Endzeitlyrik

Largo e mesto

oder

Dämonen auf leerer Bühne

Was soll man noch sagen, wenn jemand deutlicher als alle anderen ein Menetekel an der Wand sieht und es ihnen dann so eindringlich mitteilt, dass sie es schließlich auch entziffern können, obwohl sie gar nicht an der Tafel saßen?

Grigory Sokolov ist ein großer Pianist, vielleicht einer der größten, aber muss ich deshalb noch über ihn hinausgehen, um seiner würdig zu sein? Er hat das „Largo e mesto“ so endzeitlich gespielt, dass er eigentlich auf der Bühne das Zeitliche hätte segnen müssen. Ich hätte es gern an seiner Stelle getan, aber ich wollte ihn doch noch fragen, wieso er ungerührt weiterspielen konnte.

Solche Übertreibungen sind ein bekanntes Stilmittel. Manch einer hat schon in der Konzertpause die Zeitgenossen beschämt, indem er beredt die eigene Sprachlosigkeit erläuterte. „Der Rest ist Schweigen“, so sagt oder fordert ein empfindungsstarkes Klischee, das vorgibt, über die Musik … schon weit hinaus … gewesen sein … zu wollen.

Maestro, stammle ich, nach Beethovens Largo e mesto, wie Sie es spielen, als Weltabgeschiedenheitsgesang und Untotentanz und letzte Zuckung eines per aspera ad astra, wird doch nichts mehr sein, kann doch nichts mehr kommen, kein Menuett, kein Rondo, keine Sonate, keine Pause und erst recht kein Schubert und keine Chopin-Mazurka als Zugabe, und wenn doch, dann ist nichts mehr heil, sondern alles beschädigt und verbeult, was meinen Sie? Sokolow atmet tief, die altmodische Brille,die über seiner Brust hängt, tänzelt: „Aber es ist alles auch eine Fortsetzung. Die Musik, wissen Sie, hört niemals auf. Sie bleibt, sie ist immer da.“ Sätze wie sanfte Keulen, der Mann hat mich durchschaut und die Situation dazu. Keine Frage will recht verfangen, wie auch, nicht die nach den Dämonen auf leerer, dunkler Bühne, nicht die nach der Angst, dass der Mythos des Verweigerers und Andersmachers, der ihn so frei macht und so hoch trägt, eines nahen Tages zur Ware werden könnte, zum Selbstläufer und einforderbaren Gut.

Nur zum Schein gesteht man ihm zu, uns durchschaut zu haben und die Situation dazu. Denn gleich erklärt man auch schon, wohin das führt, dieses Andersmachenwollen, das eben auch nur den Betrieb bestätigt: es könnte gar zu einem Selbstläufer werden, zu einem einklagbaren Gut? Vorsicht, auch ich – in aller Bescheidenheit – halte noch Waffen im Anschlag:

Sokolov panzert sich, und er weiß, warum: hinter der Bühne mit Freundlichkeit, auf der Bühne mit mürrischer Manier. Der Hamburger Abend mag nicht einmal der inspirierteste gewesen sein, gerade bei Schubert, in den moments musicaux, stand die Erforschung des Materials doch arg im Vordergrund, von der 360-Grad-Perspektive auf einzelne Motivsprengsel bis ins Ächzen der Klavierfilze hinein. Am Ende bleibt trotzdem die Musik.

Vorbei also die Endzeitlyrik, das Ächzen der Klavierfilze, es ist Zeit für die Schlussapotheose:

Wie Sokolov in den Chopin-Mazurken Abgründe grollen lässt, mit rabenschwarzen Ostinati, und wie diese sich langsam lichten, zum Herzschlag werden und Lebenspuls, ohne dass die Melodie darüber etwas von ihrer Gefährdung einbüßte, von ihrem elegischen Bewusstsein, das ist große, atemberaubende Kunst. Dabei sollten wir es getrost belassen.

Ja, und wenn er das wirklich so gesagt hat – „Aber es ist alles auch eine Fortsetzung. Die Musik, wissen Sie, hört niemals auf. Sie bleibt, sie ist immer da“ -, das ist gut, damit kann ich wirklich leben. Aber keine Kritiken schreiben. Da brauche ich Höhen und Tiefen. Sonst denkt der Laie, es habe mir vor lauter Musik die Sprache verschlagen.

Quelle der (eingerückten) Zitate: DIE ZEIT 16. April 2015 Seite 55 „Die Musik hört niemals auf“ Er gilt als der bedeutendste Pianist der Welt. Interviews gibt Grigory Sokolov keine. Wir haben ihn jetzt in Hamburg getroffen – ganz konspirativ. Von Christine Lemke-Matwey.

Schon meine älteste Beethoven-Ausgabe („nouvelle“ vor 1850) zeigt auf dem Titelblatt: Poesie geht über alles.

Beethoven älteste - Mondschein

Beethoven älteste

Eine Ausflucht: der Link mit Grigory Sokolov, hier spielt er die Beethoven-Sonate op. 10 Nr. 3 (Adagio e mesto ab 10:10) als Achtzehnjähriger. Der nächste Konzerttermin des Pianisten (* 18.4.1950) –  mit diesem Werk – findet offenbar an seinem Geburtstag statt, und zwar in Genua (18.4.), danach in Berlin (20.4) und Heidelberg (22.4.). Siehe auch HIER.