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Bonn Beethoven WCCB

Das Beethoven-Orchester am neuen Ort

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Ich schreibe keine Kritik, nur ein „I was here“. Es hat uns sehr beeindruckt, der neue Ort, die Qualität des Orchesters, die unterschiedlichen Dirigenten, das Programm, oder genauer: für mich waren ausschlaggebend das Werk Asyla von Thomas Adès und die siebte Sibelius-Sinfonie, übrigens gerade im Rückblick, wenn auch vieles andere (die wunderschöne Klarinette im Kodaly, die Virtuosität der Streicher im Tschaikowski) hängenbleibt. Am Kodaly interessiert mich die Kindheitsgeschichte (der Marktflecken Galánta mit der Zigeunerkapelle) und die Farbigkeit dieses Orchesters. An dem Werk von Tschaikowski aber erstaunt mich, dass mir – abgesehen von der Ausführung –  einfach gar nichts gefällt, wie schon vor Jahrzehnten. Mag der Dirigent sich noch so sehr ins Zeug legen und sogar auswendig dirigieren. Es ist doch bloße Raserei. Selbst der sonst so geniale Melodiker, der weit ausholt, als beginne gleich die Stunde der unsterblichen Liebe, bietet nur eine schwache Minute, noch schwächer, da sie an Bach gemahnt.

Aber es ist ein Saal, in dem man jeder Musik gerne folgt, wie sie über die Bühne und in den Raum „wallt“, wie sie durchhörbar bleibt, auch wenn ein kompakter Blechbläsersatz aus dem Hintergrund herübertönt, etwa im Sibelius; wenn ein vielgestaltiger, feingewebter, aufgesplitterter Gesamtklang wie im Adés glitzert und oszilliert. Oder mit Techno-Schlag Monotonie vortäuscht. Es bleibt spannend im Irrenhaus!

Mag man sich beim Betreten das Gebäudes wie im Flughafen gefühlt haben, WIEN, NAIROBI, NEW YORK, was für Weltstädte auch immer, in weißen Großbuchstaben, verlaufen kann man sich nicht. Auch die Assoziation ist nicht schlecht, wenn man am Boden bleiben und doch mancher Höhenflüge gewiss sein darf. Übrigens die Nacht da draußen passte nicht schlecht, eine Hotelbar, die man meidet, wenn man die Preise verstanden hat, Blick nach oben, wo neben dem langen Eugen, nein, dem DHL-Gebäude, der kleine Vollmond steht, angeblich so nah wie nie außer noch einmal in 20 Jahren. Eine Welt für sich, gespenstisch beleuchtete Avenuen, vorbei an gigantischen, düsteren Bürohäusern mit einzelnen glänzenden Zimmern, in denen junge Männer vor Computern sitzen; ruhelos ersinnen sie Wunderwerke des neuen Zeitalters. Und wenn man tief unter ihnen durch das Labyrinth der langen Gänge und Kieswege gefunden hat, so sieht man weit hinten im Dämmerlicht, hinter der quer verlaufenden schmalen Straße, an der das Auto nach einer Irrfahrt Parkgelegenheit gefunden hatte, ja, was sieht man dort, zum Greifen nah, wie vor Jahrhunderten? Den Vater Rhein. Die Welt ist doch im Lot!

bonn-wccb-vorhalle-b WCCB Vorhalle Fotos: JR

bonn-wccb-modell-y WCCB Modell

bonn-wccb-orchester-l Beethoven-Orchester

bonn-wccb-draussen Nach dem Konzert

BEISPIELE (nicht aus dem Konzert, sondern aus youtube, nur zum Lernen, zum Besserkennen, nicht zum „Besserwissen“):

Thomas Adès „Asyla“ op.17 (Einführung Markus Stenz) hr-Sinfonieorchester ab 0:24 Anspielen des III.Satzes „Ecstasio“ (bis 1:05) I.Satz ab 2:54 Wort („Bewegung“) II.Satz ab 4:10 Wort („Zwischenwelt, bevor man wahnsinnig wird“, „Wehklagen“, „Lament“) Musik 4:58 bis 7:00 IV.Satz ab 7:10 Wort („Langsamer Satz“) bis 7:40 (Ende) / Beginn der Aufführung bei 8:00 II.Satz ab 13:30 III.Satz ab 20:02 / durchgezählt bis IV.Satz ab 26:22 Beifall ab 31:18

Thomas Adès „Asyla“ op.17 Der III. Satz unter Sir Simon Rattle:

Tschaikowski: Francesca da Rimini / Orchesterfantasie nach Dante op.32 (1876)

Die Melodie des Mittelteils

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Was habe ich gegen diese Melodie?

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Sie hat von vornherein die Tendenz zum Gis (im Nachhall hört man gewissermaßen schon die klein eingezeichneten Töne mit), sie gibt sich aber spannender, indem sie mit dem F an den Anfangston E anknüpft, weiterweisend, aber zunächst muss sie dem Drang zum Gis nachgeben, das Auf und Ab der Linie verspricht einen Ausdruck, der sich im folgenden als nichtig erweist: Anknüpfend an E (Takt 1) und F (Takt 2) wird die Linie in Takt 3 zu E-F-G-A weitergeführt, dort aber gleich wieder zurückgebogen, mit dieser Drehung und dem F-E-D wird der abwärtsführenden Tendenz nachgegeben, zu allem Überfluss auch noch mit einer Sequenz („Reim“), die am Ende von Takt 3 in die beiden Töne mündet, die wir schon am Ende von Takt 1 geahnt haben, und so kann in Takt 6 komplikationslos auch die Hauptaussage von Takt 2 wiederholt werden; sie wirkt aber noch weniger ausdrucksvoll als dort, sondern – weil nichts sich ändert – larmoyant. Um nun doch noch einen verborgenen Sinn des ganzen Melodiegangs vorzutäuschen, reckt sich die längst bekannte kleine Wendung  H-A ein weiteres Mal nach oben, diesmal nicht nach F, sondern nach Fis, so dass das unveränderliche Gis (E-dur) sich diesmal aus einem modulatorischen Schritt, statt aus der Folge IV – V in a-moll, ergibt. Man könnte behaupten, dass die Melodie die ausweglose Lage der Liebenden spiegelt und auf den nun für viele Takte ostinat durchgehenden Basston E verweist, der Ähnliches aussagt. Während die Weiterbehandlung der Sequenz lähmend wirkt, auch wenn sie zur Abwechslung nun aufsteigt, sogar mit Viertel-Triolen und schließlich durchgepeitschten Achteln aufwartet, also zugleich eine gewisse „narrative“ Spannung zelebriert. Sie ist leicht als bloße Geschwätzigkeit durchschaubar.

Viel Worte um 20 Takte Musik, aber sie sagen in etwa das, was einem durch den Kopf geht, während man inmitten der sinnlosen Raserei dieses Satzes auf einen Lichtblick hofft. Soviel Zeit muss sein, immerhin ist es ja eine Enttäuschung, wie man sie gerade von Tschaikowski nicht erwartet, der sonst – wie Adorno einmal kleinlich anmerkte –  sogar die Verzweiflung mit Schlagermelodien porträtiert…

Trotzdem gilt: Gut gespielte Musik ist immer interessant, auch wenn sie einem nicht gefällt, gerade dann. Zu fragen: Was macht denn Musik aus? Was fesselt, was stößt einen ab? Wie zwingt sie uns zurückzukehren, zu ihr zu halten? Zur Musik von Sibelius etwa, gerade gegen Adornos Verdikt wider den finnischen Hinterweltler! Vielleicht führt nur das beigegebene Natur-Foto in die falsche Richtung. Denn es ist „gearbeitete“ Musik, nicht bloße Stimmungsmusik. Bei Wikipedia gibt es eine erstaunlich detaillierte Beschreibung und Deutung des Ablaufs der Sinfonie: HIER. (Es lohnte sich, diesen Text durchzuarbeiten und die Taktzahlen durch Zeitangaben der folgenden Aufnahme zu ergänzen.) Am Ende lauert eine vielleicht allzu pauschale, „gläubige“ Bemerkung des Dirigenten Osmo Vänskä :

Das Ego wurde vernachlässigt, und die Dinge sind vom Standpunkt der Menschheit aus gesehen. Der Komponist wendet sein Augenmerk von sich selbst ab, um höhere Kräfte zu erreichen. Die Siebte ist heilige Musik.

