Archiv der Kategorie: Medien

Christian Schneider – unvergessen

Die Oboe und TIBIA

Ein Nachruf auf Christian Schneider in TIBIA

Am 20. Juni 2021 ist der Oboist und Professor an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und ehemaliger Mitherausgeber der TIBIA, Prof. Christian Schneider, verstorben. Mit ihm verlieren wir einen der prägendsten Hochschulpädagogen für Oboe der letzten Jahrzehnte, einen renommierten Musiker, einen leidenschaftlichen Sammler und Kenner ethnischer Oboeninstrumente, einen akribischen Forscher, einen feinfühligen und großherzigen Menschen.

Christian Schneider wurde 1942 in einer Musikerfamilie geboren: Sein Vater Michael Schneider war gefragter Konzertorganist und Hochschullehrer, seine Mutter und sein Großvater hatten Klavier und seine Großmutter Gesang studiert. Christian Schneider selbst lernte zunächst Geige, musste aber bald feststellen, dass seine Hand dafür zu groß und sein fünfter Finger zu kurz waren: So wechselte er im Alter von 15 Jahren zur Oboe, die ihm ein Nachbar in die Hand gab — und hatte auf diesem nahezu zufälligen Weg sein Instrument gefunden: Bis ins Alter hinein begannen seine Augen bei einem schönen Oboenton zu glänzen, dessen Nähe zur menschlichen Stimme ihn von Beginn an faszinierte. Zum Studium zog es Christian Schneider ins geteilte Berlin, wo er an der Hochschule der Künste (heute UdK) Oboe bei Karl Steins, Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker unter Furtwängler und dann Karajan, sowie Musikwissenschaften an der FU studierte. Im Anschluss an sein Studium wurde Christian Schneider Solo-Oboist zunächst der Bochumer Symphoniker und von 1972–1992 der Düsseldorfer Symphoniker/Deutsche Oper am Rhein.

Auch außerhalb des Orchestergrabens war er als Oboist aktiv, unter anderem in gemeinsamen Konzerttourneen mit seinem Vater, bei zahlreichen Einspielungen für verschiedene Plattenfirmen — und in den ersten Ensembles, die sich der Historischen Aufführungspraxis verschrieben hatten: Gut erinnere ich seine Erzählungen von seinem ersten Auftritt mit dem Collegium Aureum, für den er wohl recht kurzfristig angefragt worden war und also nur einige wenige Wochen hatte, um sich auf einer wohl „scheußlichen“ Kopie einer Barockoboe zurechtzufinden… Es folgten Engagements bei der Capella Coloniensis, der Camerata Instrumentale und der Hamburger Telemann-Gesellschaft, und auch wenn er seine Tätigkeit als Barockoboist schließlich einstellte und seinen spielerischen Fokus wieder voll auf die moderne Oboe richtete, blieb er der „Szene“ und ihren Protagonisten stets überaus freundschaftlich und wohlwollend verbunden: Dies belegt auch seine Tätigkeit als Mitherausgeber der TIBIA, für die er zahlreiche Fachartikel zu oboengeschichtlichen Themen sowie Musikerporträts verfasste (s. u.).

Überhaupt war es Christian Schneider eine Herzensangelegenheit, seine Erfahrungen und sein Wissen mit anderen zu teilen und an die jungen Generationen weiterzugeben: Parallel zu seinen musikalischen Aktivitäten unterrichtete er zunächst als Lehrbeauftragter und ab 1992 als ordentlicher Professor in der Nachfolge Helmut Huckes die Oboenklasse an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und bildete dort eine Vielzahl junger Oboisten aus, die bis heute prominente Stellen an Hochschulen und in führenden Orchestern wie dem Gürzenich Orchester Köln oder dem Bayerischen Staatsorchester bekleiden. Als wacher Zuhörer und einfühlsames Gegenüber widmete er sich mit größter Aufmerksamkeit seinen Studenten und neben seinen hervorragenden fachlichen Fähigkeiten war es diese menschliche Feinfühligkeit und Offenheit, die ihn zu einem einzigartigen Pädagogen machten: Er motivierte seine Studenten dazu, ihren individuellen Weg zu finden und zu gehen und unterstützte sie darin nach Kräften. Beispielsweise war er derjenige, der mir als Schülerin, von meiner Begeisterung für die Blockflöte und die Alte Musik wissend, eine Barockoboe samt Rohr in die Hand drückte („Probier’ doch mal“) und den Kontakt zu seinem Freund Alfredo Bernardini herstellte: Eine Starthilfe und Unterstützung, für die ich ewig dankbar bin.

Auch in internationalen Meisterkursen in Europa, Japan und den USA ging Christian Schneider seiner Leidenschaft fürs Unterrichten nach. In bester Erinnerung sind auch die Sommerkurse in der Nähe seines Hauses in Südfrankreich, die stets mit Besuchen auf Rohrholzplantagen der Firma Rigotti verbunden wurden.

