Archiv der Kategorie: Soziologie

Warum die „alten Griechen“?

Hast du nicht Besseres zu tun? Aktuelleres?

Doch, natürlich, ich habe heute Morgen schon das Solinger Tageblatt gelesen und mich geärgert über den dort „getriggerten“ Kulturbegriff, der zur Auflösung des (sehr guten) Orchesters führen könnte.

Und dann lese ich Mails, darin u.a. die von Martin Hufner, mit anderen Worten den Newsletter der nmz, und es ist mir, als sei ich persönlich gemeint mit meinen alten Griechen:

„Zeige Deine Wunde“ verlangte schon Joseph Beuys, und es ist die Aufgabe von Kunst, genau dies zu tun. Kultur ist der öffentliche Raum, in dem gesellschaftliche Konflikte verhandelt werden müssen, dafür ist sie da. Schon die ersten antiken Theaterstücke waren Spiegelbild der damaligen politischen Situation und zeigen die Sorgen und Ängste der damaligen Menschen. Nicht jeder dieser Subtexte wird heute verstanden, aber wir spüren, dass es Themen darin gibt, die uns heute noch berühren.

Das ist der Grund, weshalb ich nicht einfach alte Schulbücher rekapituliere – gleichsam wie mein eigener alter Großvater, wenn er aus dem Frankreich-Feldzug erzählte, den er im Ersten Weltkrieg mitgemacht hat, – sondern Christian Meiers Buch „Die politische Kunst der griechischen Tragödie“. Siehe hier.

Und empfehle als Supplement-Text altgriechischer Tradition dringend den von Moritz Eggert im „Bad Blog of Music“ zum Thema:

Skylla und Charybdis HIER

(allerdings entscheide ich mich schon im Titel für diese Schreibweise, bei „Szylla“ bäte ich um Bedenkzeit)

ZITAT

„Liegt Skylla links Charybdis rechts bereit
was kann dem armen Erdenbürger glücken
der falsche Weg ist Meilen breit
der rechte schmäler als ein Messerrücken.“

(Ludwig Fulda)

Muss Kultur politisch sein? Sicher nicht. Befindet sich Kultur momentan in einer politischen Situation? Ganz sicher ja.

Die Klicks: DIGITAL LIFE

Ein kollektiv-psychologisches Problem (in Arbeit)

(Meine These: die Klicks gehören zu Menschen, haben mit ihnen zu tun, aber solchen, die gerade nichts Eigenes zu tun haben; sie sind momentan präsent, aber nicht wirklich „vorhanden“. Ich gehe aus von dem aufklärenden Video in der ZDF-Mediathek (im ZDF gesehen am 6.5.)

HIER  ←  ←  ←

In dieser Folge will Leon Windscheid (JR-NB: aus Solingen!) wissen, wie viel von unserem Ich in unserem digitalen Selbst steckt. Und wie bestimmen Insta, YouTube und Co. unser eigenes Ich?

  • Videolänge: 26 min Datum: 07.05.2023
  • Video verfügbar bis 07.05.2033

Welche weitreichenden Folgen, positiv wie negativ, das haben kann, erfährt Leon von Joey, früher einer der erfolgreichsten YouTuber Deutschlands, der sein Ich in der digitalen Welt zunächst verloren hat. Wie er es wiederfindet, erzählt er in „Terra Xplore“.

Leon Windscheid spricht über die wissenschaftlichen Aspekte, Hintergründe und Auswirkungen unseres Umgangs mit digitalen Medien auf unser Gedächtnis mit dem Neurobiologen Prof. Martin Korte.

Warum die digitale Welt so anziehend für unser Ich ist, erklärt Psychologe und Webdesigner Prof. Christian Montag.

  • Moderation – Leon Windscheid

Ab 1:00 Gespräch mit Joey bis ca. 4:11

ab 4:40 Hirnforscher (Neurobiologe Prof. Martin Korte) 5:23 „African Bullfrog“, Belohnungssystem, Drogenapotheke im Gehirn, 7:05 Mäusegehirn, Selbstexperiment Handy, „ständig verlieren wir etwas, was wir uns vorgenommen haben, aus den Augen“ 9:47 Warum? 10:00 Prof. Christian Montag Wer manipuliert uns? „die Platform-Betreibenden hinter den sozialen Netzwerken“

JR Zur Vorgeschichte: Über Joey auf Wikipedia hier . Und wie er seine Geschichte nachher selber erzählt:

Gendern!? Wie in der Musik darüber gedacht wird…

… sodass ich mich womöglich anschließe

Vielleicht mache ich es mir aber zu einfach, indem ich vormerke, was ich gestern und heute gelesen habe (wie vorher auch schon ähnlich von Navid Kermani, der nicht unbedingt zu den Musiker:innen zählt). Ich merke es mir vor, statt es still zu beherzigen oder mir gar eigene Gedanken zu machen, nachdem ich mir immerhin schon hier und hier etwas zum Thema vorsortiert hatte.

Diesmal handelt es sich um nicht weniger als

Die Wahrheit über Cancel Culture HIER

geschrieben von Moritz Eggert, gefunden in der NMZ online, die ich regelmäßig per Mail empfange und allen Musikinteressenten/tinnen empfehle; sie werden im Link auch eine Gelegenheit entdecken, sich zum regelmäßigen Bezug dieser Musiknachrichten einzutragen.

Darüberhinaus entdeckte ich als Abonnent von Musik & Ästhetik mit Verwunderung einen Artikel des Mitherausgebers Claus-Steffen Mahnkopf, weil darin wenig Musiktypisches zum Vorschein kommt, jedoch eben dieses Gender-Problem in allen möglichen Facetten.

Hier wäre Gelegenheit sich etwas einzulesen, vielleicht folgt der Entschluss, koste es was es wolle, den Rest an anderer Stelle weiterzuverfolgen:

Und außerhalb? Z.B. in der ZEIT 7. April 22 von Petra Gehring

4 Auffassungen von Geschlecht !

Quelle: Das gefühlte Geschlecht / Die britische Philosophin Kathleen Stock wurde wegen ihrer Transgender-Theorie stark angegriffen. Dabei ist ihr Buch »Material Girls« alles andere als ein Skandaltext / Von Petra Gehring [hier]

ZITAT

Harsch geht Stock nicht nur mit dem trans-aktivistischen Konzept des Geschlechts als »Gefühl« ins Gericht. Sondern sie schreckt bereits von der These zurück, das Geschlecht sei allein eine Sozialtatsache.

Philosophisch gesehen ist das keineswegs zwingend nötig, denn »gefühlt« ist etwas anderes als »geworden«, und das Gewicht einer durchlebten Geschlechtersozialisation macht sehr wohl aus einer Frau eine Frau. Deshalb ist auch Geschlecht im Sinne von Konzept 3, also seinem sozial bestimmten Charakter, derart real, dass es sich nicht per (Selbst-)Definition abstreifen oder nachträglich aneignen lässt. Und auch die Übereinstimmung von Identität und Geschlecht, also das, was im Trans-Jargon inzwischen  »cis« genannt wird, ist kein Phantom. Vielmehr steht es für eine Art Klassenlage, die tief in den Leib hineinreicht: für Gegebenheiten, die sich ganz ohne Berufung auf Biologie jedem Verdacht auf Beliebigkeit entziehen.

Quelle des hier thematisierten Buches: Kathleen Stock: Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist; Edition Tiamat, Berlin 2022; 384 S., 26,-€

Nachtrag 5.8.22 NZZ

In der Genderfalle: wenn es der öffentlichrechtliche Rundfunk niemandem recht machen kann

Deutsche Sprachwissenschafter fordern von den Anstalten eine Abkehr von Genderstern und Binnen-I. Doch sollten die Senderchefs flächendeckend verbindliche Regeln festsetzen, dürften sie bald selbst als Partei im Kulturkampf betrachtet werden.

Hier

A wie Adorno

Eine Rückkehr

Adorno (Theodor Wiesengrund-Adorno) hat mich begleitet seit 1960, genauer: seit 1959 – mit „Dissonanzen“, das Buch gehörte meinem Bruder, es muss es in der Mainzer Musikwissenschaft bzw. Schulmusik Pflichtlektüre gewesen sein. Fast gleichzeitig entlieh ich – noch zuhaus – aus der Bielefelder Stadtbücherei die „Philosophie der Neuen Musik“ und ließ mich davon nicht entmutigen. Ein eigenes Exemplar las ich in Berlin, mit Rot- und Blaustift versehen, endlos Zeile für Zeile, im Café Kranzler, immer wieder mit lichten Augenblicken, aufflammender Begeisterung. Ich ließ mich durch seine Position gegen Strawinsky nicht beirren. Danach kam jedes Jahr mindestens ein weiteres Buch dran. Auch Rundfunkvorträge, von denen ich glaubte, dass sie im Äther verlorengehen könnten, verschriftlichte ich nach den Tonbandaufnahmen in stundenlangen Sitzungen (in Köln-Niehl und in Gummersbach, wo ich unterrichtete und manchmal übernachtete). Ich habe die Anfänge schon einmal rekapituliert. HIER. Auch in Visp (Visperterminen), wo er gestorben ist, habe ich seiner gedacht, auf langen Wanderungen. Mein Zimmer in der Solinger Wohnung Querstraße war mit einem langen Zitat aus dem „Getreuen Korrepetitor“ tapeziert, das ich täglich betrachtete. Was mich nicht schreckte: wie er Bach gegen seine Liebhaber zu verteidigen suchte, wie er mit dem Jazz verfuhr, mich störten eher seine Imitatoren. Ich polemisierte gegen Clytus Gottwald, dessen Verdikt über Historische Aufführungspraxis mich ärgerte, da wollte ich seine Neue Musik auch nicht hören. Manfred Gräter, den ich als späteren Kollegen im WDR nie kennenlernte, aber sein frühes Buch hat mich durchaus beschäftigt, zu Zeiten wo mir Hindemith noch das Maß der Moderne bedeutete.