Jean Sibelius Sinfonie Nr. 7 C-dur op. 105 (1918-1924)

Konzert, Performance, Ritual

Brauchen wir neue Rituale?

Jeder Künstler weiß, dass zu einem Konzertauftritt eine gewisse (Selbst-) Inszenierung gehört. Man zeigt Disziplin und Zielbewusstheit, Selbstkontrolle und Hochachtung für das Publikum. Man verbeugt sich, man konzentriert sich, wartet auf den Eintritt völliger Stille im Saal, man zelebriert den eigenen Einsatz und agiert sodann in einem eigenen, imaginären, vom Publikum abgeschlossenen Raum auf dem Podium. Oder man verzichtet bewusst auf einzelne Komponenten, indem man während der Darbietung hier und da einen Blick ins Publikum wirft, vielleicht sogar, um einen Huster abzustrafen oder ein knisterndes Bonbonpapier zu markieren. Die Grenzen des Üblichen haben sich im Lauf der Geschichte immer wieder verschoben.

Ich erinnere mich an ein WDR-Konzert mit Friedrich Gulda, in dessen erstem Teil er mit der Sängerin Ursula Anders sein skandalumwittertes „Opus Anders“ aufführte (siehe dazu das Gespräch mit André Müller hier), während er den zweiten Teil mit Mozarts A-dur-Sonate begann, die er auf unvergessliche Weise vortrug: Das Licht im Sendesaal war nicht ganz gelöscht, und während er das Thema und die Variationen spielte, schaute er unverwandt ins Publikum, von Platz zu Platz, von Reihe zu Reihe, – es war, als wolle er jeden Einzelnen ansprechen, es herrschte atemlose Stille. Unglaublich schöne Musik! Man hatte aber weniger den Eindruck einer musikalischen Konversation, – eher den einer Prüfung. Einer Prüfung, deren Ausgang fraglich war. Vielleicht wollte er es so, vielleicht war es eine Autosuggestion, die sich unwillkürlich einstellte.

So hatte es Couperin im Jahre 1717 wohl nicht gemeint:

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1933 (Seite 11)

In meiner Jugend gab es ein „Bielefelder Kammertrio“, das mein erster Geigenlehrer mit meinem Vater zusammen gegründet hatte. Als Cellisten der ersten Zeit konnten sie einen begabten jungen Mann von der Detmolder Hochschule hinzugewinnen, der allerdings, wie sich bald herausstellte, eine schlechte Angewohnheit hatte: immer wenn er ein paar Takte Pause hatte, begann er, in aller Ruhe das Publikum zu mustern. Als suche er ein bekanntes Gesicht. Niemand fand das anregend oder kommunikativ, es wirkte so, als ob er sich die Langeweile vertrieb. Sogar wir Kinder, die heimlich lachten, wenn die Streicher im Erzherzog-Trio Pizzicato spielten, fanden das ungehörig.

Warum stört das? Man erwartet im Konzert Spannung oder auch nur Konzentration, gewiss vor allem Lebendigkeit, aber immer auf die Musik bezogen, nicht von ihr weggewandt oder ablenkend. Ich nehme ein Beispiel aus dem weniger strengen, ritualisierten Genre mit Folkloreanklängen. Man studiere intensiv die Gesichter der Mitwirkenden im folgenden Konzert, beobachte ganz besonders diejenigen, die gerade nicht aktiv am Geschehen beteiligt sind: was für ein Wunder an Beteiligung und Anteilnahme in jedem Moment, was für ein Ausstrahlung! Es geht nicht um Schönheit und Jugend der Beteiligten, es geht um den lebendigen Puls der Aufführung. (Springen Sie ruhig mitten hinein: z.B. bei 10:00.)

Carmina latina Screenshot 2016-03-22 16.29.25 Hier anklicken!

Ich habe schon kurz die Johannespassion unter Peter Deijkstra behandelt, die zur Zeit noch (bis 27. März) auf ARTE abrufbar ist, habe auch den Namen des Mannes erwähnt, der für die „Szenische Gestaltung“ verantwortlich war: Folkert Uhde. Und wenn man ihm nachgeht, weiß man auch, dass er den Begriff „Konzertdesign“ eingeführt hat und dass sich hinter dem, was ich hier zu entdecken glaubte, längst eine weitverzweigte Theorie steht.*Einfügung 19.04.2016: ein abschreckendes Beispiel ist für mich die Inszenierung der Geigerin Midori Seiler, die fabelhaft Bachs Solissimo-Werke spielt. Aber so möchte ich das keinesfalls in extenso erleben. Gleiches gilt für Vivaldis Jahreszeiten.*

Und schon habe ich Angst, dass alsbald auch ein weit sich verzweigendes System des Missbrauchs im Kommen ist, nämlich sobald es Usus wird, neben einem Dirigenten, einem Ensemble und verschiedenen Solisten auch einen Konzertdesigner zu verpflichten. Einen Menschen, der dieses Fach studiert hat, gewiss zusätzlich auch noch Kultur-Management, PR-Marketing und alles, wo man gut aufgestellt sein muss, am Ende vielleicht sogar noch etwas Klavier oder Gitarre. Denn die meisten wollen ja „ganz oben“ anfangen und nicht jahrelang mit Fingerübungen ihre Zeit verplempern. Andererseits suchen bedeutende Künstler, also solche, die es nie für eine Schande gehalten haben, sich täglich mit Fingerübungen abzugeben, neuerdings den Kontakt zu Leuten, von denen ihre Kunst spektakulär inszeniert wird, notfalls in spektakuläre Stille gehüllt, wie im Fall Igor Levit / Marina Abramović. Und jetzt ist es die Pianistin Hélène Grimaud, die sich mit dem bildenden Künstler Douglas Gordon zusammentut, um ein pianistisches Wasser-Programm über einem gigantischen Wasserteppich im Dunkeln zu spielen. Die klassischen Werke sind zudem von der ersten bis zur letzten Nummer – wie auf ihrer CD Water – durch Transitions verbunden, die der Phantasie des Komponisten Nitin Sawhney entsprungen sind.

Grimaud water

Man kann sich damit stichprobenartig befassen, indem man hier von Track zu Track geht, man kann aber auch genau auf den Fragen beharren, die im ZEIT-Interview gleich zu Anfang gestellt werden:

DIE ZEIT: Trügt der Eindruck, dass die absolute Musik Ihnen auf der Bühne nicht mehr genügt?

Hélène Grimaud: Das trügt definitiv! [Sie berichtet von ihren „normalen“ Konzerten.] Das ist mein täglich Brot. Alles andere nimmt nur einen sehr kleinen Teil meiner Arbeit ein. Das ist ein fremdes Reich, das ich ab und zu betrete. ich finde es enorm wichtig, dass alles Szenische so abstrakt wie möglich bleibt. Es geht nicht darum, den Zuschauern zu sagen, was sie fühlen sollen, es geht darum, eine Welt zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, Gefühle zu erleben.

DIE ZEIT: Dennoch könnte man auch Ihre Water-CD als Misstrauensantrag an die Musik verstehen: Die Musik scheint mehr zu brauchen als sich selbst, ein Programm oder ein ästhetisches Surplus.

Grimaud: Ich sehe das genau andersherum: Jede Partitur ist eine Art Heilige Schrift, die zum Leben erweckt werden will und muss. Dieses Leben kann gar nicht prall genug sein.

