Fragen an Beethoven

Eine Übung

Es ist eigentlich Leonidas Kavakos, der mich mit seinen mustergültigen Interpretationen der Beethoven-Violinsonaten darauf brachte, dass mir zwei davon lebenslang fast unbekannt geblieben sind. Obwohl ich sie in meiner Studienzeit mehr als einmal gehört, allerdings nie selbst gespielt habe, auch nie den Drang dazu gespürt habe. Im Gegenteil, ich habe sie gemieden, und das war dumm: Die Sonate Nr. 6 A-dur op. 30, 1 und die Sonate Nr. 10 G-dur op. 96.

Merkwürdigerweise sieht Kavakos in seiner verbalen Einführung gerade diese beiden Sonaten innerlich verbunden. Es ist alles sehr hörenswert, was er sagt, aber man gehe auf youtube direkt an die Stelle, die der Sonate Nr. 6 gewidmet ist: HIER – ab 10:36 bis 14:51.

Leider findet man man von dieser Sonate nur den 2. und 3. Satz in der Interpretation mit Leonidas Kavakos und Enrico Pace auf youtube. Ich nehme aber gern vorlieb mit der alten Oistrach-Aufnahme HIER. Man kann auch die Einzelsätze anklicken, was später ganz nützlich ist, wenn man Kavakos wirklich an einem der größten Violinisten der Geschichte messen möchte.

Der zweite Satz mit Kavakos: HIER,
und der dritte: HIER.

Es ist sehr merkwürdig: man muss bei dieser Sonate ehrlicherweise über etwas reden, was sie unattraktiv macht! Und das tut Kavakos auf beachtliche Weise. Er sagt, dass sie keine wirkliche Melodie hat, kein wirkliches „Statement“. (Er spielt sie an: sachlich, non espressivo, setzt das Thema der Frühlingssonate dagegen.)  Es ist eher wie eine Kontemplation. Das sei wie in der Sonate 10, die beginnt wie eine „Unanswered Question“ (Ives), kontemplative Atmosphäre, – Kavakos lässt einen mit fragmentierten Sätzen spüren, dass es schwer zu sagen ist: es ist auch in der Sonate nicht klar, „dies ist das Statement, dies ist die Verarbeitung“ – gewiss, alles ist da (er springt an den Schluss, den er spielt, indem er mimisch zeigt, wie es da offen bleibt: „ist es eine Antwort, ist es eine Frage? Niemand kann es sagen.“) Und dann sagt er: das sei irgendwie magisch, dass Beethoven den ersten Satz beendet auf eine (unspektakuläre) Weise, ja … okay … lasst uns sehen, wie das läuft… und dann kommt der langsame Satz, der zusammen mit dem der Frühlingssonate zu den melodischsten Sätzen Beethovens gehört. Es ist dies Moment der Ruhe, des Nicht-Vorwärtsdrängens, diese höhere Macht („superior power“). Relaxation. A moment of calmness. (Gelassenheit!) Das sind seltene Momente in der Musik! Und wenn das kommt …, dann ist das von machtvoller Wirkung. Den letzten Satz (die Variationen!) nennt Kavakos ein „Rondo“, und das ist kein Lapsus linguae, auch die Interpretation, die ich gleich zitieren werde, spricht über „Rondo-Momente“: Da heißt es: „Gleich die erste Variation läßt eher auf eine kontrastierende Episode [wie in einem Rondo] als auf eine motivisch-thematische Veränderung schließen.“ Es ist fast, als habe Kavakos diese Ausführungen gelesen: Peter Ackermann in: „Beethoven. Interpretationen seiner Werke“ / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996 / Bd. I S. 242 ff. Und hier wird auch daran erinnert, dass der ursprünglich vorgesehene Finalsatz des Werkes — in die Kreutzer-Sonate gewandert ist.

Doch deutet sich in der Substituierung des Finales zugleich ein Problem der kompositorischen Integrität des Werks an. Nicht auf die zyklische Striktur insgesamt, sondern auf Details der inneren musikalischen Logik bezogen sieht Alexander Wheelock Thayer markante Schwächen der A-Dur-Sonate. Im Vergleich mit den beiden anderen aus op. 30 stünde sie an „natürlichem Fluß, an zwingender Notwendigkeit der Entwicklung entschieden zurück. Der erste Satz zerbröckelt in zu viele gegen einander abgeschlossene kleine Sätzchen und läßt mehrfach die modulatorischen Einschiebsel, welche die Tonartordnung erfordert, unliebsam hervor treten […]. Trotz aller aufgewandten Kunst und alles fein empfundenen Detail (sic!) bleibt der Gesamteindruck der eines mosaikartigen Zusammensetzens der ganzen Sonate.“

Zur schnellen Orientierung ein Link zum (historischen) Notentext: HIER.

Dann kommt der Kommentator auf den wesentlichen Punkt (den er eher als gattungsgeschichtliche Notwendigkeit der Violin-Klavier-Sonate behandelt): die Polyphonie.

Daß die A-Dur-Sonate, den von Thayer attestierten Schwächen zum Trotz, einen entscheidenden Schritt in dem gattungsgeschichtlichen Prozeß von der Klaviersonate mit Violinbegleitung zur Sonate für zwei gleichberechtigte Instrumente darstellt, tritt an einem zentralen Merkmal zutage. Das Hauptsatzthema des ersten Satzes ist in diesem Sinne geradezu programmatisch. Drei zwischen Klavier und Geige polyphon verflochtene Linien heben die satztechnische Unterscheidung in Haupt- und Nebenstimme, in Melodie und Begleitung auf, Polyphonie selbst wird zum Signum des integralen Zusammengehens der beteiligten Instrumente.

Es ist durchaus möglich, dass Beethoven die heimliche politische Botschaft der gleichberechtigten Stimmen assoziierte und in der emanzipatorischen Tendenz dieser Jahre seinen entscheidenden Fortschritt sah. So wäre es kein Zufall, dass er gerade dieses dreigeteilte Opus, mit dieser Sonate als Auftakt, dem neuen König von Russland widmete, Alexander I., der für seine aufklärerische Haltung (seine Erziehung nach den Prinzipien Rousseaus) bekannt war.

(Fortsetzung folgt)