Eine weitere große Leidenschaft hatte Christian Schneider für Oboen der Traditionellen Musik: Unvergessen bleibt die Atmosphäre in seinem Arbeitszimmer in einer schönen Düsseldorfer Altbauwohnung, in welchem neben Büchern hunderte Oboen aus allen Ecken der Welt an den Wänden vom Boden bis unter die hohen Decken aufgereiht standen: ein einmaliger Anblick. Was im Jahr 1974 mit einem Geschenk, einem Volksinstrument aus Afghanistan, begonnen hatte, wurde zu einer regelrechten Sammelmanie, stets verbunden mit akribischer Forschung. Reiselust für abenteuerliche Reisen mit seiner Frau in die entlegensten Winkel Asiens, Kontaktaufbau und -pflege zu Spezialisten, größte Achtung vor den Traditionen fremder Kulturen und eine unglaubliche Begeisterung für die unterschiedlichsten Oboenklänge waren der Nährboden für diese einzigartige Instrumentensammlung, die immer wieder auch in Ausstellungen präsentiert wurde. Nach seinem Ruhestand im Jahr 2007 widmete sich Christian Schneider mit besonderer Aufmerksamkeit der Dokumentation seiner Sammlung; eine mühevolle Arbeit, die durch gesundheitliche Probleme zunehmend erschwert wurde. Dank der unendlichen Unterstützung durch seine Frau liegt nun im Privatdruck der Band Der Magische Klang — Eine Reise in die Welt der traditionellen Oboeninstrumente vor, der in seiner so liebevollen und in jeglicher Hinsicht hochwertigen Gestaltung ein wunderbares Zeugnis dieser einzigartigen Leidenschaft darstellt. Die Sammlung selbst ist inzwischen als Teil der Ethnologischen Abteilung der Staatlichen Museen zu Berlin an Christian Schneiders Studienort zurückgekehrt.

Die Welt der Oboisten, die Welt der Hochschullehrer, die Welt der Instrumentensammler, das Team der TIBIA trauert um einen ihrer bedeutendsten Protagonisten und ist dankbar für viele Jahre des gemeinsamen Musizierens, der intensiven Ausbildung, der bereichernden Gespräche, der guten Zusammenarbeit und der klugen Ratschläge. Auf den Bühnen, in den Hochschulen und in der Forschung rund um die Oboen dieser Welt wird sein Schaffen noch lange nachklingen.

Clara Blessing (Quelle des Textes und der unten folgenden Liste: www.moeck.com/tibia/ Portal für Holzbläser)

abrufbar HIER

oben: Köthener Bachfesttage 2018, Eröffnungskonzert | Midori Seiler, Clara Blessing, Köthener BachCollektiv (Vimeo Folkert Uhde u.a. hier)

Beiträge von Christian Schneider in der Zeitschrift Tibia (in chronologischer Folge):

Biographisches zu Clara Blessing, die den Nachruf auf ihren Lehrer Christian Schneider geschrieben hat. Sie gehört heute schon zu den herausragenden Erscheinungen der jungen Generation, die das Spiel der historisch adäquaten Instrumente nicht als exotische Sonderleistung betrachtet, sondern als selbstverständliches Ausdrucksmittel, wie man im obigen Vimeo überzeugend erleben kann. Weiteres auf der Website (mit Klangbeispielen) : hier.

Im folgenden die früheste Aufnahme, die mir von Christian bekannt ist (mit moderner Oboe):

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15 Jahre später 

oben: Rundschau 26. November 1986

unten: Christians letztes Werk. (Das Foto im Epilog zeigt ihn mit „historischer“ Oboe.)

Erhältlich über Clara Blessing hier.

Die Situation der Klassik im Entertainment

Inas Nacht

Wenn ich bedenke, dass die Bach-Sonaten und -Partiten mit Leonidas Kavakos (wie so vieles anderes) bei Sony Entertainment herausgekommen sind, überlege ich, womit die „große Klassik“ eine solche Rubrizierung verdient hat. Ich weiß: Hofmusik, Tanzboden und was man da alles beschwören kann. Geschenkt.

Ich habe etwas übertrieben: das Label heißt Sony Classical, immerhin, und ist nur unter dem großen Dach von Sony Music Entertainment im weiten Sinne beheimatet, wie das Leben insgesamt ja nichts anderes ist als Unterhaltung, sagen wir,  im allerweitesten Sinne.

Wenn ich mich nun selbst selbst tief in der Nacht entertaine und das Fernsehen eingeschaltet habe, lande ich nicht ungern bei Inas Nacht und bin bereit, sowohl Ina Müller als auch Peter Heinrich Brix zur Kultur zu zählen, hoch oder tief, ich weiß es nicht. Speziell musikalisch sind sie durchaus, und besonders der Gast ist dazu noch für diese Sendung ein Idealfall an Witz und Verschmitztheit. Ich lache mindestens ebensoviel wie der mitwirkende Shantychor, der die entsprechenden Gags mit der Unisono-Strophe „What shall we do“ bedenkt, die wie der Tusch in der Büttenrede fungiert. Dankbar für diese Lach-Anlässe notiere ich quasi als Volkes Stimme, was die beiden Protagonisten einander und mir über Klassik mitteilen.