Quelle DIE ZEIT 17. März 2016 Seite 59 „Die Kunst hält das aus“ Die Pianistin Hélène Grimaud spricht über ihre neue CD „Water“, über Spiritualität und die Grenze zwischen Musik und Aktivismus. (Gespräch: Christine Lemke-Matwey)

Es gilt, all dies sorgfältig zu prüfen und auf sich wirken zu lassen. Ist das „wahrhaftig“ durchdacht oder vom Größenwahnsinn gezeichnet? Läuft es auf etwas hinaus, was man – frei nach Adorno – als spirituelles Brimborium bezeichnen könnte? Einerseits ist immer nachvollziehbar, wenn man statt einer Nummernfolge einen größeren thematischen Zusammenhang schaffen und anbieten will, zugleich aber das Bewusstsein der Rezipienten aktivieren und präparieren will. Die leere Feierlichkeit des bürgerlichen Konzerts wird als ungenügend, als der heutigen Auffassung vom Kunstwerk nicht adäquat empfunden. Man will es vermeiden, bloße Zerstreuung anzubieten, und so bemüht man sich, gewissermaßen den Radius der Assoziationen vorgeben. Aber weiß man überhaupt, was ein großes Variationen-Werk von uns fordert, kümmert man sich eigentlich im Detail um die musikalischen Inhalte? Ich höre in den Berichten über die Goldberg-Variationen immer nur das Thema. Welcher Musiker unterzieht sich der Mühe, sagen wie, ein Werk wie das von Rolf Dammann über die Variationen durchzuarbeiten? Würde es vielleicht genügen, unter der strengen Regie von Marina Abramović 30 mal hintereinander das Thema zu spielen? Und mit Douglas Gordon über das Phänomen Wasser zu meditieren? Was meint Hélène Grimaud mit dem Satz „Die Kunst hält das aus“… Die ZEIT kommt vom Wasser auf Erderwärmung und Schmelzen der Pole und fragt: „Ist das unser Problem? Überfrachten wir die Musik mit unserer Realität?“

Hélène Grimaud: Wenn Sie so wollen, dann ist jede Rezeption eine Überfrachtung, eine Überwölbung mit eigenen Erfahrungen. Die Kunst hält das aus. Für frühere Zeitalter war die Natur ein Wissensspeicher. Man ging hinaus, machte einen Spaziergang, kam zurück und schrieb nieder, was der Wind einem durch die Blätter der Bäume zugeflüstert hatte. Das ist jetzt grob vereinfacht gesagt, so romantisierend war es nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es bis heute gilt. Denn wenn wir uns diesen existentiellen Bezug zur Welt, in der wir leben, bewahrt hätten, wäre es nie so weit gekommen.

…wäre es nie so weit gekommen? Nicht ohne Grund hat sie vorher gesagt: “ (Man) kam zurück…“ Wahrscheinlich hätten wir auch keine Musik, keine Literatur, keine Bilder, wenn wir nicht zurückkämen, reflektierten, objektivierten. Denn die Kunst schließt aus, verzehrt, ignoriert schließlich alles, was nicht Kunst ist. Ich behaupte, dass auch Ravels „Jeux d’eau“ davon profitieren, dass die Künstlerin die Musik reflektiert und nicht das Lichterspiel auf dem Wasser.

Wenn Sie 5 Minuten Zeit haben, hören Sie doch, wie es bei Igor Levit war, auch was er selbst dazu sagt – und wie er das Thema der Goldberg-Variationen spielt: HIER(Nicht mehr abrufbar!)

Wollen Sie sich die Situation optisch vorstellen? HIER finden Sie eine Rezension und ein paar Bilder.

***

Und doch – könnte ich mir selbst in den Arm fallen, in die Tastatur, und versuchen, einen ganz anderen verbalen Ausdruck für dies alles zu finden. Einen Ausdruck des Schreckens und des Abscheus. Was für ein Aufwand wird hier getrieben, um eine Kunstwelt zu errichten, die sich geriert, als gehe es um nichts anderes als um die Beschwörung des wahren Augenblicks, des ungeheuer magischen Moments, der zur Ewigkeit wird. Oder um die technisch hoch aufwendige Installation einer Ewigkeit, die dann hoffentlich zu einem weltentrückten Augenblick zusammenschnurrt, man entfaltet auch die stumme Bildende Kunst – faltet sie geradezu auseinander -, bis sie in der einen genialen Performance zu einer Zeitkunst wird, versucht die Zeitkunst Musik in ein Ritual zu bannen, das uns reinigt und zu hörenden Giganten „entpersönlicht“, nein, ich finde keine Worte, und dann steckt am Ende längst die Erlebnis-Industrie dahinter, die längst alle Bastionen der künstlichen Intensivierung besetzt hat. Und im Saal sitzt allenthalben dieselbe Schickeria wie seit Menschengedenken, neuerdings aber mit dem festen Vorsatz, bei der Wiederkehr des Goldberg-Themas am Ende der Vorstellung in Ohnmacht zu fallen. Und dann hinauszugehen und zu sagen: ich widme diesen Abend den Flüchtlingen oder der Abwendung der Klimakatastrophe, nie war ich der Realität näher als im Moment dieser künstlich verordneten meditativen Einsamkeit in diesem riesigen Saal, der in den alten Zeiten als Waffenhalle (Armory) gedient haben soll. Und dann – ich sage es noch einmal (inszeniere mich womöglich gerade selbst) – versammelt sich da wieder die Menge der elitären Heerscharen und wartet auf die Gänsehaut wie in Bayreuth, wenn endlich das schwere Blech einsetzt. In diesem Fall die absehbare Wiederkehr des  zarten Themas als Wunder der intimsten Massenrührung. Eine Bach-Mirakelperzeption, die schon zu Glenn Goulds Lebzeiten weltweit eingeübt wurde, noch mehr aber nach seinem Tode: in nächtlichen Medien-Séancen mit dem Zeremonienmeister Bruno Monsaingeon.

Ich könnte aber auch an dieser Stelle daran erinnern, dass bestimmte Künstler immer noch eine unvergessliche, bezwingende Wirkung ausüben, indem sie einfach – normal beleuchtet – auf der Bühne stehen oder sitzen und vollendet Beethoven-Sonaten spielen und nicht einmal durch besondere Schönheit des Gesichtsausdrucks, der Haltung, der Gestalt oder der Gesten auffallen, wie Leonidas Kavakos („distanziert und fast mürrisch“), ob mit Enrico Pace oder Daniil Trifonov. Wie geht das? – Eigentlich – nicht so, wie ich es erlebt habe – in meinem Wohnzimmer – vor dem Fernsehapparat –

Ich breche ab, – ich muss noch ein paar einleuchtende Textstellen zur heutigen Funktion der Performance abschreiben. Vielleicht auch noch einmal Wolfgang Ullrichs Buch „Alles nur Konsum“ durchblättern. Oder nein, bei Hanno Rauterberg muss stehen, was ich suche… unter dem entwaffnenden Titel „Die Kunst und das gute Leben“…

***

ZITAT RAUTERBERG

Dass sich das Wesentliche nicht festhalten lässt, dass die Wahrheit im Augenblick liegt und ja ohnehin nur lebendig ist, was wandelbar bleibt, das sind geläufige Topoi des digitalen Zeitalters – in der Performance finden sie ihre ebenso geschmeidige wie unterhaltsame Form. Sie will sich den üblichen Verwertungszwängen entziehen, will kein Produkt sein, mit dem sich handeln und spekulieren ließe. Es ist eine liquide Kunst, die mit Kameras nicht vollgültig einzufangen ist. Man soll, man muss sie mit eigenen Augen sehen, sie zelebriert das Hier und Jetzt, eine wahre nondigitale Erfahrung. Es ist die Kunst der Präsenz. Sie setzt auf Anwesenheit und Körperlichkeit, sie erlaubt es den Besuchern, sich ihrer selbst zu vergewissern: gegenwärtig zu sein.

Manchmal geht es sehr meditativ zu, beispielsweise wenn der Künstler Anthony McCall auftritt, dessen Kunst nichts als Raum, Zeit und Licht sein möchte. Im tiefsten Dunkel erstrahlen dann klirren helle Spots, als hätte der Leuchtstrahl eines Ufos das Museum erfasst. Die Besucher sind es, die hier zu Performern werden: Sie baden im Licht des Künstlers, versuchen es zu ergreifen, eine irreal-reale Erfahrung. Der sogenannten Erschöpfungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts gefällt diese Art von Lebendigkeitsästhetik.

