faßbare Größenordnungen, die aber vom Sog linearer Energie immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden“, „ein Einsprengsel, wie eine flüchtige Erinnerung formaler Deutlichkeit zuliebe, damit das Menuett nicht haltlos verströmt“ -, aber das ist wunderbar gesagt und verleitet vielleicht zu einem leisen Widerspruch, der in die Musik zurückführt.

Quelle Clemens Kühn: Formenlehre der Musik / dtv Bärenreiter Kassel 1987 / ISBN 3-423-04460-8 (Zitat Seite 54)

Bei Moosbauer, der offenbar seinen Kühn auch gelesen hat, führt leider selten eine Formulierung begeisternd in die Musik zurück. Wie etwa dort, wo Kühn die Formenwelt der Suite beschreibt, darunter die Doppel-Fassungen bestimmter Sätze:

»In der Art der Musette« ist diese zweite Gavotte komponiert. Gern werden Tänzen solche (oft kontrastierenden) Alternativsätze beigegeben (»Bourreé II«, »Menuet II«): formales Vorbild für das spätere Menuett-Trio (= »Alternativsatz«) der klassischen Symphonie (…). Eine andere Fassung desselben Tanzes meinen dagegen die Agréments – ausdruckssteigernde, wie improvisiert wirkende Verzierungen – und das Double. In Bachs h-moll-Partita für Violine solo löst es das ruhige Schreiten des Sarabande in rastlose Motorik auf:

Quelle Clemens Kühn a.a.O. Seite 123 f

Hat sie sich wirklich vom Tanz so weit entfernt?

Die Bourrée, von der eben die Rede war, hier (extern) in der Interpretation von Johannes Moser:

Grundlagen jeder Musik: Bewegung und Gleichgewicht (nach Clemens Kühn)

Zur Idee der Bewegung gehören die Begriffe „Fortspinnung“ und „Sequenz“: Sie knüpfen an den Themenkopf an.

Die Fortspinnung treibt weiter. Aber das geschieht leicht, mehr assoziativ als zielstrebig. In aller Regel unterstützen Sequenzen die lockere Fortführung. (…)

Nicht Symmetrie bestimmt den Fortspinnungstypus, sondern fließendes Weitertreiben, nicht inhaltliche Entsprechung zweier Hälften, sondern motivische Ausspinnung in den drei Teilen, nicht entgegengestellter Kontrast, sondern ungehinderte motivische Energuie: Fortspinnung meint Bewegung  statt Gleichgewicht.

(Kühn a.a.O. Seite 44 f)

Die Gestaltung musikalischer Form verdankt der Tanzmusik Grundlegendes: das Taktprinzip selbst wie auch die Unterscheidung »schwerer« und »leichter« Takte, analog dem schwer-leicht der Tanzschritte; motivisch-rhythmische Symmetrie und die gleichgewichtige Entsprechung von Taktgruppen, analog der Symmetrie der Tanzfiguren. Im periodischen Gestalten der Klassik (…) schlägt sich das am nachdrücklichsten nieder; ob hier allerdings die Abfolge »schwer-leicht« oder umgekehrt »leicht-schwer« das metrische Verhältnis von Takten regelt, ist strittig – und dürfte sich auch einer abstrakten Normierung entziehen.

(Kühn a.a.O. Seite 52)

Das Erlebnis der Symmetrie ist wunderbar, verlangt aber nicht nach endgültiger Fixierung; die Wahrnehmung der Aufhebung einer Symmetrie erscheint nicht als Zerstörung, sondern als Belebung.

P.S. (in Arbeit)

Ich hätte noch ein paar Kleinigkeiten in petto, die ich nie klein finde, wenn es um Bach geht. Die eine ist ganz einfach zu erledigen, obwohl sie bei Moosbacher recht umständlich behandelt wird. Zwei Schlangenlinien am Ende des Grave-Satzes der Sonata BWV 1003 a-moll. Auch er hat bei Greta Moens-Haenen nachgelesen, die allerhand Beispiele für geschlängelte Linien liefert, trifft dann aber wohl die falsche Entscheidung.