Um so willkommener der neue Anstoß.

https://lenitiv.notion.site/Adorno-Audiothek-2f95092d2b2645d7a1d82b11df50bce0

Zur Adorno-Audiothek Hier !!!!

Ein Beispiel:

Adorno über Popmusik

Die ästhetischen Grausamkeiten der Beatles

hier

Mienenspiel (ein Leben)

Wie wir denken und fühlen

Prinzessin sein

    

10 Jahre später: Übung

Augen, Nase, Mund?

Kein Selbstportrait (Rihanna?)

Wiederum 10 Jahre später: Zum Studium der Anthropologie

HIER 

Was gibt es noch? Weitere Beispiele für „Kultur-Anthropologie“: Hier

Visuelle Anthropologie Hier Weiteres (aus München) Hier

Osteuropa betreffend: hier Wiki hier  Mediathek Osteuropa hier

Großstadt hier

Wie [man] das Leben gestaltet.

Der suggerierte Zusammenhang einer Geschichte in diesem Blog-Verlauf ist ziemlich frei erfunden bzw. assoziiert (JR). Dank an Eos!

Individuum:

2022

Alle Fotos ©

[ Lesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische_Anthropologie hier ]

Lebensstile

Wie kam ich drauf? (Eine Sammlung)

90er Jahre: Gerhard Schulze

30 Jahre später: Andreas Reckwitz

Einiges zum Einlesen:

Wikipedia Erlebnisgesellschaft

Was ist Lebensstil nach Wikipedia? hier

Gunnar Otte hier , auch z.B. hier

Lebensstil-Forschung hier

Vera Allmanritter Veröffentlichungen hier

Vera Allmanritter über Lebensstile u. Kultureinrichtungen hier

Ich wollte vermerken, wie ich drauf kam:

durch die Zeitschrift „das Orchester“, das Magazin für Musiker und Management, hier drei Ausschnitte, die ich mir vorgemerkt hatte, es lohnt sich aber auch, die Web-Seite zu beachten, selbst wenn man nicht einem Orchester angehört, sondern – sich einfach für Musik interessiert. HIER

aus dem Editorial der Zeitschrift „das Orchester“

Leitartikel

Ausschnitt, der die zentrale Thematik betrifft:

Eben die Frage, wieso es der Bildenden Kunst gelingt, ein lebendiges, fluktuierendes Publikum anzuziehen… Man müsste die ästhetischen Fakten berücksichtigen: dass Musik-Erleben zum Stillsitzen zwingt, dass man Zeit investieren muss, jedenfalls nicht nach Einschätzung und Interessenlage freiwillig gewähren oder entziehen kann. Dass die Musik, das Hören, keine Distanzwahrung anbietet, – in einer Bilderausstellung bleiben die Nicht-Fachkundigen unauffällig, sie husten auch nicht, sie müssen sich nicht offenbaren, die Verweildauer wird nicht gemessen oder vorgeschrieben. Die Saaltüren werden nicht geschlossen. Man kann hinausgehen und vor allem: man kann zum Kunstwerk zurückkehren, wenn man sich eine erste Übersicht durch gemütliches Flanieren verschafft hat, man kann ins Café gehen und sich unterhalten…

Alles nur Äußerlichkeiten? Wie schon die Werbung für Bilderausstellungen im Vergleich zu Konzertplakaten zeigen…

Wieviele CDs findet man, die von vornherein so fesselnd wirken wie etwa die hier abgebildete?

P.S. Ich habe diesen Artikel hochgeschaltet, obwohl ihn im Moment niemand braucht, nicht einmal ich selbst. Man muss allerdings arbeiten, wie man es gewohnt ist, auch wenn man unterschwellig mit den Gedanken ganz woanders ist. Man liest ja auch in der Tageszeitung weiterhin die Kulturseiten und das Feuilleton, um nachher ratlos zurückzukehren, zu den aktuellen Seiten des Hauptteils, zu den Kommentaren, die eigentlich wenig hinzufügen zu dem, was man im Fernsehen oder im Internet gesehen und gehört hat. Man wird die Bilder und Ängste nicht los, auch wenn man ans Klavier geht und über Musik nachdenkt. Was man auch tut und denkt, ist entwertet. Und trotzdem ist es besser als eine selbstverordnete Schockstarre.

Aus diesen Gründen auch die Link-Empfehlung: Axel Brüggemann in Crescendo. Er schrieb:

Seit dieser Woche geht es um eine grundlegende Frage: In welcher Kultur wollen wir leben? Ich finde, unsere Kultur lebt von Meinungen, von Vielfalt, von Rede und Gegenrede – und immer von: Respekt und Humanität. Dort, wo andere Menschen verletzt, angegriffen oder gar getötet werden, ist es die Verantwortung aller Kulturschaffenden, gemeinsam aufzuschreien! Es zeigt sich, dass die Netzwerke von Wladimir Putin tief in unseren kulturellen Alltag eingreifen, und ich befürchte, es bedarf aller Kultur-LiebhaberInnen, das jetzt schnell und ohne weitere Eiertänze zu erkennen und unsere Kultur zu schützen! Es ist die Zeit zu handeln. Deshalb heute ein etwas anderer Newsletter als sonst.
WEITER: HIER
*    *    *
Im übrigen empfehle ich (mir und anderen),
die Analyse von Herfried Münkler zu studieren,
die in der heutigen (2.3.22) Frankfurter Rundschau
abrufbar ist, und zwar: HIER

Die Situation der Klassik im Entertainment

Inas Nacht

Wenn ich bedenke, dass die Bach-Sonaten und -Partiten mit Leonidas Kavakos (wie so vieles anderes) bei Sony Entertainment herausgekommen sind, überlege ich, womit die „große Klassik“ eine solche Rubrizierung verdient hat. Ich weiß: Hofmusik, Tanzboden und was man da alles beschwören kann. Geschenkt.

Ich habe etwas übertrieben: das Label heißt Sony Classical, immerhin, und ist nur unter dem großen Dach von Sony Music Entertainment im weiten Sinne beheimatet, wie das Leben insgesamt ja nichts anderes ist als Unterhaltung, sagen wir,  im allerweitesten Sinne.

Wenn ich mich nun selbst selbst tief in der Nacht entertaine und das Fernsehen eingeschaltet habe, lande ich nicht ungern bei Inas Nacht und bin bereit, sowohl Ina Müller als auch Peter Heinrich Brix zur Kultur zu zählen, hoch oder tief, ich weiß es nicht. Speziell musikalisch sind sie durchaus, und besonders der Gast ist dazu noch für diese Sendung ein Idealfall an Witz und Verschmitztheit. Ich lache mindestens ebensoviel wie der mitwirkende Shantychor, der die entsprechenden Gags mit der Unisono-Strophe „What shall we do“ bedenkt, die wie der Tusch in der Büttenrede fungiert. Dankbar für diese Lach-Anlässe notiere ich quasi als Volkes Stimme, was die beiden Protagonisten einander und mir über Klassik mitteilen.

Inas Nacht mit Peter Heinrich Brix und Anja Kohl NDR 19.02.22, 00:30 Uhr, HIER ab 15:09

Müller: Lieber zum Heavy Metal oder zum Open-Air-Festival gehen?

Brix: Da geh ich mal zum Heavy Metal. Weil, ich muss zugeben, die Hochkultur ist für mich auch in weiten Teilen … nicht erschlossen. (Lachen im Hintergrund) Bildungsmangel! (Nee nee!) Aber manch einer, der (Händeklatschbewegung) da sitzt (klatscht + vielsagendes Lächeln).

Müller: … das ist einfach nicht Bildungsmangel, sondern es ist, finde ich, einfach Geschmacksache. Ich saß neulich in einem Liederzyklus-Abend und dachte, ich glaube der Liederzyklus wird mich nicht schaffen! (Lachen) also – das ist dann die Elbphilharmonie, die kennt man dann irgendwann und steht da einer mit dem Flügel und singt Musik, die du nicht kennst … Frühlingszyklen, ich weiß nicht was, alles hört sich „geht-so“ an, und es dauert zwei Stunden…

Jaja, ich sach ja,

… das kannst du heute nicht mehr machen!