(…) Wo sonst in den Museen ein jeder Besucher für sich vor den Gemälden und Skulpturen steht und die ästhetische Erfahrung in der Regel das auf sich gestellte Individuum meint, legt es die Performance auf etwas Allumfassendes an. Sie verbindet den Raum, das Gezeigte, das Publikum. (…)

Die Performance Art kann auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte zurückblicken, die hat sehr unterschiedliche Spiel- und Spannungsformen entwickelt und mit Marina Abramović oder Tino Sehgal einige der populärsten Künstler der Gegenwart aufzuweisen. Doch ganz gleich, ob eine Performance ekstatisch, sanftmütig oder spielerisch gestimmt ist, ob sie das Irrationale bestärkt oder auf vernunftbetonte Dialoge abzielt, stets bemüht sie sich, die Betrachter aus ihrer gewohnten Rezeptionshaltung herauszureißen. Das Museum habe, so eine verbreitete Annahme, ein konsumbestimmtes Verhältnis zu Gemälden und Skulpturen begünstigt und damit den Besuchern eine passive Rolle verordnet. Daher müsse sich Performance vor allem der Neubelebung widmen: Die starren Formen der Kunst löst sie auf in etwas Atmosphärisches, dem Dauerhaften setzt sie das Ereignishafte entgegen und sie möchte aus dem passiven Betrachter einen aktiven Teilnehmer machen. Atmosphäre, Ereignis und Interaktion können je nach Performance unterschiedlich gewichtet sein, alle drei Aspekte aber treiben auf ihre Weise die Normalisierung der Kunst voran.

Quelle Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben / Über die Ethik der Ästhetik / edition suhrkamp / Berlin 2015 (Seite 58 f) Hervorhebungen in roter Farbe JR

Um noch eine weitere Anregung hinzuzufügen, die sich leicht auf Musik-Aufführungen beziehen lässt. Das Zitat stammt aus dem Vorwort eines Buches, das schon 2004 erschienen ist:

Kunst ist in Bewegung: Theater und Konzertsäle öffnen sich für Installationen und Performances. Galerien machen Platz für Darsteller und Tänzer. Der Gang durch die Stadt ist ein Auftritt. Öffentliche und private Räume werden in ihrer Funktion hinterfragt und können dabei zum Ort für ästhetische Erfahrungen werden. Der Transformation der Räume entspricht eine Neubefragung der zeitlichen Disposition von Kunst. Anfang und Ende, Dauer und Verlauf fallen aus dem Rahmen konventioneller Muster. Damit wird eine ästhetische Praxis generiert, für deren Beschreibung Schlüsselbegriffe wie Dynamik, Prozessualität, Vollzug oder Präsenz kennzeichnend sind.

Solche neuen Produktionsweisen korrelieren mit veränderten Rezeptionsstrategien. Wahrnehmung wird nicht als passive Aufnahme und ausschließlich intellektuelle Beschäftigung mit statischen Objekten verstanden, sondern als sinnlicher und körperlicher Vorgang, der aktive Teilhabe erforderlich macht. Schließlich steht der Status von Zuschauern und Zuhörern selbst auf dem Spiel, wenn ihr Erleben im ästhetischen Vorgang thematisiert wird und sie durch ihre Anwesenheit und Wahrnehmung konstitutiver Teil ästhetischer Prozesse sind.
Wenn Kunst in Bewegung ist, dann gerät auch die tradierte Konzentration auf Werkcharakter und -ästhetik ins Rutschen.

Mit anderen Worten: Die Performativierung der Kunst stellt eine besondere Herausforderung für die Analyse dar. Kunst provoziert Wissenschaft, und die Entgrenzung der Kunst stellt die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen in Frage.

Quelle Hier Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst / Der Aufführungsbegriff als Modell für eine Ästhetik des Performativen / Hrsg.: Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi, Jens Roselt.

Nachtrag zu Hélène Grimaud

Die Wasser-CD, die ich (siehe Bild oben) inzwischen besitze, ist sehr schön zu hören, leider auch beim Arbeiten, wenn ich gar nicht recht zuhöre. Sie plätschert dahin – Schönheit – „wie gleichst du dem Wasser!“ Soll ich über das Wesen des Wassers meditieren oder über die Verflüssigung unserer Seele beim Hören? Ja gern, ich mache alles mit. Aber wenn ich etwas über die Klänge, die mich beieindrucken, wissen will, schaue ich ins Booklet und lese über das erste Stück von Luciano Berio – „Wasserklavier“ No.3 from 6 Encores – per Antonio Ballista:

Die Werke dieses Programms gehen weit über lediglich neue Naturschilderungen hinaus. Ohne sentimental zu werden, regen sie an zu tiefer Versenkung in Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Gefühle, die durch Wasser stimuliert werden. Berios Wasserklavier sinnt zunächst mit süßer Melancholie über die vom Wasser symbolisierte Unbeständigkeit der menschlichen Existenz nach.

Das ist alles, und es ist natürlich zu wenig. Denn der Verlag Universal Edition gäbe uns etwas mehr in die Hand:

Wasserklavier aus 6 Encores könnte in der Tat als ideale Zugabe nach jedem Klavierrecital dienen: es ist tonale Musik, die Motive aus Brahms’ Op. 117 sowie Schuberts Op. 142 verwendet. Das Ende bleibt irgendwie offen – mit einem Fragezeichen oder das Gefühl vermittelnd, dass die Musik noch weiter klingen könnte.

Was für eine Vorgabe! Darauf wäre ich nicht gekommen, obwohl mein absolutes Lieblingsstück dabei ist. Op.117 besteht aus drei Intermezzi und Schuberts op.142 aus vier Impromptus, auch lauter Lieblingsstücke von mir. Und ich habe – als ich dies noch nicht wusste – kein einziges Motiv erkannt, jetzt aber fällt es mir wie Schuppen … nein, keine Anspielung in diesem Zusammenhang.

Im Fall Takemitsu verfahre ich ähnlich, der Verlag All Music hilft mir ebenfalls… Haben Sie’s angeklickt? – Aber muss ich denn wirklich alles selber tun?

Bad Cannstatt zum Beispiel

Oder meinen Sie, Stuttgart sei eine tiefere Stadt?

ZITAT

Die Sehkraft des Homo sapiens beruht auf einem winzig kleinen Energiespektrum, nämlich 400 bis 700 Nanometer im elekromagnetischen Spektrum. Das übrige Spektrum, das das Universum durchdringt, reicht von Gammastrahlen mit einer Wellenlänge von wenigen Billionstes des für den Menschen sichtbaren Bereichs bis hin zu Radiowellen, die billionenmal länger sind. Tiere leben in ihren eigenen Ausschnitten aus dem Universum. Schmetterlinge zum Beispiel finden den Pollen und Nektar der Blumen über die Muster von UV-Licht, das die Blütenblätter reflektieren (unter 500 nm) – diese Muster und Farben können wir nicht sehen. Wo wir einfach eine gelbe oder rote Blüte wahrnehmen, schillert für die Insekten ein buntes Gewirr von hellen und dunklen Flecken und konzentrischen Kreisen. (E.O.Wilson S. 49)

Selbst wir beide können unsere Wahrnehmungen nicht vergleichen:

Stuttgart Hund 20151218

ZITAT

Auch was den Geruchssinn angeht, ist der Mensch einer der am schlechtesten gerüsteten Organismen der Erde – wir riechen so wenig, dass wir zur Beschreibung von Gerüchen auch nur über ein winziges Vokabular verfügen. Meist nutzen wir dafür lediglich Vergleiche wie „zitronig“, „säuerlich“ oder „übel riechend“. Für die meisten anderen Organismen dagegen, von Bakterien über Schlangen bis zum Wolf, sind geruchs- und Gescmackssinn überlebenswichtig. Wir verlassen uns auf abgerichtete Hunde, die uns durch die Welt des Geruchs führen, um einzelne Personen zu verfolgen oder minimale Spuren von Sprengstoff oder anderen gefährlichen Chemikalien aufzuspüren.

Ohne Messinstrumente ist unsere Spezies auch für andere Arten von Reizen ganz unempfänglich. (E.O.Wilson S. 50)

Quelle O.E. Wilson: Der Sinn des menschlichen Lebens / C.H.Beck München 2015

Stuttgart Park Arkaden 20151218

Stuttgart Bad 20151217

Stuttgart Sappho 20151218

Allerdings bin ich mit Messinstrumenten anderer Art ausgestattet, so dass diese mich – mein Alter verkennend – bei der  Wiederbegegnung mit einem Gedicht in der Straßenbahn alarmieren. Und vollends beim Anblick eines prominenten Namens in der König-Karl-Straße an himmlische Spezereien denken lassen. Der Naturwissenschaftler spricht von den komplexen Mechanismen des Belohnungssystems im Gehirn. Ich dagegen hänge Geschichten nach, die Peer Gynt erfunden haben könnte.