Inas Nacht mit Peter Heinrich Brix und Anja Kohl NDR 19.02.22, 00:30 Uhr, HIER ab 15:09

Müller: Lieber zum Heavy Metal oder zum Open-Air-Festival gehen?

Brix: Da geh ich mal zum Heavy Metal. Weil, ich muss zugeben, die Hochkultur ist für mich auch in weiten Teilen … nicht erschlossen. (Lachen im Hintergrund) Bildungsmangel! (Nee nee!) Aber manch einer, der (Händeklatschbewegung) da sitzt (klatscht + vielsagendes Lächeln).

Müller: … das ist einfach nicht Bildungsmangel, sondern es ist, finde ich, einfach Geschmacksache. Ich saß neulich in einem Liederzyklus-Abend und dachte, ich glaube der Liederzyklus wird mich nicht schaffen! (Lachen) also – das ist dann die Elbphilharmonie, die kennt man dann irgendwann und steht da einer mit dem Flügel und singt Musik, die du nicht kennst … Frühlingszyklen, ich weiß nicht was, alles hört sich „geht-so“ an, und es dauert zwei Stunden…

Jaja, ich sach ja,

… das kannst du heute nicht mehr machen!

Ja, aber es gibt auch Leute, die das — die damit durchaus was anfangen können, die da mehr drüber wissen, die das noch erreicht, wie soll ich das erzählen, äh, ich glaub, dass — du hast keinen Zugang!

Kuckst du dir denn mal so ne Mozart-Oper an (er hebt das frischgefüllte  Bierglas) in der Hamburger —

Nee! (beide prosten sich zu)

Lachen, Einwurf Shantychor „What shall we do with the drunken sailor“, bis etwa 16:32

Was mag es gewesen sein, was Ina Müller in die Elbphilharmonie getrieben hat? Vielleicht die Veranstaltung zum Internationalen Welt-Mädchen-Tag hier ? Oder gab es „Die schöne Müllerin“? Da könnte sie geschmackvollerweise eine Karte geschenkt bekommen haben.

Bei der Imagination der Szene in der Elbphilharmonie jedenfalls, ob großer oder kleiner Saal oder irgendwo noch viel kleiner, fiel mir ein Satz aus Thomas Manns Novelle „Tristan“ ein. Da wird in einer Gesellschaft Musik am Klavier dargeboten, Nocturnes von Chopin, es ist die klassische Salon-Situation, und dann endlich: Tristan, vermutlich Vorspiel und Liebestod.

Unterdessen hatte bei Rätin Spatz die Langeweile jenen Grad erreicht, wo sie des Menschen Antlitz entstellt, ihm die Augen aus dem Kopfe treibt und ihm einen leichenhaften und furchteinflößenden Ausdruck verleiht. Außerdem wirkte diese Art von Musik auf ihre Magennerven, sie versetzte diesen dyspeptischen Organismus in Angstzustände und machte, daß die Rätin einen Krampfanfall befürchtete.

Nein, der Liebestod erfolgt erst viel viel später, Hörnerklang, offenbar der ganze zweite Akt bis zu Brangänes Habet-Acht-Gesang. Ach Ina, wer das kennte! Es ist Geschmackssache, aber wer will schon so lange bei der Rätin Spatz sitzen…

Es hilft nichts, ich muss mehr von der Geschichte preisgeben, die ich mir damals, am 22. November 1963 für die Ewigkeit vorgemerkt habe, wohl auf einer Bahnreise, denn ich habe, vielleicht für den Fall, dass ich den voluminösen Band irgendwo liegen lasse, vorn die vollständige (studentische) Heimadresse eingetragen: 5 Köln-Niehl / Feldgärtenstrt. 154 bei Heinen.

Quelle Thomas Mann: Sämtliche Erzählungen S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 1963

Der folgende Link nur für den Fall, dass ich vergesse, wie die Klassik heute als Erfolgsunternehmen zugerichtet wird:

BERLIN Opus Klassik: Hier https://www.zdf.de/kultur/opus-klassik/opus-klassik-2022-100.html hier

Corona Bedenken!

Leicht greifbare Informationen der letzten Tage

Nach einer allmählich lähmend wirkenden Überdosis Lanz haben wir Maybritt Illner eingeschaltet, eine gute Entscheidung. Interessante Politiker in einem erstaunlichen Colloqium. Für mich überraschend die Wiederbegegnung mit Daniel Cohn-Bendit, den ich seit seiner frühen radikalen Zeit schätze (wie auch Walter Mossmann, der 1976 und 1985 in der Matinee der Liedersänger auftrat).

Cohn-Bendit zur Corona-Politik, zu Impfpflicht und Föderalismus, im Blick auf Nachbarländer  hier (Ausschnitt 2:50)

Bei Maybritt Illner in ZDF Mediathek HIER / verfügbar bis 16.12.2022 /  Cohn-Bendit über Fußball, Kimmich ab 36:20 (auch: Mbappé), weiter bis zu dem Fehlversuch, ein Gedicht zu verlesen, – ab 45:50 – Friedrich Merz könnte ihn diskret gehindert haben, wollte ihn aber nicht bloßstellen (im Internet war der Fake bereits aufgedeckt, siehe nach dem Foto) .