Ja, aber es gibt auch Leute, die das — die damit durchaus was anfangen können, die da mehr drüber wissen, die das noch erreicht, wie soll ich das erzählen, äh, ich glaub, dass — du hast keinen Zugang!

Kuckst du dir denn mal so ne Mozart-Oper an (er hebt das frischgefüllte  Bierglas) in der Hamburger —

Nee! (beide prosten sich zu)

Lachen, Einwurf Shantychor „What shall we do with the drunken sailor“, bis etwa 16:32

Was mag es gewesen sein, was Ina Müller in die Elbphilharmonie getrieben hat? Vielleicht die Veranstaltung zum Internationalen Welt-Mädchen-Tag hier ? Oder gab es „Die schöne Müllerin“? Da könnte sie geschmackvollerweise eine Karte geschenkt bekommen haben.

Bei der Imagination der Szene in der Elbphilharmonie jedenfalls, ob großer oder kleiner Saal oder irgendwo noch viel kleiner, fiel mir ein Satz aus Thomas Manns Novelle „Tristan“ ein. Da wird in einer Gesellschaft Musik am Klavier dargeboten, Nocturnes von Chopin, es ist die klassische Salon-Situation, und dann endlich: Tristan, vermutlich Vorspiel und Liebestod.

Unterdessen hatte bei Rätin Spatz die Langeweile jenen Grad erreicht, wo sie des Menschen Antlitz entstellt, ihm die Augen aus dem Kopfe treibt und ihm einen leichenhaften und furchteinflößenden Ausdruck verleiht. Außerdem wirkte diese Art von Musik auf ihre Magennerven, sie versetzte diesen dyspeptischen Organismus in Angstzustände und machte, daß die Rätin einen Krampfanfall befürchtete.

Nein, der Liebestod erfolgt erst viel viel später, Hörnerklang, offenbar der ganze zweite Akt bis zu Brangänes Habet-Acht-Gesang. Ach Ina, wer das kennte! Es ist Geschmackssache, aber wer will schon so lange bei der Rätin Spatz sitzen…

Es hilft nichts, ich muss mehr von der Geschichte preisgeben, die ich mir damals, am 22. November 1963 für die Ewigkeit vorgemerkt habe, wohl auf einer Bahnreise, denn ich habe, vielleicht für den Fall, dass ich den voluminösen Band irgendwo liegen lasse, vorn die vollständige (studentische) Heimadresse eingetragen: 5 Köln-Niehl / Feldgärtenstrt. 154 bei Heinen.

Quelle Thomas Mann: Sämtliche Erzählungen S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 1963

Der folgende Link nur für den Fall, dass ich vergesse, wie die Klassik heute als Erfolgsunternehmen zugerichtet wird:

BERLIN Opus Klassik: Hier https://www.zdf.de/kultur/opus-klassik/opus-klassik-2022-100.html hier

Musik und Allmacht

Lieber das Buch lesen oder ein solches Gespräch hören?

Je länger, desto motivierter. Und erst recht, wenn die beiden Protagonisten auf die Musik zu sprechen kommen, – der die grenzenlose Verfügbarkeit Schaden zufügt. Es sind wohl Pop-Hörer, aber was sie sagen, gilt auch in der Klassik.

Pressetext Suhrkamp

Unverfügbarkeit

Das zentrale Bestreben der Moderne gilt der Vergrößerung der eigenen Reichweite, des Zugriffs auf die Welt: Diese verfügbare Welt ist jedoch, so Hartmut Rosas brisante These, eine verstummte, mit ihr gibt es keinen Dialog mehr. Gegen diese fortschreitende Entfremdung zwischen Mensch und Welt setzt Rosa die »Resonanz«, als klingende, unberechenbare Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt. Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. Das Ergebnis dieses Prozesses lässt sich nicht vorhersagen oder planen, daher eignet dem Ereignis der Resonanz immer auch ein Moment der Unverfügbarkeit.

Mit dem Resonanz-Phänomen hatte ich mich damals auseinandergesetzt. Kritisch? Rat an mich also: noch einmal ansehen, präparieren, repetieren:

Resonanz

Subreption

Unruhe und rasender Stillstand

Ethnologie im Alltag

Musikbezug ab 34:50 (Umgang mit CD, physischen „Konserven“ ↔ Spotify, youtube u.ä):

Oder hier:

https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-236.html hier

ZDF Pressetext

Was macht das mit unserem Bewusstsein von der Welt und von uns selbst? Bekommen wir das Leben durch diese digitale Welterweiterung besser in den Griff oder verlieren wir es aus dem Blick? Macht die digitale Technik uns freier und mächtiger oder abhängiger und ohnmächtiger? Darüber spricht Richard David Precht mit dem Soziologen Hartmut Rosa.

Plädoyer für „Unverfügbarkeit“

Hartmut Rosa beschäftigt sich als Wissenschaftler und Autor mit der digitalen Moderne und hält ein leidenschaftliches Plädoyer für die „Unverfügbarkeit“, wie er es nennt. Unverfügbar sind all die Dinge in unserem Leben, die sich nicht nur unserer, sondern auch der digitalen Kontrolle entziehen können.

Das zentrale Versprechen moderner Technologie sei doch die Bequemlichkeit, so Richard David Precht im Gespräch mit Hartmut Rosa. Mit ihr können wir mühelos über uns und die Welt verfügen und sie kontrollieren. Wir sehnen uns danach, eine immer komplexere Wirklichkeit beherrschbarer und zugänglicher zu machen. Das sei doch das natürliche Streben des Menschen, spätestens seit er vom Jäger zum Sammler wurde.

Trügerisches Gefühl von Allmacht und totaler Kontrolle

Entscheidend dafür, dass die Wahrnehmung der Welt wirklich glücken kann, hält Hartmut Rosa dagegen, sei eine lebendige Resonanz zu den Menschen und Dingen. Diese Wechselbeziehung gehe verloren. Viele dieser ursprünglich lebendigen Verbindungen werden in unserem modernen digitalen Lebensgefühl immer indirekter und eindimensionaler. Und wir wiegen uns, so befürchtet Rosa, in einem trügerischen Gefühl von Allmacht und totaler Kontrolle, das uns letztlich von der Welt zu entfremden droht.

Wir sind immer weniger auf andere Menschen angewiesen und verlernen dadurch, mit dem Unberechenbaren umzugehen. Wie zum Beispiel Touristinnen, die eine Kreuzfahrt mit „Polarlichtgarantie“ oder eine Safari mit „Löwengarantie“ buchen und ihr Geld zurück haben wollen, wenn die versprochenen Naturereignisse ausbleiben. Sie haben ein anderes Verhältnis zum Leben und zur Welt als ein Mensch, der sich darüber freuen kann, dass plötzlich und unerwartet der erste Schnee fällt.

Scheinbar immer weniger angewiesen auf andere, machen wir uns gleichzeitig immer abhängiger von einer Technik, die jederzeit funktionieren und verfügbar sein soll. Trotz des enormen technischen Fortschritts bekommen wir aber weder globale Krisen wie den Klimawandel noch die Corona-Pandemie in den Griff. Hier droht für Hartmut Rosa die Unverfügbarkeit ins Monströse umzuschlagen, in einen völligen Kontrollverlust.

Ganz in der Tradition der kritischen Theorie sucht und forscht der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa nach Gegenkonzepten zu unserer allgegenwärtigen Erfahrung der Entfremdung und Beschleunigung. In seinem Buch „Unverfügbarkeit“ macht er das moderne Streben nach vollkommener Verfügbarkeit und Kontrolle für ein Verstummen der Welt verantwortlich. Wie die menschliche Beziehung zur Welt glücken könnte, hat er in seinem Werk „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“ untersucht.

Das Buch ist da:

Die neue Nähe „von fremden Ländern und Menschen“!

Serien unerhörter Klangreisen

Zugabe (1 Minute live)

Was ist eine Kamancheh? Zum ersten Kennenlernen siehe hier.

Als Robert Schumann die wunderbare Einleitung seiner „Kinderszenen“ op.15 mit dem Titel versah „Von fremden Ländern und Menschen“, hat er wohl nur ein Gefühl unbestimmter Sehnsucht gemeint, ohne die Fremdheit wirklich musikalisch darstellen zu wollen. Hier haben wir nun Gelegenheit, die andere, fremde Seite der Musik aus eigenem Herzen reden zu hören, und das kann vielleicht ganz ähnliche Gefühle auslösen. Wenn der Künstler dabei die Erkundung seines Instrumentes in den Vordergrund stellt, tut er nichts anderes, wenn wir seine Worte recht verstehen: Er spricht von den Geheimnissen der iranischen Musik, von der verzweigten Theorie des Dastgah (Modus) und den Formen der Improvisation, die sich im Daramad einer Tontraube aus wenigen Tönen manifestiert. Äußerlich betrachtet, spricht er zwar von den Techniken seines Instrumentes, alten und jetzt von ihm neu erfundenen, aber, so hebt er hervor, „es versteht sich von selbst, dass [sie] nicht an sich das Ziel des Musizierens darstellen. Sie sind […] notwendige Mittel für die Entstehung neuer musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten.“ Und am Ende findet er sie „in einer unaussprechnlichen Sehnsucht nach etwas Unbekanntem […], das dennoch dem Künstler seelisch so nah ist. Er möchte diese unbekannte Nähe berühren.“ Misagh Joolaee : Unknown Nearness.