Stuttgart Klaiber 20151219 Klaibers Café

Peer Gynt Programm  Schauspielhaus Stuttgart

Peer Gynt Programmheft a    Peer Gynt Programmheft b

Peer Gynt Programmheft c   Peer Gynt Programmheft d

Ich bin nicht einverstanden mit der Kritik, die ich in Spiegel online lese, obwohl sie durchaus nachvollziehbar ist, – wie auch die Inszenierung und Herrichtung der Vorlage im Theater. Empfehlenswert die Besprechung in Nachtkritik, samt Durchsicht verschiedener Kritiken, Spiegel online inbegriffen.

„Ich ist ein anderer“ – sollte ich noch einmal rekapitulieren, was ich seinerseit zu diesem Thema geschrieben habe, nämlich hier? Muss ich mich korrigieren oder differenzierter fassen? Noch einmal bei Rimbaud beginnen: In einem Brief an Paul Demeny vom  15. Mai 1871, dem sogenannten zweiten Seherbrief, steht der vielzitierte Satz „Je est un autre.“ Auf den sich auch Bernd Isele bezieht, ohne ihn direkt zu thematisieren. – Vielleicht ein andermal…

Um hier stattdessen auf das Gedicht in der Straßenbahn zurückzukommen, – die lateinische Fassung kann ich (fast) auswendig – nein, genau genommen nur bis „eripit sensus mihi“, und der letzten Moral-Strophe habe ich mich ohnehin immer verweigert :

Ille mi par esse deo videtur,
ille, si fas est, superare divos,
qui sedens adversus identidem te
spectat et audit

dulce ridentem, misero quod omnis
eripit sensus mihi: nam simul te,
Lesbia, aspexi, nihil est super mi
vocis in ore,

lingua sed torpet, tenuis sub artus
flamma demanat, sonitu suopte
tintinant aures, gemina teguntur
lumina nocte.

Otium, Catulle, tibi molestum est,
otio exultas nimiumque gestis;
otium et reges prius et beatas
perdidit urbes.

Diese Fassung stammt von Catull, das Original ist griechisch, ein Gedicht von Sappho, ich kopiere es aus meinem Schulbuch:

Sappho a

Sappho b

Nebeneinandergestellt sieht man die beiden Gedichte hier. Ein Beispiel, wie die Wissenschaft sich mit „Sappho und Catull“ auseinandersetzt, ist hier nachzulesen, – eine Arbeit von Günther Jachmann.

Eine deutsche Übersetzung … findet man …. in der Straßenbahn (Foto s.o.) von Bad Cannstatt nach Stuttgart Charlottenplatz, von wo aus man in 5 Minuten zum Schauspielhaus gelangt.

Eine schöne Catull-Übersetzung im korrekten Rhythmus (der verantwortlich ist für befremdende Wortformen wie „genüber“ oder „starrt die Zunge“ – statt erstarrt) gibt Otto Weinrich im Textband der dtv Bibliothek (München 1974 ISBN 3-423-06028-X):

Wie ein Gott – so will mir der Mann erscheinen,
mehr als Gott – so dieses zu sagen statthaft –
der genüber sitzend nur immerfort dich
anblickt und hört dein

süßes Lachen! Wahrlich um alle Sinne
bringt dies mich Unseligen. Wenn mein Blick nur
dir begegnet, Lesbia, gleich verstummt, ach
Lesbia, meine

Stimme, starrt die Zunge, ergießt sich lohend
Feuer in die Glieder, im Ohre klingts und
dröhnts, die Augensterne umschattet doppelt
nächtliches Dunkel. –

Müßiggang, Catullus, erweckt dir Leiden,
Müßiggang verlockt dich zu frechem Schwärmen,
Müßiggang hat Könige einst gestürzt und
blühende Städte.

Auf ein zeitgenössisches Catull-Projekt sei an dieser Stelle hingewiesen, angesiedelt u.a. in Bad Cannstatt: HIER.

Die folgende Sappho-Übersetzung von Wilhelm Heinse entwende ich aus einem Link für Schüler und gelobe, bis an mein Lebensende ein gelehriger Schüler zu sein:

Gleich den Göttern scheint mir der Mann zu sein, der
deiner Schönheit Pracht gegenüber sitzt
und zu dem du hinbeugst den Nacken; der dein Geflüster
hört und das Lächeln voll Lustbegierde.
Ha, mir hat es das Herz in der Brust erschreckt!
Denn sobald ich dich nur erblickte, kam kein einziger
Laut mehr aus mir, gebrochen war die Zunge, ein feines
Feuer unterlief urplötzlich die Haut mir.
Vor den Augen wird es mir dunkel, mir braust’s in den Ohren,
kalte Schweiße rinnen herab auf einmal,
ganz ergreift ein Zittern mich; blasser bin ich
denn Heu, und als stürb‘ ich in kurzem, bleibt aus mir der Atem.
Alles muß gewagt sein -!

Vom Theater

Werke des klassischen Kanons und Event-Inszenierungen

Ich beziehe mich auf den Beitrag „Fiktion und Gefühle„, auch auf Gedanken, vielleicht nicht einmal notierte, die sich beim Opernkonsum der letzten Zeit ergaben („Tristan und Isolde“, „Fidelio“). Ein Beitrag von Peter Laudenbach in der heutigen Süddeutschen ist bemerkenswert.

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Der Abschied vom psychologisch-realistischem Spiel, der Guckkastenbühne samt der Gewissheit, auf ihr die großen Konflikte verhandeln zu können, scheint bei der trendbewussten Fraktion der Theatermacher Konsens zu sein. Was einst der Freien Szene als Herausforderung der Klassiker-Pflege der Staatstheater begann, ist dabei, zur neuen Konvention zu werden. Es wird Zeit, die Verlustrechnung aufzumachen. Dazu gehört etwa, dass an einem mittelgroßen Theater wie dem Schauspiel Dortmund in dieser Spielzeit keine einzige Klassiker-Premiere stattfindet. Dazu gehört auch, dass kluge, in der Konzentration auf Werke des Kanons konservative Inszenierungen, die [der] Kraft und der Kunst des Theaters vertrauen, seit dem Tod Jürgen Goschs und Dimiter Gotscheffs Seltenheitswert haben.

(…)

Die Grenzen zwischen Theater und Event-Agentur verschwimmen.

Das ist kein Grund für Kulturpessimismus. Aber man kann die Entwicklung ja mal in einen breiteren Kontext stellen. Nichts anderes versucht Bernd Stegemann so angriffsfreudig wie klug in seinem vor kurzem erschienenen Buch „Lob des Realismus“ (Verlag Theater der Zeit, 212 Seiten, 18 Euro). Stegemann (…) versucht auf hohem Abstraktionsniveau ästhetische und politische Ereignisse zusammen zu denken – zum Beispiel den Zwang zur konsequenten Selbstvermarktung im Neoliberalismus und die neueren Performance-Moden.

Der „Umbau des Subjekts zum Performer seiner selbst“ findet nicht nur auf der Bühne statt, sondern ist in weiten Teilen der Dienstleistungsbranchen die Kernqualifikation der Arbeitskräfte. So gesehen vollziehen die Performer, in der Regel unter prekären Arbeitsbedingungen, freiwillig nach, was in der Realökonomie unter Zwang geschieht.

Quelle Süddeutsche Zeitung 28. August 2015 Seite 12 Die Tatortreiniger Hat das Theater seine Herkunft vergessen? Klassiker sind abgemeldet, Psychologie ist uninteressant, der Guckkasten wird abgebaut – stattdessen spielen Bürger und Flüchtlinge. Ein Plädoyer für mehr Geschichtsbewusstsein auf deutschen Bühnen / Von Peter Laudenbach

Wenn ich mich nicht irre, steckt in den zuletzt zitierten Sätzen ein Gedanke von Adorno, der an dieser Stelle einmal nachzulesen sein sollte.

Da ich ohnehin mehr an das Musiktheater denke als an die klassischen Stücke des Worttheaters, fasziniert mich der ketzerische Gedanke, dass man auch in Bayreuth endlich eine geheiligte Grundlage des Illusionstheaters aufgeben müsste: das versenkte Orchester, das längst von der Funktion und Gegenwart der Musik im Film überholt wurde, endlich wieder aus dem „mystischen Abgrund“ hervorzuholen. Es würde bedeuten, Wagner die Treue zu halten, indem man das totgelaufene Dogma des unsichtbaren Orchesters „verrät“, d.h. radikal offenlegt, den wahren Klang ins Licht setzt.