Bildschirmfoto Daniel Cohn-Bendit

Hier die Richtigstellung zum angeblichen Tucholsky-Gedicht, das auf den Plattformen fleißig weitergereicht wurde.

Wichtiger war aber Cohn-Bendits Hinweis auf Habermas, dazu folgender Link:

Hier Spiegel-Artikel über Habermas und die Revision seiner Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Weitere Links zur rechtlichen Situation betr. Corona- und Impf-Politik

Hier t-online Kommentar zur Corona-Omikron-Impfpflicht: Wo beginnt die Freiheit, wo endet sie?

Hier Wikipedia zu Florian_Harms

Hier  Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier: „Das Vertrauen ist dramatisch erschüttert“

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Ist dieser Blogbeitrag tendenziell? Vielleicht, jedenfalls bin ich dreimal geimpft und rate es auch allen Menschen, die sich noch nicht entschließen konnten.

Nachtrag 24. Dezember 2021

Die Empfehlung des Deutschen Ethikrates zum Nachlesen: Hier

Bedenken dazu hier (Frauke Rostalski, Mitglied des Ethikrates)

Gibt es eine „Kakofonie der Wissenschaft“?

Ausschnitt aus einem sehr lesenswerten Interview mit Christian Drosten

 

Quelle Süddeutsche Zeitung 23./25./26.Dezember 2021 Seite 16f  Deutschlands zweiter Corona-Winter / Ein Gespräch / „Man kann sich da nicht vornehm raushalten“ / Christian Drosten ist der Pandemie-Erklärer der Nation: Deutschlands Top-Virologe spricht über die Omikron-Variante, die Erosion des Vertrauens, Angriffe auf die Wissenschaftler sowie über seine Kririk an den medialen Reflexen / Interview: Christina Berndt und Georg Mascolo

Spiegelbilder

Vor drei Tagen

in Facebook

Pressetext

Die weiblichen Protagonistinnen sind zentrales Element dieses Konzeptalbums. Es präsentiert die Arien als sich gegenseitig spiegelnd: eine Händel-Arie über eine Heldin wird durch eine eher unbekannte Arie über dieselbe Figur komplementiert – so entstand auch der Albumname Mirrors. „Die Hörer:innen können so verschiedene Reflexionen desselben Charakters erleben, als betrachteten sie ihn durch einen zerbrochenen Spiegel“ , erklärt Yannis François, der für die Konzeptualisierung der Aufnahme verantwortlich ist. Die Arien erzählen von Schlüsselmomenten in der psychologischen Entwicklung der Protagonistinnen, beleuchten die Vielfalt emotionalen weiblichen Erlebens und die nachvollziehbaren Perspektiven auf ihr Leben.

Die CD ist eingetroffen:

Beim ersten Hören steigen leichte Befürchtungen auf: Erinnerungen an „Sturm“ – Arien mit Cecilia Bartoli, – das ist hier ebenso bewundernswert wie dort, aber es ist nicht das, was ich mir an einem dunklen Novembertag auflege.

Und dann kommt Track 5. Ein italienischer Topos. Die Entdeckung der schmerzlichen Vorhalte. Ich kenne dies von Pergolesi, natürlich: „Stabat mater“, und von Bach, Praeludium h-moll, Wohltemperiertes Klavier Teil 1, vollendet im Jahr 1722, – da war Pergolesi gerade 12 Jahre alt (1710-1736), ich verzettele mich. Aber dies wunderschöne Werk hier stammt von – Telemann. Erstmals aufgeführt 1704 (Telemann ist im Jahr davor Leiter und Komponist der Leipziger Oper geworden), eine weitere Aufführung folgt zur Herbstmesse 1710. Und woher kommt nun besagter „Topos“ ? Ich dachte an Bachs frühe Kantate 21 „Ich hatte viel Bekümmernis“ , aufgeführt 1714. Schauen Sie auch hier im Blog. Bei Alfred Dürr steht’s:

(Dieses letzte Präludium des WK I) spiegelt unverkennbar den Typus der italienischen Triosonate wieder, wie sie Arcangelo Corelli (1653-1713) in großer Zahl für 2 Violinen und Basso continuo komponiert hat, und die Merkmale der konsequenten Dreistimmigkeit, des melodischen, einander frei imitierenden beiden Oberstimmen sowie des gemessen schreitenden Stützbasses (…) usw. usw.

