Kann man Kulturen vergleichen?

Ein Beispiel zur Musik in Indien und Europa

Ronald Kurt geht in seinem Buch (siehe hier) von Max Webers Entwurf aus  und schreibt:

Immerhin, mit der Trias ‚Schriftlichkeit, Mehrstimmigkeit, Komposition‘ hatte Weber einen kategorischen Bezugsrahmen bereitgestellt, mit dem sich die abendländische Kunstmusik kultursoziologisch in den Blick nehmen ließ. Durch die Brille dieser (aus der eigenen Kultur für die eigene Kultur entwickelten) Begriffe nach Indien zu blicken, würde aber bedeuten, das Fremde in der Optik des Eigenen zu sehen. Um nicht gezielt am Anderen der indischen Kunstmusik vorbeizusehen, mussten angemessenere Begriffe her. Einerseits; andererseits erforderte die Logik des Vergleichens, dass die Begriffe für die indische Musik zu den von Weber gewählten Begriffen passen mussten. Nach der Lektüre der einschlägigen Fachliteratur, insbesondere Daniélous Einführung in die indische Musik (1982), Bagchees Buch Nād. Understanding Rāga Music (1998) und dem Indienartikel in Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG 1996) kristallisierten sich die Begriffe ‚Mündlichkeit‘, ‚Improvisation‘ und ‚Einstimmigkeit‘ als Kernbegriffe für die Charakterisierung der klassischen indischen Musik heraus. In diesem Sinne fasst auch Ravi Shankar die Hauptmerkmae der klassischen indischen Musik zusammen. In einem Radiointerview mit Radio France Internationale vom 16.02.1998, auf das ich bei Recherchen im Archiv von All India Radio in New Delhi stieß, sagte er: „Our music has been always a oral tradition, it is not a written down music […] and the performance of a raga is all improvisation, nothing is fixed […] we don’t use harmona or structured composed music like in the west“. Der Stimme des weltweit wohl bekanntesten indischen Musikers folgend, entschied ich mich dann für die Konstruktion von Begriffsdichotomien und spannte den Vergleich der Musikkulturen Indiens und Europas in die folgenden Gegensatzpaare ein:

Indien - Europa

Ich weiß nicht, warum Ronald Kurt hier ein Interview bemüht, das Ravi Shankar für ein westliches Medium gegeben hat. Mir scheint, dass der indische Meister situationsbedingt oder aus rein pädagogischen Gründen die Sache absurd vereinfacht. In seinem 30 Jahre früher erschienenen Buch „My Music, My Life“ (New York 1968) gibt er jedenfalls eine weit differenziertere Darstellung, die zu anderen Folgerungen zwingen würde. Und auch Daniélou hat in seiner „Einführung in die indische Musik“ (1975) Formulierungen gewählt, die sich kaum in das obige Schema fügen:

Nicht die melodische Folge der Töne ist wichtig, sondern die Gesamtheit aller Töne. Dies erklärt, weshalb die modale Musik bei ihrer Ausführung improvisiert werden kann. Das Bewußtsein des Musikers ist auf das Gebäude als Ganzes gerichtet, auf eine vertikale Struktur. (S.17)

Einerseits wieder eine fragwürdige Aussage über das Improvisieren, andererseits der wichtige Hinweis auf die vertikale Komponente der indischen Musik.

Mit Blick auf das Schema könnte ich fragen, ob mit der Mündlichkeit in Indien nun grundsätzlich etwas Nicht-Fixiertes gemeint sein soll, und ob die Schriftlichkeit im Westen eigentlich einer abweichenden, improvisatorisch erweiterten Interpretation wirklich entgegensteht. In jeder mündlichen Überlieferung gibt es doch durchaus fixierte (unantastbare) Gebilde: in der südindischen Tradition kennt man eindeutig melodisch-rhythmische Kompositionen, deren tongenaue Wiedergabe von allen Kennern streng überwacht wird. Die Werke bestimmter Komponisten um 1800 gelten bis heute als sakrosankt. Es gibt in Süd und Nord zahllose Trommel-Kompositionen, die zwar nur im Gedächtnis der Interpreten „aufgezeichnet“ sind, jedoch dergestalt verfügbar, dass sie z.B. als Geschenk weitergegeben werden können. Auch jeder nordindische Künstler kennt eine riesige Anzahl eigener und fremder „Compositions“, Melodiegebilde, die refrainartig wiederkehrend das Rückgrat seiner Konzertvorträge bilden.

Wenn etwa Joh. Seb. Bachs zweistimmige Inventionen einen hohen Grad entwickelter „Mehrstimmigkeit“ realisieren, darf man ein raffiniertes Wechselspiel zwischen Sitar-Melismen und Tabla-Rhythmen keineswegs als Beispiel für „Einstimmigkeit“ subsumieren. Die indische Improvisation ist einerseits nicht zu leugnen, andererseits wieder in vielen Details so streng determiniert, dass man dafür einen neuen Ausdruck wählen müsste, um nicht eine Freiheit vorzugaukeln, die dort fast ebensowenig besteht wie in Europa beim Vortrag einer Beethoven-Sonate. (Übrigens soll diese klingen, als werde sie gerade geschaffen, – und nicht wie ein Schrift-Stück.)