UNKNOWN NEARNESS

IDENTIGRATION

(und – eben angekommen: dieses Foto)

Post von Hans Mauritz aus Assuan

Zu dem Namen Parviz Meshkatian, der oben in der CD „Unknown Nearness“ in Tr.5 erscheint, kommen mir unauslöschliche Erinnerungen, die sich mit dem folgenden Link hier verbinden. Und in der Wiki-Biographie von P. Meshkatian taucht ein weiterer Name auf, der mich in meine Kölner Studienzeit bei Prof. Marius Schneider und Prof. Josef Kuckertz zurückversetzt; lebendige Gespräche und die ersten Begegnungen mit lebendiger iranischer Musik im WDR (Khatereh Parvaneh, Faramars Payvar, Hossein Tehrani,1972), eine Atmosphäre der Sympathie, die bis heute nachwirkt: Mohammad Taghi Massoudieh.

und darin folgendes Daramad:

Was für eine Gelegenheit, die Liebe zur iranischen Musik nun auch von der Verpflichtung zur universitären Theorie zu lösen und in neuen, intelligenten Erscheinungsformen wirklich zu genießen! Im bloßen Hören! Wobei ich keineswegs den Gebrauch der Notenschrift kritisieren möchte, der hier im Umgang mit einer vor allem mündlich und in realer Spielpraxis überlieferten „Musik des Orients“ wichtig wird. Es ist ein dialektischer Prozess (geworden).

    *    *    *    *    *

Der Begriff „Identigration“ ist ein Kunstwort, sicher kein besonders schönes, aber die Bestandteile Identität und Integration sind heute in aller Munde und geben Stoff für härteste Diskussionen. Hier  scheinen sie versöhnt; oder sie sind es sogar. Mit den Worten des Booklets:

Alle Musiktitel machen Mehrfachidentitäten hörbar und sind von Orchestermitgliedern maßgeschneidert komponiert bzw. arrangiert für die einmalige Besetzung von Instrumenten und Musiker*innen-Persönlichkeiten. Aufgrund ihrer unterschiedlichen musikalischen Ausbildung vermitteln die Orchestermitglieder europäische, arabische und persische Klassik sowie Jazz, Folklore und zeitgenössische Musik. Damit trägt das Bridge-Kammerorchester einen eigenen Beitrag zur Erweiterung.

Das Bridge-Kammerorchester entstand 2019 als Klangkörper der transkulturellen Frankfurter Musikinitiative Bridges – Musik verbindet, die seit 2016 Musiker*innen mit und ohne Flucht- und Migrationsgeschichte zusammenbringt.

Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, aber jedes einzelne Stück der CD erzählt vom Gelingen des Projektes. Es entstand keine leicht konsumierbare  World Music, wie sie in den 80er Jahren vielfach zusammengerührt wurde, indem man Gitarren-Akkorde untermischte und Pop-Rhythmen einbezog, und tatsächlich ist es wohl auch die Verschriftlichung, die eine musikalische Professionalität garantiert. Der hörbare Erfolg beruht nicht einfach auf einer cleveren Management-Idee. Man liest und betrachtet auch das Booklet mit Freude. Kein Wort zuviel, keine Farbe zu wenig, keine humanitäre Aufschneiderei, es geht um nichts als Musik. Und während ich bei mir ab Tr. 8 relativierende Tendenzen beschwichtigen musste (Achtung – karibisch-gefällige U-Musik), rate ich heute manchen Freunden, lieber bei Tr. 8 zu beginnen und dann erst auf Anfang zu gehen. Und bitte sie, nicht von Vierteltonmusik sprechen, das klingt fast so abschreckend wie einst Zwölftontheorie. „Die persische Vierteltonskala Chahargah“, so zu „Silk Road“ Tr.1, die „auf europäische Harmoniekonzepte von Dur- und Molltonalität“ trifft, gibt es nicht; es gibt darin einzelne Töne, deren Intonation von westlichen Skalen um etwa einen Viertelton abweicht. Und das ist von einer wunderbaren Wirkung, wenn man es weiß – und nicht für ungenau intoniert hält. Auch wenn man einen Grundton hört, dem nicht ein Leiteton vorausgeht, sondern die kleine Terz darunter, sagen wir: wie bei einem umgekehrten Kuckucksruf, aber eben nicht die „korrekte“ kleine Terz, sondern der um einen Viertelton tiefere, abweichende Ton, eine sog. neutrale Terz. Man hört es auf Anhieb in dem folgenden kleinen Lehrbeispiel, passen Sie nur auf: Sie verstehen die iranische Sprache!

Ich liebe diese Skala bzw. diesen Dastgah, seit er mir 1972 in der ersten iranischen „Nachtmusik im WDR“ so unglaublich expressiv entgegentrat, im kleinen Sendesaal des Funkhauses (später füllte ein iranisches Konzert spielend den großen Sendesaal, und dann ebenso die Kölner Philharmonie).

WDR-Karteikarte mit Kopie aus dem Buch von Ella Zonis „Classical Persian Music“ Harvard 1973.

Wie schön eröffnet dieser Dastgah auch die CD mit einem großen Thema, das zu dem Stück SILK ROAD gehört, komponiert von Pejman Jamilpanah: „Seidenstraße“; das ist also der alte Handelsweg, der für den jahrhundertelangen Austausch von Waren und Kultur zwischen Orient und Okzident steht. Hier wird am Anfang der Grundton umkreist, und der höhere Ton (von dreien) klingt ebenfalls „neutral“, es ist keine kleine Sekunde und keine große, sondern ein 3/4 -Tonschritt. Und die von mir hervorgehobene, zum Grundton aufspringende Terz ist so – kadenzierend – erst ganz am Schluss zu hören. Aber er ist als Ton natürlich fortwährend in der Skala präsent, in diese ist er ja oft genug melodisch eingebunden. Es wäre gar nicht dumm, an einem so gut gelaunten Stück auch das genaue Hören bzw. das Hören einer klaren Skala zu üben. Ausgangsmaterial einer wohlgeformten Melodie. Ich habe sie mir provisorisch notiert und wundere mich, dass sie nicht symmetrisch ist. Wahrscheinlich stimmt meine Takteinteilung nicht. Aber so kann ich synchron mitsummen und eine korrekte Intonation üben auf den Tönen d und a, die in Chahargah eben einen Viertelton tiefer intoniert werden, daher in den Vorzeichen die Striche durch den „b-Hals“.

Dann setzt der Rhythmus ein, und die Melodie wird auf verschlungenen Pfaden fortgeführt, unberechenbar, ein fragiles Miteinander, feine Kontrapunkte, und darin immer wieder diese süßen Intervalle, die eine Missdeutung in Richtung Dur oder Moll unterbinden. Ich spiele die CD selten ohne solche Stücke sofort zu wiederholen, und wenn ich mich unterwegs daran zu erinnern versuche, habe ich zuerst diese Töne und ihre besondere Farbgebung im Ohr.

Das nächste Stück, dem die CD ihren Titel verdankt, enthüllt erst ganz allmählich seinen Jazz-Hintergrund, in dem Peter Klohmann zuhaus ist. „Gleichzeitig entstehen durch die Verwendung von Fusion-Skalen und Harmonien mit uneindeutigem Geschlecht tonal-heimatlose, schwebende Klänge und eine stilistische Breite, die von Klassik über Jazz mit Einflüssen indischer und orientalischer Couleur bis zu Disco- und Funk-Sounds reicht.“ So steht es im Booklet, Werbeslang denke ich und bin vom ersten quasi improvisierten, rufartigen Flöten-Einstieg gefesselt, dann von den parallel geführten Clusterakkorden, komplexen Mixturen aller Art, Tablarhythmen, werde fortwährend sinnlich und irgendwie sinnvoll beschäftigt: im Nu sind spannende 11 Minuten vorüber. Die Neugier bleibt.