So wie es ein (von der ZEIT) zum Bayreuth-Beobachter ernannter Außenseiter namens Navid Kermani vor drei Jahren begründet und gefordert hat: hier. Warum kam das nicht längst von den Musikern der ganzen Welt? Ja, „das Orchester muss aus dem Graben“ – und kann dann endlich für Fernsehübertragungen ideal mikrofoniert werden. Und die Sänger? (Was weiß ich – nicht ihretwegen hat Wagner das Orchester versenkt…).

Tristan BR Screenshot 2015-08-07 18.22.52(2) Der Guckkasten

Nächster Opern-Termin: Fidelio

Fidelio Titel Fidelio Inhalt

Dieser Beitrag lag halbfertig im Speicher, geplant als eine Übung in Sachen Opern-Regie, daher auf einen Sendetermin bezogen: Samstag 22. August. Die Salzburger Inszenierung. Siehe HIER.

Einstweilen Studium der Partitur, ein Exemplar meines Vaters. Ob er die Oper einmal dirigiert hat? In seinen Anfängen, etwa in Stralsund oder in Bielefeld, Anfang der 20er Jahre, der Namenszug oben links stammt aus seiner frühen Zeit. Meine Übung beginnt mit der Rekapitulation der Aufzüge, der Szenen, der Charaktere… (Siehe auch Wikipedia-Artikel. Zu beachten insbesondere der Abschnitt „Inszenierungen!)

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Das ist eine schwere Nuss – Naivität und Pathos in schwieriger Melange einerseits, geniale Musiknummern und schwächliche Texte anderseits. Nun traue ich mich mal heran – hier in Salzburg, im Rahmen außerhalb des Repertoires scheint mir so eine Annäherung möglich.

Sagte der Regisseur Claus Guth und wurde dann gefragt, ob er dieses Werk auch als „Befreiungsoper“ auffasse. Seine Antwort:

Ich versuche in meiner Interpretation den Begriff Gefangenschaft und Befreiung weiter zu fassen. Alle Personen dieses Stückes sind befangen und gefangen in Abhängigkeiten – aus emotionalen oder hierarchischen Gründen. Die Hoffnung, sich daraus zu befreien, teilen sie, doch zu gelingen scheint es niemand.

Für Guth spielt durchaus eine Rolle, dass Beethoven alles andere als ein Opernroutinier war:

Bis zum Schluss war er auf der Suche nach der adäquaten Form. Musikalisch sind ihm unfassbar geniale Eingebungen gekommen – theatralisch bleibt das Stück eine Baustelle. Deshalb ist mir der Text auch nicht so heilig – das hat es möglich gemacht, die Rezitative [Guth meint offenbar die gesprochenen Dialoge] zu streichen. Ich habe bemerkt, dass dabei eigentlich keine wesentliche Information verloren geht. Zum Glück war ich nicht der einzige, der an der Qualität dieser Dialoge zweifelt.

Dann kommt im Interview die Frage nach dem (titelgebenden!) Motiv der Oper: nach der Treue. Ob es nicht ein Prinzip sei, das in einer relativistischen und individualistischen Gesellschaft nur noch schwer verstanden werden könne. [Es ist zweifellos unvermeidlich, in der Oper wie im Schauspiel heute das kompakte Ich, die Charaktere, samt allen zwischenmenschlichen Beziehungen, die einst Romane füllten, zu problematisieren, auseinanderzufalten, auf verschiedene Körper zu verteilen, scheitern zu lassen, dies in jedem Fall. Keine Märchen mehr. So mag es überraschen, wie Claus Guth beginnt:]    

Guth: Die Idee der Treue ist wohl zeitlos gültig und verständlich. Interessant wird es tatsächlich, wenn man den Mensch als ein sich stets veränderndes Individuum wahrnimmt. Wem bin ich treu: dem der er/sie damals war – aber was, wenn er jetzt ein „Anderer“ ist? Auch deswegen wurden zwei zusätzliche Figuren, als Schatten, eingeführt. Durch sie laufen diese verschiedenen Ebenen einer Person mit.

Quelle Kleine Zeitung Steiermark 30.07.2015 Interview: Maria Scholl / APA – Austria Presse Agentur

Weiteres zur Regie siehe auch HIER.

Mich interessierte früh das zwiespältige Verhältnis zwischen Kunst und Leben; daher habe ich schon bei einem ersten Text, der Beethoven betraf, nämlich seine Klaviertrios op. 1, die dem Fürsten Karl von Lichnowsky gewidmet sind, den Widerspruch zwischen klassischer Idealität und widriger Realität in aller Kürze zum Thema gemacht. Es ging um die reale Rolle des Ehepaars Lichnowsky, die sich keineswegs auf finanzielles Mäzenatentum beschränkte:

Beethowen Lichnowsky CD TACET 76

Oder soll man planmäßig Leben und Kunst in der Kunst aufeinanderprallen lassen, Befreiung und Leben notfalls auch in der Kunst verweigern, wenn sie im Leben draußen keinen Platz haben?

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Tot ist auch Florestan am Ende von Beethovens Fidelio, jedenfalls in Claus Guths Lesart, und dies Sterben eines Geschundenen, politisch Verfolgten und zu spät Geretteten beschert dem Salzburger Opernsommer Augenblicke von erschreckender Wahrhaftigkeit. (…) Der Held, der sich unter dem Befreiungsjubel des Volkes die Ohren zuhält, der schwersttraumatisiert ist und selbst die Liebe seiner Frau Leonorre alias Fidelio nicht mehr erträgt (…) – ist dies nicht auch ein Alter Ego des Künstlers und Startenors schlechthin, der Gesang und Welt und Welt und Gesang nicht mehr zusammenbringt?

Wie Kaufmann durch Guths psychedelische Doppelgängerschattenwürfe und Christian Schmidts minimalistischen Raum taumelt – ein Kabinett, das von einem schwarzen, Kaaba-artigen Quader durchdrungen wird und später mit einem Kronleuchter prunkt – und wie er am Schluss, für ein paar wenige Glückstakte nach dem Sextett, mit Leonore nach vorne an die Rampe stürmt, nur um dort zusammenzubrechen, ausgerechnet dort: Das lässt hoffen, dass die Kunst die Zeichen der Zeit verstanden hat. Und daran arbeitet.

 Quelle DIE ZEIT 6. August 2015 Seite 47 Hier Leben. Da Kunst Vor den Operntoren von Salzburg kauern Flüchtlinge. Haben die Festspiele die Zeichen der Zeit erkannt? Von Christine Lemke-Matwey.

Beethoven Fidelio Finale

* * *

Walter Riezler (1936):

Man hat die kunstvolle Form und die damit verbundene Ausdehnung der Stücke als Beweis für die geringe dramatische Begabung Beethovens – vor allem im Vergleich zu Mozart, aber auch zu Weber – genommen, was vom Standpunkt der äußeren Wirkung vielleicht richtig ist, aber dem inneren dramatischen Leben dieser Musik nicht gerecht wird. Ist ja doch sogar die Wirkung des vielgetadelten „Kanon“, des Quartetts im ersten Akt „Mir ist so wunderbar“ erfahrungsgemäß wahrhaft erschütternd, trotz der allem Herkommen der Oper widersprechenden statischen (hier übrigens recht kunstlos angewandten) Form des Kanons. Die Musik nimmt die in den einfach-schönen Worten des Dialogs: „Meinst du, ich könnte dir nicht ins Herz sehen?“ angeschlagene Stimmung und die in der Handlung begründete Spannung auf und läßt sie sich ausbreiten.