Natürlich, Corelli, jeder hätte es wissen können, ich sollte es dabei belassen und mich lieber ganz dieser herrlichen Stimme widmen und – wie es mir angeraten wurde – an Händel denken und die entsprechenden Spiegelungen zu schätzen lernen. Ja, aber bin ich nicht gerade dabei? Ich suche einstweilen noch nach den Texten der hier gesungenen Partien… Es dauert eine Weile, ehe ich den entsprechenden Code finde, aber er ist da, unten links:

Photos von Gregor Hohenberg

In der Tat, als ich Jeanine De Bique im Album-Trailer (0:45) von „Barockmusik mit dem ältesten Orchester der Welt“ sprechen hörte, erschrak ich und fragte mich: meint sie unser Ensemble, das Collegium aureum, das noch bis etwa Mitte der 90er Jahre auf Tournee ging? nein, ich sehe junge, sympathische Kollegen, die damals schon erheblich jünger waren als ich, – Freunde, könnte ich fast sagen, die bei Franzjosef Maier in Köln studierten, Markus Hoffmann und Jörg Buschhaus, oder Alexander Scherf, der mir bereits seit Schülerzeiten samt Cello in Solingen begegnete, Jean-Michel Forest (bei Musica antiqua Köln). Ich drifte schon wieder ab. Jetzt geht es also erstmal um die Texte. Der QR-Code links unten führte mich zur Quelle, ohne dass ich sie hier direkt abrufbar machen könnte (aber Sie werden doch wohl Ihr Handy selbst griffbereit haben?) :

Rimembranza crudel / sempre il mio cor fedel / penar farà

Nova Clizia al raggio amante / del suo vago, e bel sembiante / portar lungi il pié non sà.

Die grausamen Erinnerungen / werden mein treues Herz / auf ewig leiden lassen

Wie Klytia, die nach ihrem geliebten Apoll schaut, / vermag ich mich nicht loszureißen / vom Anblick seines schönen Gesichtes.

Eine Kostprobe der ersten Zeile finden Sie hier, im Tracklisting Nr. 5, und wenn Sie es nicht lassen können, schauen Sie dort rechts oben, wie man die CD kostenpflichtig erwirbt. Ich habe es nicht anders gehalten. Habe es aber aufgegeben, weitere Nachforschungen über Opern und deren Plots anzustellen. Händel in Italien, ja, 1709 „Agrippina“ in Venedig (Text: Kardinal Grimani). Telemann 1704 „Germanicus“ , (deutscher ? Text: Christine Dorothea Lachs). Sind beide Agrippinen identisch? Mutter oder Tochter? Ehrlich gesagt: ist mir egal. Allerdings erinnert mich die zweite Zeile der Händel-Arie Tr.4 motivisch an eine Melodie, die ich seit Berliner Liederabenden 1960 (Victoria de los Angeles) kenne und nie mehr wiedergefunden habe: „Violetta graziosa“. Aber auf welche Silben? Eine gute Übung wäre es, „im wildesten Sturm“ den Atem anzuhalten und den rasant skandierten Text zu verfolgen, zur ersten Orientierung im Tracklisting Nr.4, am besten natürlich im Original, als echte Spiegelung im Gehörgang – „al dolce aspetto“ , wie die brillante Oboe als Spiegelung einer ebenso brillanten Stimme:

L’alma mia frà le tempeste / ritrovar spera il suo porto.

Di constanza armato ho io petto, / che d’un regno al dolce aspetto /

le procelle più funeste / son oggetti di conforto.

Inmitten dieser Stürme hofft meine Seele, / ihre frühere Ruhe wiederzufinden.

Ich wappne mich mit Beharrlichkeit, / denn wer den Thron vor Augen hat,

der findet noch im wildesten Sturm /  süßen Trost und Erquickung.

Man kann sich auch prüfen, ob man eigentlich Qualitätsunterschiede feststellt, Personalstile, Zeitstilbrüche (immerhin in einer Spanne zwischen 1704 bis 1745!) – Graun, Telemann, Händel, Gennaro Manna (?), Leonardo Vinci (?), Riccardo Brocchi, und man kann sich einfach freuen, was eine einzige instrumental und expressiv geführte Singstimme im Wechsel mit hervorragenden Instrumentalisten vermag…

ODER? Hätte ich mich dieser CD ganz anders nähern sollen? Nicht als Ahnungsloser mit unberechenbaren Kenntnissen und Vorlieben, Erwartungen und Fehleinschätzungen? Sondern? Natürlich kann ich mich bemühen, den Ideen der Interpreten und Programmgestalter zu folgen. „Über die Musik“ – da steht’s. Mit anderen Worten: ich lese das Booklet und fange mit den letzten Tracks an, 12 und 13. „Vor diesem Hintergrund gibt es wohl keinen geeigneteren Vergleich als ‚Mi restano le lagrime‘ von Broschi bzw. Händel.“ Ach, lesen Sie doch selbst, wenn Ihnen dies Vorgehen nicht zu didaktisch ist. Es ist ja der Aspekt des Dirigenten Luca Quintavalle, und er weiß schon sehr genau, wovon er spricht. Wir aber müssen noch die italienischen Texte nachschauen, ebenso die Übersetzungen, ja, und ihm in seiner irgendwie assoziativen Reihenfolge folgen. Ich habe mir die Tracks hineingeschrieben.

