Der junge Specht

 Erkennt man schemenhaft da oben die Krähe?

Wir hatten sie in Verdacht, dem jungen Specht einen Schrecken eingejagt zu haben, das Tierchen flog dem Nachbarn gegen die Scheibe, und der fuhr mit dem leicht Betäubten in die Tierklinik, Diagnose „leichte Gehirnerschütterung“ (kann ich mir kaum vorstellen bei einem Specht!), gebrochen sei nichts, jedenfalls sei es besser, ihn zwei Tage im Käfig zu halten, damit er sich erholt. Beim Nachbarn konnte er nicht bleiben, der Katze wegen, die sich allzu interessiert zeigte. In größter Eile wurde ein alter Käfig beschafft, und ehe wir uns versahen, trank und fraß der Kleine bei uns, als ob er’s so gelernt habe, und schrie von morgens bis abends „tschäck! tschäck!“, schaute dabei unverwandt über den Balkonrand nach oben. Kaum vorstellbar, dass er schon fliegen konnte; manchmal schloss er die Augen und hing wie tot am Gitter. Was tun?

Am nächsten Tag mittags brachte ich den Käfig nach unten an den Terrassenrand. Wenn ich nun das Türchen öffne (er hat kaum Angst vor mir, flattert nicht kopflos gegen die Seitenwände), – wird er dann im Beet landen und flatternd durch die Kräuter und Dornen davontölpeln? Das täte uns weh! Quatsch. Alles ging so schnell, dass ich vergass, das Handy für Abschiedsfotos zu zücken. Er saß nur einen Moment in dem offenen Türchen, startete kraftvoll und flog zielbewusst in den höchsten Wipfel, der hinter dem schräggewachsenen Ast zu erkennen ist. Dort aber – kaum zu glauben – wurde er offenbar schon erwartet, „tschäck! tschäck!“ im Dialog, lauter als je in unserer gemeinsamen Zeit…

Die Begegnung dauerte vom 4. morgens bis zum 5. Juni mittags. Als ich einen Tag später in der Abenddämmerung draußen saß, in der Hoffnung, Fledermäuse zu sehen, beobachtete ich stattdessen Glühwürmchen.

Und heute (am 9.) turnten zwei Buntspechte an der Vivara-Futterstelle vorm Haus herum. Gern hätte ich gesehen, dass der eine den andern füttert, wie es bei den Meisen fortwährend zu beobachten ist. Diese süße Abhängigkeit hätte mir bedeutet, dass genau dieser zu Fütternde schon bei uns im Käfig gesessen hat…