Ein wichtiger Punkt wäre, dass die westliche Kunstmusik im künstlich eingehegten Raum entstand bzw. geschaffen wurde (Kloster und Kirche), während Volksmusik nicht etwa aufhörte zu existieren, soziologisch jedoch vollständig ausgegliedert wurde. Die indische Raga-Musik (zweifellos Kunst-Musik) kann von sich behaupten, dass sie zu 100 % auf Volksmusik basiere (Madhup Mudgal im Interview 15.04.1995); Wechselwirkungen sind also strukturell nicht ausgeschlossen.

Um es zuzuspitzen könnte man sagen: die westliche Musik ist der exotische Sonderfall, die indische Musik der Normalfall. Indische Musik kann man lernen, indem man bei Null anfängt, beim Grundton(-Klang); westliche Musik kann man nur lernen, indem man einen Teil der gesamten Musikgeschichte durchwandert, also wenigstens von 1600 bis 1900. (Man fängt nicht bei Null an, sondern mit der Kadenz, der Harmoniefolge I – IV – V – I.) Wer es kürzer haben will, halte sich an Max Regers Leitsatz „B-a-c h ist Anfang und Ende der Musik“ und beginne mit den ersten 4 Takten des Wohltemperierten Claviers.

Übrigens habe ich Bauchschmerzen bei allen allgemeinen Ausführungen zur Musik in Indien und Europa, würde aber selbst sogleich mit den Details beginnen: die Behandlung (Aussparung) des Grundtons im indischen Raga Marva und die Bedeutung des „Neapolitaners“ in der westlichen Harmonielehre. Und  so meldet sich Widerspruch, wenn ich bei Ronald Kurt auf Allgemeinheiten über Bach stoße, etwa Seite 36 – „Kunst der Fuge“ als Abschiedswerk (?), keinesfalls, man lese bei Peter Schleuning oder Christoph Wolff nach – , über Beethoven und das Subjektive als das „Allgemein-Menschliche“ (Seite 37). Oder bei dem Begriff der „Mimesis“, dessen Bedeutungsbreite auf das bloße Nachahmen im Schüler-Lehrer-Verhältnis reduziert wird, das in Indien extrem ausgeprägt sei.  „Die Bereitschaft zur Mimesis fungiert dabei als Bedingung für die Möglichkeit, dem Unterscheiden die Ich-Grundlage zu entziehen.“ (Seite 120) Und schon sind wir im Philosophisch-Allgemeinen. Hervorzuheben wäre dagegen, dass der Unterricht bei einem Meister auch im Westen unabdingbar ist und nicht halbherzig vonstatten geht. Schüler, die dem Lehrer ständig ihr unerfahrenes Ich und ihre eigene kleine Meinung entgegensetzen, sind auch im Westen hoffnungslose Fälle. Die Unterordnung unter den Komponisten ist ohnehin allererstes Gebot. Wer dagegenhält mit „Aber ich fühle es anders!“ ist auch bei uns ein Dummkopf. Der Geist des Werkes ist bei uns traditionellerweise genau so hoch angesiedelt wie in Indien der Geist des Ragas. (Ein Unterschied besteht in der religiösen Anbindung, die in Bachs Zeit allerdings noch betont wurde; wenn sie fehlte, hörte er nichts als  „ein teuflisch Geplärr und Geleyer“. In der Tat: das sieht man heute anders.)

Der Begriff der Mimesis (Ronald Kurt Seite 121) wird also als „nachahmende Handlung“ viel zu eng gesehen. Er wäre zu klären vor dem Hintergrund so heterogener Anwendungen wie in Berthold Auerbachs Buch zu Mimesis oder in der musikalischen Interpretationslehre von Adorno bis Jürgen Uhde und Renate Wieland:

Uhde Mimesis etc Uhde Mimesis b

Quelle Renate Wieland / Jürgen Uhde: Forschendes Üben. Wege instrumentalen Lernens. Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik. / Bärenreiter Kassel etc. 2002

Man sage nicht: das sei ja der ganze Schrecken einer umfassenden Interpretationslehre. Die Übermittlung der Mimesis zwischen Lehrer und Schüler in diesem Sinn, die verbal ausformuliert unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen würde, kann aber im direkten Unterricht durchaus wortlos geschehen. Das Stück liegt im Schriftbild vor ihnen auf dem Notenpult und wird in gemeinsamer Arbeit in Geste und Geist verwandelt. Fast wie in Indien – dort allerdings ohne Schriftbild.

P.S.

Übrigens ist meine Behandlung der Arbeit von Ronald Kurt nicht als grundsätzliche Kritik zu verstehen. Das Buch ist sehr aufschlussreich und in vieler Hinsicht empfehlenswert, es gibt nichts Vergleichbares! Und wenn ich einzelnes herausgreife, um es auf meine Weise zu untersuchen, so bin ich zugleich dankbar dafür, dass es mich aktiviert und herausfordert, – vielleicht vertraue ich zu sehr auf meine musikalische Intuition und misstraue unnötigerweise einem methodischen Ansatz, den ich nicht ganz angemessen finde. Wobei ich vor allem dann kritisch reagiere, wenn ich unsere eigene Musik allzu pauschal behandelt sehe. Das beginnt schon bei Max Weber, dessen Konzept der Rationalisierung letztlich auf einer Verabsolutierung und Idealisierung der abendländischen Harmonik beruht.