Den Anfang des Textes liefere ich nach und nehme das nette Statement der Sängerin noch dazu:

Nachtrag 19.01.22

Das erwähnte Lied, das ich aus Liederabenden 1960 in Berlin in Erinnerung habe, ist dingfest gemacht!! Christiane Oelze hat mir dank Facebook geholfen, indem sie eine Information aus Neuseeland weitergegeben hat. Es stammt also aus der Oper „Pirro et Demetrio“ (1694) von Allessandro Scarlatti (1659 – 1725).

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Hier eine Aufnahme mit Noten (vorgetragen von einer unbekannten Sängerin), und nachfolgend mit Elly Ameling (ich werde es nie wieder vergessen), vielleicht etwas zu ruhig: Hier.

Wie einen seine Mutter tröstet

Werbung, Musik und Zweifel

„Die Werbung sucht zu manipulieren, sie arbeitet unaufrichtig, und sie setzt voraus, dass das vorausgesetzt wird.“ (Quelle: s.u. „Kommentar“ Video zur Penny-Werbung bei 19:20)

Süddeutsche Zeitung / Zeit der Zärtlichkeit  27./28.Nov. 2021 Seite 17 / Autor: Max Scharnigg

Alles wegtanzen!

Wunschbild Mutter

Kommentar

Trost

CORONA ?

Ja, was man

auch noch sagen sollte,

wurde von Bernd Schweinar gesagt,

bemerkenswerterweise aus dem Pop-Bereich,

heute verbreitet durch den Newsletter der NMZ (Martin Hufner):

Sehr geehrte Newsletterabonnentinnen und -abonnenten,

eine quietschfidele Selbstblockade erleben wir gerade in der Politik Deutschlands. Was die Corona-Pandemie angeht. Man möchte nicht mehr länger zuschauen. Es rappelt und ruppelt mal wieder zwischen Überbrückungsgeld, wildem Gefuchtel mit halbherzigen Entscheidungen.

Ich möchte Sie nicht zu sehr langweilen und greife deshalb auf ein Statement des hochgeschätzten Künstlerischen Leiters der Bayerische MusikAkademie Schloss Alteglofsheim und den Bayerischen Rockintendanten Bernd Schweinar zurück. Der antwortete auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur:

Kultur lebt seit jeher von der Polarisation! Ich bin groß geworden mit Themen wie Friedensbewegung und Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Bei beiden Themen haben zahlreiche Künstler:innen eindeutig und voluminös Position bezogen. Das vermisse ich in der heutigen Pandemieproblematik. Die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft beschwören vielfach nur jene herauf, die selbst die Spaltung betreiben. Kultur darf sich hier nicht einschüchtern lassen. Es geht um nichts weniger, als ein funktionierendes Kulturleben mit Publikum in der Zukunft. Und wer sich durch seine Impfverweigerung ausgrenzt bzw. Kultur damit schädigt oder unmöglich macht, den braucht die Kultur auch in Zukunft nicht mehr als Publikum! Diejenigen will ich persönlich auch gar nicht mehr in einem Konzert sehen. Zudem stelle ich die Fußballfrage auch in der Kultur. Ungeimpfte Künstler:innen brauchen unsere Bühnen nicht, weil sie diese Bühnen im Moment beschädigen! Wenn ungeimpfte Künstler:innen sich eigene Bühnen für ungeimpftes Publikum schaffen – mit eigenem finanziellen Risiko – dann sei ihnen das unbenommen.“

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Und noch etwas zum Lesen, eine Kolumne von Christoph Schwennicke über den wahren Grund für das deutsche Corona-Desaster:

HIER

Reden Wählen

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken

Dies ist fast der Titel eines berühmten Essays von Heinrich von Kleist, woraus ich allerdings gar nichts zitieren will. (Auch dürfte ihm getrost widersprochen werden.) Eher aus einer Talkshow, die mir bei der Verfertigung von Gedanken wirklich hilft. So wie kürzlich Navid Kermani hier (4 Minuten Empörung).

ZITAT (aus diesem Text hier )

Während am Mittelmeer die Wälder brennen, unsere Außenpolitik in Afghanistan zertrümmert wird und die Corona-Zahlen steigen, scheint der Personen-Wahlkampf wie eine intellektuelle Zumutung.

Es gäbe so viel zu diskutieren. So macht sich zum Beispiel die Linke in ihrem Programm ausführlich Gedanken darüber, wie die Energiewende sozialverträglich gestaltet werden kann. Liest man gleiches Thema bei der SPD, so scheint Energiewende kein Sozialthema zu sein. Über solche Unterschiede sollten wir mehr sprechen.

Die entscheidende Frage ist: Was wählen wir denn eigentlich am 26. September? Klar wählen wir indirekt auch den künftigen Kanzler bzw. die künftige Kanzlerin, die das Land ein Stück weit prägen. Aber zunächst einmal wählen wir die neuen Abgeordneten des Bundestags. Menschen, die unsere Interessen in politische Handlungen münden lassen sollen. Die Hälfte von ihnen wird deshalb direkt gewählt, die andere Hälfte über Listen. Den Parteien kommt bei der Wahl eine dreifache Aufgabe zu: Sie kümmern sich zunächst – neudeutsch gesprochen – ums Personalrecruting. Sie bündeln dann politische Inhalte zu Wahlprogrammen. Und sie helfen nach der Wahl dabei, im Bundestag eine Regierung zu bilden. Erst ganz am Ende wird ein Kanzler bzw. eine Kanzlerin gewählt.