Aufnahme 1963

Das oben zitierte Buch von Walter Riezler (1878-1965) ist und bleibt eine Fundgrube treffender Einsichten in Beethovens Werk, wenn auch das Erscheinungsdatum 1936 manchen Leser verleiten könnte, nach dem Lebenslauf des Autors zu fragen. Es ist erstaunlich in anderer Hinsicht als vermutet: hier. Er promovierte über den Parthenon und die attische Vasengeschichte, erhielt aber zugleich eine musikalische Ausbildung bei Felix Mottl und Max Reger. – Interessant, was er über die verbessernde Arbeit Beethovens am „Fidelio“ schreibt, lediglich die Arie des Rocco hält er für ein auch in der Endfassung entbehrliches Relikt:

Man fühlt bei diesem schönen Stück Musik ein leises Unbehagen – es ist die einzige Stelle, wo noch etwas von der ersten Fassung übrigblieb, was der menschlichen und dramatischen Haltung des Ganzen, so wie es schließlich gelang, nicht ganz würdig ist. Jedenfalls ist für das Ganze wenig verloren, wenn man die Arie fortläßt, während sonst Striche und Umstellungen sofort an die Substanz des Werkes rühren. Alles steht fest an seinem Platz und ist unentbehrlich – während noch in Mozarts „Zauberflöte“ Weglassungen nur wegen der dann verlorenen Schönheit des einzelnen zu vermeiden sind und Umstellungen nichts Wesentliches bedeuten. Ein Beweis, wie dichtgefügt der Fidelio als Ganzes ist, trotz der „Nummernoper“ und des gesprochenen Dialogs. Der Mißerfolg der ersten Aufführung erwies sich als ein Glücksfall sondergelichen. Niemals wäre Beethoven sonst zu den Änderungen bewogen worden, die dem Werk als Ganzem zu einer Vollkommenheit völlig einziger Art verhalfen. Unter dem Getilgten mag manches schöne Stück gewesen sein – dabeben aber auch manche Länge und etwas so Unmögliches, wie das Duett zwischen Leonore und Marzelline über das eheliche Leben (nach dem Duett Pizarro-Rocco!). Neu hinzu kamen Herrlichkeiten wie das große Rezitativ der Leonore, der Schluß des ersten Finales, an Stelle einer lärmenden Arie des Pizarro mit dem Chor der Wache, und der größte teil der Arie des Florestan mit der Vision des „Engel Leonore“, an Stelle einer schönen, aber matten Klage. Ob das dann folgende ergreifende Melodram, mit dessen Musik Beethoven einmal ausnahmsweise, wie auch da und dort in der Musik zu „Egmont“, nur „Gefühl“ gibt, ohne jede „Form“, schon in der ersten Fassung vorhanden war, steht nicht ganz fest. Wir wissen, dass an diesen Änderungen der Textdichter Treitschke großen Anteil hat. Er beriet sich mit Beethoven über alle Einzelheiten und bewies hierbei feinstes Gefühl auch für musikalische Wirkungen. Ihm verdanken wir auch die endgültige Fassung des schlichten, aber oft sehr schönen Dialogs. Ihm verdanken wir auch die endgültige Fassung des schlichten, aber oft sehr schönen Dialogs. Geradezu genial ist die Änderung des Dialogs gegen Schluß der Kerkerszene. An die Stelle des ursprünglich auf den Abgang Pizarros folgenden Rezitativs trat ein kurzer Dialog, von dem heute nur mehr die in ihrer Einfachheit erschütternden Worte gesprochen werden: „O meine Leonore, was hast du alles meinetwegen erduldet! – Nichts – mein Florestan!“

Quelle Walter Riezler : Beethoven (mit Vorwort von Furtwängler) Atlantis Verlag Berlin und Zürich 1936 Seite 197 ff (heute neu bei Schott!)

Vielleicht ist uns heute das Pathos der alten Zeit in der folgenden Aufnahme zu affirmativ. Wie für die Ewigkeit –  Jon Vickers. „Beauty and Love and Truth!“ Andererseits – kann es Jonas Kaufmann übermorgen etwa beiläufiger übermitteln??? „… ein Engel Leonore“ hier bei 3:40.

Offenbar handelt es sich um eine der Aufnahmen mit dem Philharmonia Orchestra unter Otto Klemperer 1962 oder 1964 bei EMI (Christa Ludwig, Jon Vickers, Walter Berry, Gottlob Frick).

Nach Beethovens „Fidelio“

Anders als ich geglaubt habe, konnte man die Salzburger Aufführung nicht am Computer verfolgen, sondern nur bei 3sat im Fernsehen. Sehr gute Aufführung, großartige zweite Leonoren-Ouvertüre – platziert vor dem letzten Finale, Wie eine innere Rekapitulation des Erlebten, zum Umbau der Bühne, wo der rote Teppich ausgelegt, der riesige Kronleuchter hochgezogen wird. Die Geister-Figuren mit ihren aufgeregten Pantomimen erscheinen mir störend. Sehr überzeugend: der bei Beethoven nicht vorgesehene Tod (Zusammenbruch) Florestans in der abschließenden Jubel-Szene. Wie stand es in der ZEIT?

(…) und wie er am Schluss, für ein paar wenige Glückstakte nach dem Sextett, mit Leonore nach vorne an die Rampe stürmt, nur um dort zusammenzubrechen, ausgerechnet dort: Das lässt hoffen, dass die Kunst die Zeichen der Zeit verstanden hat. Und daran arbeitet.

Ich gehe nachher ins Arbeitszimmer an den Computer und sehe als erstes wieder einmal eine Todesmeldung. Ich kann nicht anders, als sie hier, an dieser Stelle, wiederzugeben. Sie gehört genau in diesen großen Zusammenhang.

 Mariem Hassan Mariem Hassan

Auf dem Boden bleiben!

Bundesliga beginnt

Bundesliga a  Bundesliga b

Keine Wallfahrt!

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Als erstes fällt bei den Fans die Erzeugung von Gemeinsamkeit auf. Ähnlich vereinigend wie gemeinsames Trinken wirkt das Absingen von Fußballhymnen, unterstützt von gleichen Bewegungsweisen. Bei den sangeskundigen englischen Fußballfans wird der religiöse Charakter der Gesänge deutlicher als bei den deutschen. Der berühmteste aller Fangesänge You’ll never walk alone wurde nach dem Ersten Weltkrieg während der englischen Cup-Finale im Wembley-Stadion in Erinnerung an die gefallenen Fans gesungen. Beim Absingen dieser Hymne ist heute eine strikte rituelle Ordnung einzuhalten (die auch auf deutschen Fußballplätzen gilt). Die Schals werden mit beiden Händen über den Kopf gehalten und im Rhythmus der Musik langsam hin und her bewegt, wie die Fahnen einer Prozession. Zum Heiligen halten die Fans engen Kontakt. In Marseille pilgerten sie vor dem UEFA-Pokalendspiel zur Wallfahrtskirche Notre Dame de la Garde, um dort eine Kerze zu entzünden. Der FC Sankt Pauli gab unter dem Titel Glaube, Liebe, Hoffnung eine „Fan-Bibel“ heraus. Wissentlich oder nicht hat er die göttlichen Tugenden zu seinem Wahlspruch gewählt, durchaus passend zu seinen Fan-Artikeln, vom Wimpel bis zur Unterhose und zum Pauli-Gartenzwerg.

Quelle Gunther Gebauer: Poetik des Fussballs campus verlag Frankfurt am Main 2006 (Seite 100 f.)

Wer heute nach dem zitierten Wahlspruch beim FC Sankt Pauli selbst sucht, stößt bei den „Kiezhelden“ auf eine Baustelle (hier). Sie wird doch wohl nicht erst nach der schmerzlichen Niederlage gegen Mönchengladbach (vorgestern) eingerichtet worden sein?