Ich will zwar nicht behaupten, dass die etwas unglücklich gezogene Bindung über der dritten, langen Zweiunddreißigstelkette einen anderen Grund hat als Platzmangel. Denkbar wäre es immerhin, dass das bindende Element in Frage gestellt wird, woraus der Gedanke des Bogenvibratos nach vorne tritt: die Viertelnote des Sextintervalls f’/d“ löst sich auf in 8 „staccatierte“ Zweiunddreißigstes und der Ton e“ als Triller-Beginn über dis“ schließt sich an, während, das f‘ zum fis‘ übergeht. Ziemlich absurd, dass sich dieser Übergang als Glissando vollziehen soll.  Die phrygische Sekunde vom f‘ zum e‘ wird ausgehebelt, indem das f‘ vorweg zum fis“ wird, was aber als harmonischer Fortgang denkbar ist (bei Bach auch sonst vorkommt), sogar als letzte Steigerung vor dem Einklang e’/e“.

Und der Fingersatz „unspielbarer“ vierstimmiger Akkorde, wo allen Ernstes die Hinzuziehung des Daumens erwogen wird, weil sowas irgendwo bei Bruhns schon mal vorkommt? Ebenfalls absurd.

Wo steht eigentlich geschrieben, dass man „alle Finger auf der Saite liegen lassen“ soll? Ohnehin muss man die Kunst des arpeggierten Akkordspielens erlernen, und man es so flexibel handhaben wir ein Cembalospieler. Und zwar von unten nach oben, von oben nach unten, auch „zurückbrechend“ auf die beiden Mittelsaiten wie in den Takten 22/23 dieses C-dur-Adagios. Und während man von unten nach oben bricht, findet man auch den rechten Moment, einen Finger der linken von der unteren Saite auf die höhere springen zu lassen. Also man spielt in Takt 158 (s.o.) auf den beiden unteren Saiten die Oktave a/a‘ mit den Fingern 1/3 als massiven Vorschlag und lässt auf den beiden höheren Saiten die Oktave c“/c“‘ mit 1/4-Griff aufjubeln. Man darf hören, dass es schwierig ist, denn etwas Großes ist in Arbeit, die große Kadenz in e-moll und der himmelstürmende Abschlussteil vor dem „al riverso“.

Aber was man dann als zweite Möglichkeit (s.o.) liest, ist – mit Verlaub gesagt – barer Unsinn. Mit Daumenaufsatz, umklammern Sie nur munter den Geigenhals und versuchen Sie nicht nur den Griff zu erzwingen, sondern ihn mal so zwischendurch einfließen zu lassen. Oder im nächsten Beispiel (s.u.): Greifen Sie mal g‘ auf der D-Saite und c“ auf der A-Saite – diesen 2. Finger schön senkrecht stellen, denn er darf die E-Saite nicht berühren, weil Sie noch das leere E dazugesellen wollen – so: gesetzt den Fall, Sie können diesen dreistimmigen Griff schon mal klangvoll spielen, jetzt bitte noch den Daumen aus der Gegenrichtung auf die G-Saite zu klemmen: man kann Sie nur beglückwünschen, wenn Sie über solche Schlangenfinger verfügen und diesen Griff einigermaßen locker aufgesetzt bekommen.  Locker? ja, Sie wollen ja auch noch weiterspielen…

Und was steht da jetzt von „Quintgriff“ — mit Verweis auf den Barré-Griff der Gitarristen? Mein Gott, man sollte womöglich einen der verfügbaren Finger auch noch flach über die Saiten legen, und vielleicht gerade den, der senkrecht stehen soll, damit er die leere E-Saite nicht tangiert — jaja, da gibt es „erschwerende“ Aspekte. Aber zwei Wochen Kerkerhaft wären leichter zu absolvieren.