Tr. 3 erinnert auf Anhieb an den Orchesterklang der großen Aufnahmen mit Oum Kalthoum, der „eingetrübte“ Dreiklang, das folgende Streicher-Unisono, – schwierig für ungeübte westliche Hörer aus heiklen Gründen… es bedarf einiger Worte. Mit meiner Begeisterung für arabische Musik bin ich in den 60er Jahren oft auf Unverständnis gestoßen, selbst gute Freunde haben mit verlegenem Kichern reagiert. Und ich wusste warum! Aber ich konnte die Ursache nicht „weg-erklären“. Eine frühe WDR-Sendung, in der ich es versuchte, hieß „Trivialität und Finesse“. Denn meine musikalischen Freunde lachten nicht über „Fremdheit“, sondern über scheinbar „Triviales“ oder sogar Banalitäten. Z.B. über Sequenzen, das allzuleicht Vorausberechenbare (mit kleinen „Fremdheitspartikeln“ darin), die „schmalzigen“ Tonübergänge. Ich wusste, da hilft nur eins: Hören, immer wieder und noch einmal: Hören. Dann verändert sich die Musik in unseren Ohren. Ich hatte arabische Musik aufgeschrieben und dabei jede Wendung 10mal, 20mal und öfter vom Tonband abgehört. Ich vergesse nie das Lautensolo „Taksim Souba Bouzk“, – und noch keine Ahnung hatte, dass der Aufdruck bedeutete: „Vorspiel im Maqam Saba auf dem Bouzok (Zupfinstrument)“, und dass Saba mein Lieblingsmodus werden sollte, – bis ein libanesischer Musiker behauptete, das sei die Hure unter den Maqamat. In der vorliegenden Komposition kommt er auch vor, wenn ich mich nicht irre (obwohl das Stück insgesamt im „Bayati“ steht):

Und wenn die Terzparallelen in Flöte und Klarinette auftauchen, könnte ein Kind sagen: sowas  kenne ich doch aus unserm Kanon „O wie wohl ist mir am Abend“. Die Mutter stimmt zu: Nein, das kann nicht echt arabisch sein!  Als ich klein war, staunte ich auf Schulbusfahrten, wenn lauthals „Hoch auf dem gelben Wagen“ angestimmt wurde und die Mädchen es immer fertigbrachten, die Schlusszeile in Terzen hinzukriegen! Ich sage das nicht, um mich lustig zu machen. In andern Weltregionen hat diese Zweistimmigkeit eine andere Bedeutung. Und ich traue mir selbst nicht, wenn ich sage, dieses „Sama’i Bayati“ auf der CD „Identigration“ gefällt mir besser als die „authentische“ (?) Version des Syrischen Nationalorchesters, die lange vor dem furchtbaren Krieg entstand:

Und ich wünschte, ich hätte Gelegenheit, eine liebevolle Beschreibung dieser Komposition, ihrer Substanz (!), von einem syrischen Musiker zu lesen; schon das neue Arrangement erzählt einiges, z.B. dass trotz des ersten Taktes in „d-moll“ keine Harmonik im westlichen Sinn zur Kolorierung verwendet wird. Sie würde die melodische Charakteristik des Maqam Bayati zerstören:

 ©Walid Khatba

Ich liebe dieses Stück. Aber warum – bleibt mir ein Rätsel. Ich höre es mit Vorliebe zweimal hintereinander, genieße die Nuancen der verschiedenen Melodieabschnitte, samt Terzenparallelen. Ich liebe aber auch den Übergang zum nächsten, einem der berühmtesten Stücke „unseres“ Barock-Zeitalters. Ich selbst habe oft die Corelli-Variationen darüber gespielt, aber immer in dem Bewusstsein, dass die Melodie (als feierlicher, stolzer Tanz) aus Spanien stammt. Ebensogern identifiziere ich mich mit dieser neuen Version, genieße die phantasievoll angereicherten Variationen, die Rolle der orientalischen Instrumente, die Oud-Terzen, die wunderschöne Bläser-Kombination in der langsamen Variation, in der darauf folgenden das herrliche Gewimmel, das Blech, die Mandoline (?) usw.usw. – darf man das Stück so vertändeln? Gewiss doch, mehr denn je! Und vor allem das Ensemble als Ganzes in Aktion zu erleben.

An dieser Stelle sei ganz kurz erläutert, worin musikalisch gesehen des Problem einer Ost-West-Fusion liegt: Die Vielfalt der orientalischen Skalen – Maqam, Dastgah, Raga, wenn man dafür überhaupt das Wort Skala anwenden darf – findet ihren westlichen Widerpart nicht in der Dualität von Dur und Moll, sondern in deren Harmonik, die nicht von ihrer Geschichte ablösbar ist. Die entsprechenden Skalen gibt es im Orient, wenn man sie so pauschal bezeichnen darf, unter hundert anderen auch. (Samt ihren „Vierteltonabweichungen“.) Aber deren feine Abstufungen kann man mit den 3 – 4 Kadenzakkorden nach den Regeln des Generalbasszeitalters leicht zugrunderichten. Und das ist vielleicht implizit im folgenden Text mitgedacht, der nur von Skalen handelt, oder von den tonalen Mustern, die sie bilden. Harmonik oder Kontrapunktik – gegenläufige Stimmen – gibt es nur andeutungsweise, mit Vorsicht und Geschmack eingesetzt.

Termeh ist eine typische persische Webkunst mit traditionellem Bothe-Muster, das in Europa als Pasley-Muster bekannt wurde. Jamilpanah vertont die Farbenvielfalt des Temeh in der typischen Vierteltonskala Afshari und thematisiert am Ende des Stücks die Begegnung von Orient und Okzident, indem er das Stück in einer Dur-ähnlichen Skala enden lässt.

Zu den erwähnten Mustern siehe hier und hier  Zur Biographie des Komponisten/Instrumentalisten hier, über eine andere „Bridges“-Formation hier.

Ein im Westen ausgebildeter Gitarrist wie Dennis Merz hat selbstverständlich eine enge, professionelle Beziehung zur westlichen Harmonielehre und wird sie auch anwenden, wenn er Musik arrangiert. Im Fall der Bulgarischen Volksmusik gibt es bereits eine Tradition, dass sie innerhalb der Kunstmusik von bulgarischen Komponisten so eingesetzt wird, dass ihre besondere Charakteristik respektiert wird, ähnlich wie es Béla Bartók mit der ungarischen Bauernmusik gehalten hat. Der von B.B. oft behandelte und so genannte „Bulgarische Rhythmus“ im 7/8 (aus 4 + 3) ist, wie er natürlich wusste, nur einer von vielen asymmetrischen Rhythmen, die gerade in der bulgarischen Musik besonders geläufig sind, was ein kurzer Blick in den MGG-Lexikon-Artikel „Bulgarien“ von Lada Braschowanowa zeigt. Davon sollte eigentlich jeder musikalische Mensch eine gewisse Kenntnis haben. Und der Track 6 unserer CD, „Bucimis“, gibt dazu attraktiven Stoff. Man versuche einmal, das Hauptthema einzuordnen. Die Takbezeichnung ist 15/8, bestehend aus 8 + 7 Achteln, darin die 8 in 4mal 2 gruppiert, die 7 in 3 plus 4 .

Oben: Anfang der Partitur von Dennis Merz

MGG Art.Bulgarien

In dem zweiten der auf der rechten Seite gegebenen Rhythmen müsste also in die Reihe der Zweier-Gruppen nun noch eine weitere eingefügt werden, so hätten wir den 15er-Takt (statt 13). Um einen Fachbegriff zu erwähnen: man nennt diese Rythmen additiv (statt divisiv wie in klassischen Taktarten). Kleiner Tipp, dieses Thema beim bloßen Hören recht zu verstehen (Musiker*innen versuchen gern mitzuzählen): Der allererste Ton ist kein Auftakt, sondern der Taktbeginn. Man beginne das Stück so oft von Anfang, bis man es genau erfasst hat. Das ist keine private Pedanterie, es macht uns alle musikalischer, und man spürt das bereits beim bloßen Zuhören, noch besser: es physisch nachzuvollziehen.  Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem WDR-Konzertmeister Paraschkevov, der mir einen Rhythmus demonstrierte, indem er die Tanzschritte ausführte. Das gehört bei uns zum Musikunterricht der Streicher und Pianisten, sagte er, und als ich eines Tages ein Kammermusikfestival in Plovdiv besuchte, kaufte ich mir dort die täglichen Studien von André Stoyanov, die ich heute noch übe. Leider bin ich weit davon entfernt, ein Meister zu werden; ich bin allenfalls ein – Liebender. Ein Dilettant im besten Sinne des Wortes. Ich liebe diese Übungen:

Die bulgarische Tanzfolge, die Dennis Merz erarbeitet hat, ist natürlich trotzdem nicht als Etüde für ein gelehriges Publikum gedacht: sie erzählt eine Geschichte. Sie beginnt „folkloristisch“und „migriert“ im zweiten Satz in die europäische Klassik.

Später stoßen Elemente aus andern Kulturen wie Flamenco und Latin hinzu, bis letztlich alle Stile in einem Schluss-Kanon verschmelzen: Inklusion. Die bewusst gewählten Satzbezeichnungen Herkunft – Migration – Inklusion zeigen im übertragenen Sinne die Bereicherung von Kultur durch Migration.

