Endlich… (ein Selfie-Rätsel, halbgelöst)

Endlich fügt es sich, dass Freund Klaus G. mir – direkt aus der Thomaskirche in Leipzig – ein Original-Selfie mit Bachs Fugen schickt. Kein Wort zu den Blutstropfen, auf die er verwies, die aber möglicherweise nicht echt sind, während die Füße, wohlbeschuht, durchaus die des Meisters sein könnten, der die Pedale mit Füßen so schnell bediente wie andere nicht mit Fingern die Tasten!

Bachs Fugen

Dem realen Freund zu Ehren ergänze ich die Mär durch den Hinweis auf eine namenlose Pflanze, zuweilen irreführend „Unkraut“ genannt; der lateinische Name könnte vorwitzig auf das obige Foto bezogen werden (Aegopodium), deutet jedoch zugleich auf eine heilende Wirkung (podagraria), die gern der Musik zugeschrieben wird und dem heutigen Träger des Namens (und der Schuhe) durchaus zu wünschen wäre.

Namenlose Pflanze

Als psychologische Hilfe könnte ein Face Fake Selfie aus dem 20. Jahrhundert aufgefasst werden, das lange Zeit dem Thomaskantor selbst zugeschrieben wurde.

Bach Fake

Was mir aber an besonders unpassender Stelle zu denken gibt, nämlich bei der allabendlichen Lektüre in Elizabeth Kolbert’s sehr ernstem Buch „Das 6. Sterben“: ich bin in einem Kapitel angekommen, in dem sie ein berühmtes Museum meiner Heimat besucht, – ich benutze das Wort Heimat mit aller Vorsicht -,  im Neandertal (heute ohne th) bei Düsseldorf. Und sie schreibt ganz korrekt:

Unmittelbar hinter dem Museumseingang steht ein Modell eines ältlichen, freundlich lächelnden Neandertalers, der sich auf einen Stock stützt. Er ähnelt einer ungepflegten Version des Baseballspielers Yogi Berra. Gleich daneben wartet die größte Attraktion des Museums: die sogenannte Morphing-Station. Für drei Euro können Besucher sich im Profil fotografieren und die Aufnahme anschließend bearbeiten lassen. In der bearbeiteten Version haben sie ein fliehendes Kinn, eine fliehende Stirn und einen wulstig vortretenden Hinterkopf. Kinder lieben es, sich – oder noch besser ihre Geschwister – in Neandertaler verwandelt zu sehen. Das finden sie zum Schreien komisch. (Seite 239)

Neandertala_homo,_modelo_en_Neand-muzeo Foto: Wikipedia

Jahrzehnte vor dieser Rekonstruktion hatte mir ein rheinisch-grobknochiger Musiker mal ganz unbefangen erzählt, in der Schulzeit sei es ihm auf Klassenfahrten oft passiert, wenn es am Neandertal vorüberging, dass die Mitschüler ihn ermunterten: „Müller-Lüdenscheid*, aussteigen!!!“ Er lachte, aber ich fühlte mich irgendwie unwohl. Jetzt fiel es mir wieder ein, und ich kann nicht leugnen, dass ich heute sofort nachgeschaut habe, wer denn dieser Yogi Berra ist oder war. Muss ich sein Incognito wahren? Sehe ich mich nicht selbst mit anderen Augen, wenn ich heute vor den Spiegel trete, – zumal es doch wenig später heißt:

Vor etwa vierzigtausend Jahren kamen moderne Menschen nach Europa, und sobald sie in einer Region auftauchten, verschwanden die dort lebenden Neandertaler, wie archäologische Funde belegen. Vielleicht wurden sie aktiv verfolgt oder einfach nur von der Konkurrenz aus dem Feld geschlagen. Jedenfalls passt ihr Niedergang in das bekannte Muster, wenngleich mit einem wesentlichen Unterschied: Bevor die Menschen die Neandertaler verdrängten, hatten sie Sex mit ihnen. Infolge dieser Kontakte sind die meisten heute lebenden Menschen zu einem geringen Teil – bis zu vier Prozent – Neandertaler. Nicht weit von der Morphing-Station entfernt gibt es ein T-Shirt zu kaufen, das dieses Erbe so weit wie möglich ausschlachtet: „Ich bin stolz, ein Neandertaler zu sein“, verkündet es in Großbuchstaben. Da mir das T-Shirt gefiel, kaufte ich eins für meinen Mann, aber vor Kurzem fiel mir auf, dass ich es kaum je an ihm gesehen habe. (Seite 241)

Ich spiele mit dem Gedanken, mir eine Kollektion dieser T-Shirts zuzulegen und sie bei bestimmten fremdenfeindlich getönten Demonstrationen kostenlos zu verteilen.

* Der Name wurde vom Zitator geändert.

Quelle der letzten Zitate: siehe HIER.