NOCH EIN ZITAT

Es gibt Situationen im Leben, denen wir gern eine Schlüsselbedeutung zuweisen. In ihrer verdichteten Form erschließen sie bisher verborgen gebliebene Lebensbereiche. Am 28.11.1993 gab es für mich einen solchen erhellenden Augenblick. Reinhold Mokrosch hatte seine zwei Mitstreiter für eine empirische Wertforschung überraschend am Freitagabend zum Fußballspiel des VFL ins Stadion An der Bremer Brücke eingeladen. Obwohl schon seit mehreren Jahren im Wettstreit um die Erforschung von Moralauffassungen miteinander verbunden, wurde erst am diesem Abend deutlich, welche integrierende Bedeutung ein Fußballspiel für eine Forschergruppe haben kann. Der Philosoph in dieser Runde zeigte sich als fachkundiger VFL-Fan, der Sportwissenschaftler mußte sich schon aus beruflicher Sicht engagiert zeigen und der Religionspädagoge gab dem Abend seinen interpretativen Stempel. Als in der Ostkurve nach dem Führungstreffer der Osnabrücker die Wunderkerzen angezündet und sie im Rhythmus des Anfeuerungsgesanges hin und her bewegt wurden, platzte es aus ihm heraus: „Das ist ja wie in der Kirche – nein, es ist in der Form von Ergriffenheit mehr als wir es dort vermögen“ – Woraus sich die ironisch-nachdenkliche Frage ergab: „Ist der Sport die Religion des säkularen 20. Jahrhunderts?“

Damit sind wir vom unschuldigen Anlass „Fußball“ gleich zweimal in höchst problematische Bezirke abgedriftet. Der Samstag soll uns wieder vom Kopf auf die Beine stellen, selbst Adornos Diktum, das alsbald auftauchen wird,  werden wir hoffentlich rechtzeitig abstreifen:

Denn zum Sport gehört nicht nur der Drang Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden … Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue … (ADORNO 1997, 43)

Lassen Sie uns den Vortrag zu den allermerkwürdigsten Aspekten von Spiel und Sport hinter uns bringen! Der Titel: Der Sport – die Religion des 20 Jahrhunderts? Autor: Prof. Dr. Elk Franke. Nachzulesen: HIER.

Neue Ernüchterung 14. August 2015

Eine letzte Saison der Vernunft (Kommentar von Olaf Kupfer in der WZ)

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Denn was Fußball-Romantiker[n] den Atem raubt, wird nach dieser Saison wahr: Getrieben von den wahnwitzigen Verhältnissen in England, wo die Clubs der Premier League dank einer exorbitanten Pay-TV-Vermarktung über vielfache Einnahmen der Bundesligisten verfügen, bricht auch die deutsche Liga (DFL) auf zu neuen Ufern: Extrem zersplitterte Spieltage werden schon bald die hektische Betriebsamkeit der Spitzenclubs rahmen, noch mehr Geld zu generieren – um nicht abgehängt zu werden.

Verrückte Verhältnisse kündigen die Manager für den Sommer 2016 an: Von einer Abwanderungswelle gen England ist die Rede. Und von einer Gehaltsexplosion für Spitzenspieler. Vom Ungleichgewicht des Weltfußballs. Da wollen wir es uns doch noch mal gemütlich machen und eine letzte Saison der Vernunft feiern.

Quelle Solinger Tageblatt 14. August 2015 Seite 2 / im Volltext nachzulesen als Leitartikel der Westdeutschen Zeitung WZ HIER.

Bayarena Live 15.26 h  20150815_152634  BayArena Spielunterbrechung 20150815_160754 BayArena Ecke 20150815_164442  BayArena Alleingang 20150815_163209  Fussball x Leverkusen Hoffenheim 15 August 2015

15. August BayArena 15.30 bis 17.15 Uhr Leverkusen:Hoffenheim 2:1 (Handy-Fotos JR)

Macbeth in Neuss

Ankunft

Neuss Shakespeare 2 Globe 150607 x

Rückfahrt

Neuss Shakespeare Pappeln 150607

Macbeth Eintritt

Macbeth Progr Neuss FOTOS / Kritik

Macbeth Titelblatt Macbeth Progr Namen

Neuss Shakespeare 4 Macbeth 150607 x Neuss Shakespeare Macbeth 3 150607 x

Neuss Shakespeare 5 Globe + Büste 150607 Neuss Globe Skizze 150607

Fotos oben: Nach der Nachmittag-Aufführung – Marcello Walton (Macbeth) und Alice Bonifacio

Macbeth Literatur

Macbeth Literatur innen bio

s.a. hier

Macbeth Literatur Inhalt 1

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Shakespeare Portrait auf Asphalt Shakespeare auf Asphalt, Neuss (Fotos: ER)

Interessant ist immer, wie sich die Aktivitäten im Raum verteilen. Ist das Publikum irgendwie einbezogen? Agieren die Schauspieler auch außerhalb der eigentlichen Bühne? Vanessa Schormann beschreibt in ihrem Macbeth-Buch die historischen Gegebenheiten:

Ein besonderes Merkmal im elisabethanischen Theater ist die Einheit von Zuschauerraum und Bühne. Zuschauer und Spieler befinden sich im selben Erlebnisraum, der durch die Spieler immer wieder neu definiert wird. Die sogenannte unteilbare Szene ist ein wichtiger Bestandteil der Shakespeareschen Dramaturgie.

In der Bochumer-Aufführung (siehe hier) hatte man es folgendermaßen geregelt: die Bühne war rund und befand sich – etwa 1,50 m erhöht – in der Mitte des rechtwinkligen Saales, auf drei Seiten von Zuschauerreihen umringt. Unmittelbar am Bühnenrand standen Einzelstühle, die von den Schauspielern als Stufe zur Bühne benutzt wurden, hier war aber zu Anfang auch der Platz der Hexen, die ihre Verse auf die Szene fauchten. Beim Gastmahl aber wurde die Bühne zum Tisch, sie war mit einem riesigen Tischtuch bedeckt und mit einem großen runden Loch in der Mitte versehen, was sich erst zeigte, als darin am Ende alles verschwand,das Tuch und was sich darauf befand, zu allerletzt die Königskrone.

Die Bochumer Macbeth-Bühne (prinz regent theater 2014/15):

Macbeth Bochum Bühne

Sitzplan und Innenraum im Globe Neuss HIER

Im Neusser Globe führte ein Auftrittsgang für die Darsteller vom Haupteingang quer durch den Zuschauerraum zur Mitte der Bühne, beim Gastmahl verwandelte sich imaginär der ganze Raum samt Zuschauern in den Festsaal, durch den einzelne Schauspieler mit Tabletts wanderten, als verteilten sie Getränke. Und der furchterregende Geist des Banquo agierte in Gestalt des echten Schauspielers erhöht in der Mitte des Raumes und verfolgte Macbeth von dort bis auf die Bühne. – Vanessa Schormann:

Für die in der Shakespearschen Dramaturgie angelegte Interaktion mit den Zuschauern muss der Spieler in direktem Kontakt zum Publikum treten. Die architektonischen Gegebenheiten des elisabethanischen Theaters helfen dabei, denn hier ragt die leere Bühne in den Zuschauerraum hinein und wird an drei Seiten vom Publikum umgeben. Da es […] keine künstlichen Lichtquellen gab, wurde am Nachmittag bei Tageslicht gespielt – jeder konnte jeden sehen.

Diese Tatsache baut Shakespeare in seine szenische Dramaturgie mit euin, er macht den Zuschauer zum Partner des Spielers. Auch in Macbeth wird das Publikum von den einzelnen Charakteren immer wieder angesprochen, nicht nur in den Monologen, in denen sich die Figuren direkt ans Publikum wenden und es teilhaben lassen an einer Innenschau ihrer Gedanken. Grundsätzlich teilt Shakespeare dem Publikum im Spiel unmerklich verschiedene Rollen zu. Der Zuschauer wird unter andere, zum Vertrauten, Mittäter, Mitwisser oder Gegner. Mit den Figuren gemeinsam erlebt er deren Aufstieg und Fall, deren Ängste, Sorgen und Hoffnungen und wird stets unmittelbar ins geschehen hineingezogen. Durch seine aktive Teilnahme am Geschehen spendet der Zuschauer dem Schauspieler zusätzliche Energie.

Hinzu kommt, dass das um die Bühne herum im Tageslicht sitzende und stehende Publikum sich gegenseitig sieht und die Folie bildet, vor der das Spiel auf der Bühne stattfindet. Jeder Zuschauer hat einen anderen Blick auf das Bühnengeschehen und die in den Charakteren angelegte Vielschichtigkeit kann stets aus verschiedenen Perspektiven gesehen werden.

Im Shakespearetheater ist sich der Zuschauer jederzeit der theatralen Situation, in der er sich befindet, bewusst. Er nimmt die Reaktionen seiner Mitzuschauer genauso unmittelbar wahr, wie die Aktionen auf der illusionsarmen Bühnenplattform.

Quelle Vanessa Schormann: Macbeth / Verlag und Druckkontor Kamp Bochum 2005 ISBN 3-89709-384-7 (Zitate von Seite 47)