Ein optimistisches Programm also, das vielleicht reichlich  didaktisch wirken würde, wenn es nicht so hinreißend interpretiert wäre; zudem auch eine schöne gedankliche Brücke zu dem übernächsten, lateinamerikanisch inspirierten Werk darstellt, „La Suite“ von Andrés Rosales. Allerdings lauert nach den bulgarischen Rhythmen eine ganz andere Gefahr für Leib und Seele: „Spiegelung in der Ferne“, eine melodische Vision sondergleichen, angeblich ein bekanntes mongolisches Volkslied, aber sobald man begreift, was für eine gewaltige Melodie diese Sängerin da über den ruhenden Haltetönen ausspannt, in den Himmel zeichnet, aus der gurgelnden Tiefe lockt, es ist fast nicht zu begreifen. Vielleicht ist es für mongolische Ansprüche ganz normal und seit alters vertraut, – von ganz anderer Wirkung jedoch, wenn man diesem offengelegten, kraftvoll zelebrierten „Naturpathos“ zum ersten Mal begegnet , – man braucht sich der Tränen nicht zu schämen! Es ist wirklich ein Wunder. Vielleicht irre ich mich und bin doch durch Hörerfahrungen mit Musik aus Tuva, dem winzigen Nachbarland der Mongolei vorgeprägt, zuletzt hier. Aber zum Glück ist es nicht nur ein „Intro“, es dauert, eine wunderbare 5-Minuten-Spanne, und man nimmt ebenso dankbar noch den angehängten Tanz mit dem Rhythmus der Pferdehufe entgegen…

Klicken! Lesen!

Man kann sich leicht vorstellen, dass ein solch bunt gemischtes CD-Programm auch Widerspruch erzeugt. Als würde hier auf Biegen und Brechen etwas zusammengebracht, was nicht zusammen gehört, als sei süffiges Lateinamerika die Belohnung für befremdende Asiatica. Und die allzu eiligen Versöhner – das eine wir das andere missverstehend – erwiesen sich doch als die Grobiane, die von den feinen Unterschieden nichts begreifen. Aber da macht man es sich zu einfach und sieht nicht die Arbeit, die in einem solchen Unternehmen steckt, die scheinbar heillosen Diskussionen, die vorausgegangen sind, die gescheiterten Zwischenlösungen, die Skizzen und Vorstudien, aus denen am Ende eine akribisch notierte Partitur hervorging. Und dann kommt jemand und sagt: die Notation ist das Ende aller wildwüchsigen künstlerischen Hoffnungen, die Figur des Dirigenten da vorn erübrigt den Traum einer Gemeinschaft von Individuen und autonomen Künstlern. Wissen wir denn, wie strikt die Regeln der Tradition den Einzelnen bevormunden, welche rhythmischen Freiheiten ein 15/8-Rhythmus dem bulgarischen Trommler überhaupt noch einräumt?

Es sind übrigens gerade die besonders engagiert Musikbeflissenen, die kaum je mit „echter“ Volksmusik zu tun gehabt haben und dann doch als erstes „Authentizität“ einklagen. Auch wenn man den Verdacht hegt, dass sie im Leben nicht eine halbe Stunde opfern würden, um einem bulgarischen Schäfer, der Kaval oder Gajda spielt, aufmerksam zu lauschen. Und gehört nicht die Einsamkeit, die Stille, die Schafherde, der Dorfplatz, die Kenntnis der Tanzschritte dazu? Hat Béla Bartók seine geliebten Bauernweisen etwa einem westlichen Publikum einfach so vorgepfiffen, wie er sie in aller Präzision im Gedächtnis bewahrte? Genau so, wie er sie aufgezeichnet hatte? Nein, er hat sich an den Steinway im Konzertsaal gesetzt, oder ein ganzes Orchester bemüht, um gerade die städtisch geprägten Ohren zu erreichen und zu überzeugen.

Ich habe viel über Bartók nachgedacht, nachdem ich aufgehört hatte, „von fremden Ländern und Menschen“ nur zu träumen und eines Tages sogar in die glückliche Lage kam, für den WDR in die entlegensten Dörfer Rumäniens oder Ostserbiens reisen zu müssen. Oder auch 1974 zum Frühlingsfest in Mazar-e-Sherif, dem heute vielgenannten Ort, der damals noch am Ende der Welt lag, und als ich zurückkehrte, war das für mich die schönste Volksmusik, die ich je gehört hatte, und zwar von Menschen, die mir weniger fremd erschienen als die meines westfälischen Heimatdorfes, wo die Welt noch einfach gewesen war, – nur eben ohne Musik. Bei meinen Großeltern gab es nach dem Krieg immerhin ein von Mäusen zerfressenes Harmonium und eine Fabrikgeige mit dem Zettel „Stradivarius me fecit“. Musik als Rätsel des fernen Vaters.

„Bucimis“ Letzte Seite (51) Fine 9:25 Partitur von Dennis Merz (Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis)

©Dennis Merz

*     *     *     *     *

Ein Versuch zu erklären, weshalb ich in dieser Form über eine so rühmenswerte und schöne Serie von Aufnahmen schreibe, statt den Text auf genau das zu beschränken, was zur Sache gehört. Ich arbeite ja nicht für eine Schallplatten-Revue, verteile keine Noten, mache kein Ranking, würde mir nicht erlauben, den Track 8 negativ zu beurteilen, weil er mich an Operettenstil erinnert; natürlich würde es mich ärgern, wenn jemand eine afghanische Melodie ins Hip-Hop-Genre überträgt, diese Art von Fusion hat eine Null-Bedeutung. Es ist zu leicht, das eine dem andern zu überstülpen, ohne es verstanden zu haben, wenn also nur ein gewisser Wiedererkennungswert ausgenutzt wird. Es kommt auch immer drauf an, wer sich was „unter den Nagel reißt“. Und ich bin nicht prädestiniert, die Reinheit der Musikkulturen zu überwachen, weiß allerdings, dass es angreifbar ist, von einer Kultur in die andere zu switchen, als sei das ein Leichtes, es ist Mangel an Respekt. Wenn jemand den bulgarischen Rhythmus 12 12 123 so interpretiert, dass die 123-Gruppe eine Triole ergibt, so kann ich mich ohne Hochmut distanzieren. Es würde ja bloße Simplifizierung bedeuten, die auf einem Missverständnis beruht. Da hat die Aufklärung immer Vorrang. Andererseits kann ich mich auf einen gewissermaßen egozentrischen Standpunkt zurückziehen: es geht nicht um Schweigen, Abschließen und Verbieten, sondern um Öffnen, Lernen und Kommunizieren. Niemand verlangt die absolute Nachahmung jeder nur möglichen, anderen Kultur, was auch bedeuten würde, eigene Bräuche und Fertigkeiten zu eliminieren oder zurückzudrängen. Daher sage ich lieber: es geht um die Erweiterung der eigenen Musikalität, nicht um die Reduzierung. Daher rede ich von mir, statt allein von anderen Künstlern zu reden, die ich bewundere. Und hier schreibe ich eher ein Logbuch von eigenen Klangreisen, zugleich als einen Kommentar der Reisen, die von anderen real und imaginativ geleistet wurden und die ich letztlich nur indirekt nachvollziehen kann. Nochmal: es geht um Musikalität, – und wie immer und überall: um lebenslanges Lernen.

*     *     *     *     * 

Die in diesem umfassenden Sinne anregende und weiterführende, kluge und hochmusikalische CD „Identigration“ …

… kann man natürlich auch bestellen für 22 € (plus Versandkosten) und zwar unter folgender Mailadresse: bestellung@musikverbindet.de /  – dabei nicht vergessen: die eigene Postanschrift für Versand und Rechnung.

Und nochmals sei die anfangs erwähnte CD hervorgehoben: UNKNOWN NEARNESS s.a. hier

Meine Arbeit hat – wieder einmal – keinen Abschluss gefunden, der Mai-Anfang wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Der Frühling macht ernst. Aber wieder einmal gab es die fatale Kollision von Öffentlichem und Privatem, Außen und Innen, das jeder kennt, in meinem Fall quasi symbolisch angezeigt mit einem roten Auge am 1. Mai, der Begegnung mit Zakir Hussain im Internet am 2. Mai (Thema Percussion Global Celebration) und der Lektüre des Tageblattes am 3. Mai (Thema „Identitätspolitik“, es geht „um Kultur, Würde und Anerkennung“ und es ist Internationaler Tag der Pressefreiheit, aber „noch nie gab es so viel Aggression“) und um 9:05 h hatte ich meinen zweiten Impftermin in Solingen-Mitte, der Arzt dort gab Entwarnung bzgl. meines roten Auges. In einer Woche ist das vorbei. Aber morgen könnte Schüttelfrost kommen. Bis jetzt (4.Mai 9:45 h) habe ich Glück gehabt.

Tag der Pressefreiheit

Banalität des Alltags

Identität

„In der Gesellschaft tobt eine Debatte“ s.a. WAZ hier

Passend dazu: eine neue Erinnerung, die Druck macht – zweifellos, es ist Goethes „Faust“!

Aktuelles am 17.5.21 vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik

Diese CD stand übrigens auch in der Jury „Traditionelle ethnische Musik“ zur Debatte, dort wurde letztlich – mit gutem Grund – die folgende Sammlung ausgezeichnet:

Weiteres hier – hören Sie dort z.B.

35.

oder

98.