Quelle der beiden Zitate siehe oben (Link in Klammern)

Dann „Markus Lanz“, egal wie Sie – liebe Leser/innen – ihn finden, oft erlebt man Sternstunden einzelner Menschen. Große Inspirationen und Ausblicke. Oder einfache und ehrliche Statements. Ich empfehle etwa bestimmte Einstiege, sie finden das zum Beispiel hier (bis 1.9.2022), beginnend mit dem Journalisten Ulf Poschardt ab 1:02:45 , dann gleich anschließend die Juristin Homaira Hakimi  ab 1:10:17 oder auch jederzeit vorher (z.B. ab 48:40).

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Zum Schluss eine Erinnerung an WDR-Freund Klaus Bednarz, der mir 1985 den Weg nach Georgien erschloss (Aufnahmereisen 1986 und 1988), unvergesslich, wie hier in seiner Sendung MONITOR am 8.11.2001 betr. Afghanistan das Gedicht von Theodor von Fontane, bestürzende Daten: 2001 und – 1859.

Dank für den Hinweis an das Ehepaar Hütten.

Volksmusik? Deutschfolk!

Ein Lebenswerk aus Rudolstadt

DAS BUCH

INHALT DES BUCHES

Rezension in der taz hier

DIE CD-BOX (12 CDs)

Der Weg zu Box & Buch: www.noethno.de und www.rudolstadt-festival.de

Nachgeliefert: ein Einklebezettel für die Seite 306 des Buches:

Über Erich Stockmann s.a. Wikipedia hier (ich kannte ihn persönlich, habe aber nie Näheres über seine Frau erfahren, offenbar ist es auch Wiki nicht bekannt): „Es gelang ihm, an die Stelle eines gewissen ‚Europa-Zentrismus‘ in der Musikethnologie die gleichberechtigte Stellung aller Weltkulturen zu setzen.“

Siehe auch hier im Blog http://s128739886.online.de/wdr-im-fokus/

Energie!

Sterben wir doch nicht?

Der Glaube an ein Leben danach hat sehr viel an Boden verloren, insbesondere seit das Christentum kontinuierlich seine ethisch-moralische Glaubwürdigkeit verspielt. Da soll doch niemand mehr durch ewiges Leben belohnt sein. – Rückt dafür der Okkultismus nach, ein Verschwörungszauber für Zurückgebliebene? Oder darf man auf die Überzeugungskraft der philosophischen Methoden bauen, auf Klarheit und Mut zum Denken! Falls sich nicht ein Wahrheitsprinzip schon überzeugend aus der Naturwissenschaft ergibt. Was heute Harald Lesch ist, war früher Hoimar von Dithfurt, der große Aufklärer, und als er älter wurde, – man hatte es schon geahnt – folgte auf all seine wissenschaftsnahen Bücher endlich: „Wir sind nicht von dieser Welt“. Letztlich ohne logische Grundlage.

Den Philosophen Wilhelm Schmid habe ich auch damals schon zur Kenntnis genommen, wir waren zum gleichen Kongress in Dresden eingeladen, 2004, und er hat mich irgendwie als Person beindruckt (mit seinem kleinen Sohn), ohne dass ich seinen Beitrag gehört hätte, und ich hatte auch seine Bücher nicht so verfolgt. Was ich sah, schien mir zu sehr dem Genre Lebensberatung zugeordnet, und damit war ich dank einiger Safranski-Lektüre ausreichend versorgt. Und schauen Sie sich nur die Liste seiner Veröffentlichungen seit 2004 an (hier), – muss man das mitmachen, wenn man im WDR unter Stress steht und ohnehin bald pensioniert wird?

Nun gab es ein unverhofftes Wiedersehen, ich schaltete das Fernsehen in dem Moment ein, als die dunkle Dame begann, von ihrer Jenseitserfahrung zu berichten. Unter den Gästen der Talkshow erkannte ich währenddessen das Gesicht von Wilhelm Schmid und fragte mich, wie er die Erzählerin wohl auf den Boden der Tatsachen zurückführen würde.

Hier ist die SENDUNG Nachtcafé, wenn Sie wollen, beginnen Sie bei Minute 32:00 (bis etwa 36:00), ich habe notiert, was ich seltsam fand:

Beatrice Herbold (heimliche Geliebte von Helmuth Kohl) erzählt:

2004 war ich 30 Minuten nicht mehr auf dieser Welt. Ja, ich hatte vor, ein Bad zu nehmen, und ich hatte auch schon das Wasser einlaufen lassen, hatte meinen Bademantel angezogen, und kurz davor – bin ich umgefallen. Das war so, als ob Sie n Lichtschalter einknipsen oder anknipsen, ich war in einer anderen Welt, die war so schön, dass ich gar nicht wieder zurückgehen wollte. Ich habe gesehen, wie sie aussehen, ich habe das ganze Umfeld, ich habe meinen Großvater gesehen, meinen Onkel usw., und ich hab dann immer gesagt: ich bleib hier. Und mein Großvater hat gesagt: Nein, du musst gehen. Und ich sag: warum? dieses Leben hier ist viel schöner. Und er sagte damals zu mir, nein, du musst zurück, du hast noch was zu erledigen, oder du hast ne Aufgabe, das weiß ich nicht so ganz genau. Ja, und ich kam dann wieder zurück, also ich weiß, dass es das gibt, und das kann ich wirklich bestätigen. Das ist eine sehr sehr schöne Welt, aber ich kann eins noch dazu sagen: Selbstmord – da kommt man nicht dorthin, wo man sonst hinkommen würde. Also kann ich jedem davon abraten, das weiß ich.