CORONA verstehen

Ein neues Vorwort zur Warnung

Ich war hochgemut gestimmt, als ich diesen Artikel entwarf und sozusagen die Lektüre noch als Aufgabe für mich selbst betrachtete, ohne schon alles gelesen zu haben, was ich da empfahl. Inzwischen hat sich vieles verändert, ich bin zwischendurch völlig ausgestiegen, das Verlangen nach einer sorgfältigen Überarbeitung wurde immer stärker, der Eindruck, dass der Fachjargon doch wohl so nicht zumutbar sei. Ich müsste eine andere Reihenfolge der Themen versuchen, eine Umgestaltung, allerhand eigene Kommentare einfügen usw. – aber es ist klar, dass ich das nicht leisten kann. Ich will so bald wie möglich zur Musik oder anderen mir näherliegenden Themen zurückkehren und nicht zu einem Hobby-Epidemiologen mutieren. Meine Sorge um das Interesse der Gutwilligen gebot mir vorzuschlagen, nur das zu lesen, was mir am ehesten eingeleuchtet hat, es folgt auf die Überschrift:

PLURV-Prinzip

Alles lesenswert! (Aber auch schon bekannt.) Oder ich nehme folgenden Abschnitt (Linkeinfügung von mir):

Jetzt kommt also ein Virus, das trifft auf eine Population, wo es einen leichten Immun-escape bewerkstelligen kann. Jetzt denken wir uns mal: Da waren vorher 50 Prozent de facto immun, davon 30 Prozent richtig knallhart immun und 20 Prozent grenz-immun gegen das bis dato zirkulierende Virus. Grenzimmun heißt in meiner Vorstellung: Die können sich noch infizieren, aber die werden nicht mehr so schwer krank, weil das Virus schon ganz schön gebremst wird, sobald es eine Infektion setzt. Im Hals muss es schon wieder aufhören, weil die Antikörper das schon wieder abbremsen. Das ist also alles noch nicht T-Zell-Immunität. Jetzt kommt ein Virus, das zeigt einen leichten Escape. Und plötzlich sind diese 20 Prozent Grenzimmunen nicht mehr ausreichend immun. Die können sich wieder richtig infizieren. Außerdem noch die 50 Prozent in der Bevölkerung, die noch keinen Kontakt hatten. Und jetzt haben wir wieder offene Türen für eine rasende nächste, zweite Welle.

Und dann schimmert bereits ein Unbehagen an der volksnahen Ausdrucksweise durch:

So muss man sich das vielleicht grob und hemdsärmelig vorstellen, was in Manaus wahrscheinlich passiert ist, was man in Südafrika erlebt hat, jetzt über den späten Herbst und die Wintermonate mit der 1351-Mutante.

Zitat Drosten. Am Ende driftet das Gespräch für meine Begriffe sogar etwas ins unfreiwillig Komische ab, wenn Frau Schulmann sagt:

Über verschiedene Strategien im Umgang mit der Pandemie spricht auch die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim mit meinem NDR Kollegen Norbert Grundei, im Podcast „Die Idee“. Mai Thi ist YouTuberin und hat mehr als eine Million Abonnentinnen und Abonnenten auf ihrem Funk-Kanal maiLab. Ich habe gesehen, Herr Drosten, dass Sie ihr bei Twitter gratuliert hatten, als sie zur Journalistin des Jahres 2020 gekürt wurde. Kennen Sie sie auch persönlich?

usw.

(JR) Ich neige selbst zu größter Bewunderung einiger Wissenschaftsjournalist*innen, deren Artikel ich in den großen Zeitungen lese. Auch zur Bewunderung derer, die imstande sind, Kritiken solcher Artikel zu schreiben, aber ich habe keine Lust oder Begabung, diese kritischen Behandlungen selbst vorzunehmen. Ich würde sie im vorliegenden Fall, da ich die Kompetenz des Wissenschaftlers Christian Drosten keinen Moment bezweifle, auch nur auf die fachlich vorgeprägte Sprache und die  journalistische Darstellung insgesamt beziehen. Vielleicht ein andermal, – aber jetzt ist mir das Thema zu ernst, um mich weiter daran zu üben. Vielleicht füge ich an dieser Stelle hier ein, was mir in Zukunft noch Lesens- und Lernenswertes zur Pandemie begegnet. Ich werde auch die ganze NDR-Veröffentlichung noch gründlicher studieren. Aber im Moment verabschiede ich mich aus diesem Blog-Artikel. (Sonntag, 11.04.2021, 10 Uhr)

 *     *     *     *     *

Die Lage im April (begonnen am 9.4.2021, 10 Uhr JR)

Es ist keine Kleinigkeit, sondern ein Jahrhundertereignis, das ALLE und zugleich jeden persönlich angeht. Man verlangt also von sich selbst durchaus nicht zuviel, wenn man MEHR oder potentiell sogar ALLES Wesentliche darüber wissen will. Warum soll man die Corona-Situation nicht so ernst nehmen, dass man die Veränderungen der aktuellen Lage nicht nur fürchtet, sondern auch die Art der neuen Bedrohung ganz genau zu verstehen sucht? Mich hat der NMZ-Newsletter daran erinnert:

Wir hoffen sehr, dass wieder mal etwas für Sie dabei ist. Unsere Themen kreisen ja wie in einem Magazin kreuz und quer durch das Musikleben. Was Sie sicher hier nicht bekommen: Mathematische, epidemiologische, virologische und statistische Berechnungen in Sachen Bewältigung der Corona-Pandemie. Da werden Sie ganz sicher an anderer Stelle fündig. Aber gerade deswegen liegt es mir am Herzen, auf den letzten Podcast mit Christian Drosten im NDR hinzuweisen. Denn dort streifen Sie am Rande viele wichtigen Fragen zum Thema. Das machen die Moderatorin und der Experte in Folge 81 mit so viel Sachlichkeit und Fachkenntnis, die man sich in derlei Diskussionen sonstwo nur wünschen kann. Das ist kein Showlaufen. 

Dank also an die NMZ, die Neue musikzeitung www.nmz.de !

Die NDR-Wissenschaftsredakteurin Beke Schulmann spricht mit Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Charité Berlin: unter anderem über den Umgang mit der dritten Welle, die laufenden Modellprojekte und die Frage, wie sich ein einfacher Schnupfen auf eine Infektion mit dem Coronavirus auswirken kann.

HIER

Das Interview mit Christian Drosten beginnt mit einer der vorangestellten Übersicht der behandelten Themen, in deren Behandlung man dann direkt per Klick springen kann.

Stattdessen findet man im folgenden auch den Fließtext als Ganzes:

Coronavirus-Update: Die Lage ist ernst

Hier

Nur ein kleiner Hinweis vorweg (JR) / wach bleiben! Ich bin gleich bei der zweiten Antwort des Virologen über einen Satz gestolpert, den ich kurz auflösen will:

Drosten: Wir wissen relativ gut, dass die aktuellen Impfstoffe eine Immunität hervorrufen gegen die die südafrikanische und die brasilianische Mutante einen Escape zeigen. Das heißt in Neutralisationstests im Labor, wo wir Antikörper mit Virus zusammenbringen und dann sehen, dass die Virusinfektion ein bisschen schlechter abläuft.

Es fehlt schlicht ein Komma vor gegen die die , und gleich danach weiß ich nicht unbedingt, was ein Escape ist. Ich ahne es nur:

Als Immunevasion (von lateinisch evadere „entkommen, entrinnen“, englisch immune evasion oder immune escape) bezeichnet man einen Vorgang, bei dem Pathogene mithilfe von Mutation oder spezifischen Mechanismen einer Erkennung oder Abwehr durch das Immunsystem entgehen.

Das Zitat stammt aus Wikipedia. Somit bedeutet das wohl, dass diese Virus-Mutanten ihrem Feind, dem Impfstoff, ausweichen können. Aber was heißt dann: dass die Virusinfektion ein bisschen schlechter abläuft (?). Sie gelingt trotz unserer Maßnahmen leichter. Das Wort „schlechter“ ist schlecht.

Wenn ich recht habe, bedeutet das erhöhte Wachsamkeit: es handelt sich um die Niederschrift eines gesprochenen Interviews – mit neuen Missverständnismöglichkeiten. Wenn mir noch mehr passiert, werde ich auch das notieren…

Es gibt aber auch Leute, die besser hörend als lesend verstehen. (Wie meine Tochter in frühen Jahren, die, wenn ich ihr einen Text zu lesen geben wollte, sagte: „lieber erßählen!“ Dabei las sie gut, aber besser Noten als Buchstaben).

Sie können leicht über den ersten, oben gegebenen Link in den Text kommen, jedoch darin auch zum Original-Interview vorstoßen, um es akustisch weiterverfolgen, sobald Sie dort die folgende Schaltfläche sehen:

*    *    *    *    *    *

An dieser Stelle können Sie frühestens nach einer Stunde angelangt sein. Plus Pause.

Als Ergänzung habe ich dann die Ausführungen des Philosophen Nida-Rümelin nützlich gefunden, die ich vage in Erinnerung hatte: gehört bei Markus LANZ (https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-7-april-2021-100.html) und wiedergefunden:

HIER / Ab ca. 32:55 Julian Nida-Rümelin: aus der Pandemiekrise etwas lernen! Wenn man einmal den globalen Blick einnimmt, das fällt manchen schwer, und dann kommt immer das Kulturargument, ich verstehe das Argument gerade bei Ostasien überhaupt nicht. Was sind die Regionen auf der Welt, die am schlechtesten herausgekommen sind? Nicht Afrika, und auch nicht Ostasien. Nicht einmal Südasien. Sondern Europa und Südamerika. Das sind die beiden Regionen mit der höchsten Mortalität weltweit. Mit Abstand die höchste Mortalität! das heißt: da ist was schief gelaufen. Wenn das in Südamerika passiert, sagen manche, na ja, Schwellenländer, funktioniert nicht so richtig. Chile ist, was Impffortschritte angeht, weit weit weit vor Europa, Chile! Wir schaun mal auf die Daten. Was ist in Ostasien? Das sind Demokratien, da gibt es auch ne große Diktatur, China, mit Maßnahmen, die wir nie akzeptieren könnten. Aber liberale Demokratien wie Südkorea. Übrigens auch Australien, Neuseeland, nicht nur asiatische Länder, sondern Länder, die in dieser Region sind, haben es gut gemacht. Thailand! hat es gut gemacht, ne Diktatur, zugegebenermaßen. Singapur hat es sehr gut gemacht. Taiwan, Vietnam! Sie haben auch eine andere Logik von Anfang an gehabt. Ich habe immer gesagt: Leute, bei Exponentialfunktionen, bitte, schaut doch mal hin in eure Lehrbücher in der Schule, da hilft es nur am Anfang! Das hilft, und wenn man das verpasst am Anfang, dann geraten diese Dinge außer Kontrolle. Ich hab überhaupt nicht verstehen können, wie die Ischgl-Rückkehrer in ihre Häuser zurückkehrten und ihre Wohnungen – ohne Quarantäne! Erinnern Sie sich noch? Europa hat sich aufgeregt, als die USA die Grenzen geschlossen hat, – viel zu langsam! Die WHO hat gesagt, wir schauen jetzt mal zu – ich karikiere jetzt etwas, aber nicht wesentlich, ich kann das belegen – wie sich die Risikosituation entwickelt. RKI ebenfalls, ja, wenn man zuschaut, ist es schon zu spät! Das heißt, wir haben am Anfang keine konsequente Containment-Politik gemacht, wir haben alle Empfehlungen des RKI von 2012 missachtet, jahrelang, bis die Katastrophe da ist, und jetzt rettet uns – hoffentlich! – die Impfkampagne. Was würden wir denn machen, wenn das mit dem Impfen – bei andern Infektionskrankheiten 10 Jahre, 7 Jahre, oder vielleicht überhaupt nicht gekommen wäre, wie das bei Aids der Fall ist. Was hätten wir dann gemacht? Wir hätten uns jetzt mit Lockdown zu Lockdown zu Lockdown immer weiter runtergewirtschaftet, bis das Land ruiniert ist? Wirklich? Das kann doch nicht sein. Also wir müssen daraus dringend lernen. Und deshalb möchte ich – wenn ich darf, möchte ich nochmal einen Begriff am Anfang, den wir so schnell abgetan haben, – keine Laschet-Diskussion jetzt, ja? – das mit der Brücke ist nicht so ganz uninteressant. Er spricht von Brücken-Lockdown. Ich weiß nicht, ob er sich die Zahlen angeschaut hat 35:30

(Fortsetzung folgt)

Außerdem unbedingt lesen:

Philosoph Nida-Rümelin plädiert für Öffnung von Kultureinrichtungen Hier

Prof. Michael Meyer-Hermann, Physiker MMH
Der Systemimmunologe vom Braunschweiger Helmholtz Zentrum erstellt Risikoeinschätzungen zum Verlauf von Epidemien. Er analysiert das Corona-Infektionsgeschehen in Deutschland.

sehr überzeugend!

siehe Lanz 29. April 2021 HIER ab 4:13 Bericht über die Situation in Indien / ab 14:14 MMH zum Indien-Bericht / ab 17:43 Das ist etwas, was wir uns merken sollten: (…) in England hat man’s gesehen, in Irland, in Portugal…, in dem Moment, wo man diesem Virus Raum gibt, breitet es sich aus, und es kümmert sich überhaupt nicht darum, was für Verluste dabei entstehen. Und das ist ne Sache, die wir uns merken sollten, wenn wir hier der Meinung sind, dass wir hier hohe Inzidenzen tolerieren können. (18:12)

18:50 … es ist noch schlimmer. Ich hatte ja gehofft, nachdem ich gesagt habe, dass man schon reagiert, und nicht erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wir haben ja eigentlich viele Chancen: wir habe jetzt die Impfung, die wirkt, die wirkt sich auch epidemiologisch langsam aus, im Mai wird man das auch merken, jede Impfung ist auch eine Reduktion der Reproduktionszahl, also ein Hoffnungsschimmer, wir haben ja Möglichkeiten, die Situation besser in den Griff zu kriegen, und das Wetter wird besser, – nicht gerade heute -, aber grundsätzlich wird es wärmer, wir haben also auch da die Möglichkeit, dass eventuell die Reproduktionszahl etwas runtergeht, aber wir machen einen grudnsätzlichen Fehler, und der spiegelt sich eigentlich auch in dem neuen Gesetz: (…) dass wir jede Hilfe, die von außen, also Impfung dazukommt, ausgleichen und zunichte machen, indem wir denken, dass wir dann mit Öffnung das ganze wieder zu null machen. Also wir öffnen in dem Moment, wo die Impfung anfängt zu wirken. Und wir öffnen in dem Moment, — also das ist eigentlich ne Chance, weil – wir haben ja durch die Impfung die Chance, die Zahlen runterzubekommen. Das wäre eine zusätzliche Möglichkeit, mit der man erreichen könnte, niedrige Inzidenzen zu bekommen. Und was wir machen, ist, wir öffnen, damit einfach nichts passiert und die Inzidenzen gleich bleiben. Und das ist die grundsätzliche Strategie, die auch in dem Gesetz drinsteckt. In dem Gesetz, das ist ja ne Notbremse, genau das, keine Lösung (ML es klingt eher nach Verzweiflungstat), was passiert denn jetzt? Es passiert, dass wir die Fallzahlen kontrollieren, durch irgendwelche Kontakbeschränkungen, dann geht sie unter 100, dann machen wir auf, dann gehen sie wieder über 100, – immer ein bisschen verzögert, weil – es gibt ja diese Zwei-Wochen-Frist, dann gehen sie wieder rauf, dann machen wir wieder ein bisschen mehr Druck, dann gehen sie wieder runter, so – Yoyo – dieses berühmte Wort -, und das kostet die Gesellschaft unglaublich viel. 20:50 In jeder Hinsicht, wirtschaftlich, bildungstechnisch, psychosozial, auf allen Ebenen verlieren wir mit dieser Taktik, die das in die Länge zieht, und zwar auf Ewigkeit. Wir können das natürlich in Ewigkeit auf 100 lassen, aber das ist ja keine Lösung dieses Problems. Und wenn man jetzt mal einen Moment lang daran denkt, wo wir noch vor ein paar Wochen noch waren, da hatten wir eine Inzidenz von 35 als Schwellenwert, und was würde das jetzt kosten, wenn wir bei 35 die 35 jetzt halten anstatt der 100, wirtschaftlich, bildungstechnisch, psychosozial? exakt das gleiche! Wir haben gar keinen Vorteil durch die 100. Aber es gibt einen massiven Unterschied: wir haben dreimal soviel Tote. Ist das irgendwie sinnvoll? dass wir uns hinsetzen und mit den Maßnahmen, die gleichen Maßnahmen den gleichen gesellschaftlichen Schaden erzeugen, bei 100 und bei 35, und dreimal soviel Tote in Kauf nehmen? Warum machen wir das? Ich versteh es nicht. Ich komm nicht dahinter 21:52 Und es gäbe eine ganz einfache Lösung. Der Schwellenwert, das wäre die Krankheit. Der Schwellenwert ist einfach nicht der Wert, wie wir mit den Zahlen runterkommen. Wir müssten ein anderes Kriterium haben. Anstatt zu sagen, bei 100 machen wir wieder auf, bei 35 machen wir wieder auf, – das ist immer die gleiche Sache, wir laufen dann immer mit Reproduktionszahl gleich 1, das Kriterium sollte sein, dass wir in jeder Woche die Fallzahlen, die neuen Fallzahlen, um 20 Prozent senken. Das wäre ein Kriterium! (ML) Wenn Sie weniger als 20 Prozent schaffen, dann muss man eben die Kontaktbeschränkungen machen, und auf diese Weise kommen Sie ganz allmählich runter in den Niedrig-Inzidenz-Bereich. Das habe ich aber auch allen gesagt. 22:41