Moderator: Also das ist ja erstaunlich, was Sie alles wissen! [lacht freundlich] ich glaube, dieses Wissen ist vielen noch nicht zugänglich, und ich glaube, dass viele auch sagen werden, also: kann ich mir gar nicht vorstellen, passt nicht in meine Art zu denken, passt nicht in meine Logik, warum haben viele Probleme, sich sowas vorstellen [zu] können, und lehnen das auch ab, Herr Schmid ? (Vorrednerin: Ich hatte übrigens die gleiche Vorstellung, ich konnte mir das auch nicht vorstellen.)

Der Philosoph Wilhelm Schmid:

Das Schöne bei Ihnen ist ja, – Sie machen jedenfalls einen sehr rationalen Eindruck. (etwas Lachen) es wäre glaube ich für viel leichter, wenn wir mit nem Wirrkopf zu tun hätten, weil dann lässt sich das auch schnell abtun. Aber offenkundig … sehr rational aufgenommen … und auch durchdacht und behandelt, das bringt uns dann eher ins Überlegen. Könnte es nicht tatsächlich so sein, könnte nicht tatsächlich was dahinterstecken? Und ich gehör eher zu denen, die davon ausgehen, eh … natürlich haben wir vor unserem Leben schon etliche Leben hinter uns, und natürlich werden wir noch einige Leben vor uns haben. Und ich meine es wirklich natürlich. Also nicht im Sinne von Spekulation, auch nicht unbedingt im Sinne von beweisbarer Wahrheit, (hmhm) aber was ist denn das Eigentliche an uns Menschen? Ist das unser körperliches Dasein? Offenkundig nicht. Denn wenn wir tot sind, sind wir auch körperlich da, aber wir können nichts mehr. Also muss etwas anderes das Wesentliche an uns sein, und ich vermute, dass es Energie ist, (genau!) Energie in einem ganz rationalen Sinne, elektrische Energie, Wärmeenergie, die man messen kann. Das ist nichts Geheimnisvolles, und Energie hat nun mal die Eigenart, dass sie von Form zu Form umgewandelt werden kann, aber niemals vernichtet werden kann. (Nicken) Energieerhaltungssatz! Also: kann ich mir vorstellen, dass es entweder die gesamte Energieballung, die mich jetzt leben lässt, vorher schon mal gegeben hat und nachher wieder geben wird oder Teile dieser Energieballung. Und dann ist vorstellbar, dass wir auf irgendeine Weise, die ich noch nicht gut erklären kann, eine Erinnerung an frühere Leben haben. Möglicherweise ja auch schon eine Vorahnung (lacht, andere kichern), was da mal kommen könnte. (Lachen)

[Moderator:] Also, Herr Schmid hält auch vieles für möglich, vorstellbar war ja auch ihr Wort, (34:00) nun ist ja ihres ein positives Beispiel, in Ihrer Wahrnehmung kommen Sie ja zurück, um Buße zu tun, und tun ja was Gutes. Ich stell mir mal so vor, da kommt mal jemand und sagt: ich war mal ein Diktator in der Vergangenheit und komm jetzt, um mein Volk wieder zu befreien oder sowas etc.etc.

(Nähere Informationen zu dieser Sendung hier.)

Ich breche ab, ist das zu glauben??? Ist das mein Fehler? Habe ich das Gesetz von der Energieerhaltung so falsch verstanden, dass ich dies als Kurzformel gelten lassen kann?

Wie immer – nachschauen, was Wikipedia anbietet:  Hier – und überlegen, ob ich auch ein Beispiel etwa für klanggewordene Energie beibringen könnte… (ich brauche Farbe). Traumsequenzen EINER Welt der unterschiedlichsten Kulturen, im Programmheft stand Goethes Gedicht Gingko biloba, bezogen auf die (mindestens) janusköpfige Gestalt der Violine.

Dunkle Energie (Plakat 1989 WDR/Heinz Edelmann)

Da steht es gleich (ich meine bei Wikipedia) im ersten Satz, dass dies Gesetz von der Erhaltung der Energie nur in geschlossenen Systemen gilt. Aber ist hier nicht gerade die Rede davon, dass die Dame von einem System in das andere wechselte? Wie kann ich erwarten, die beiden Systeme seien ein und dasselbe, etwa nur, weil ich mich hier wie da als ein Ich wahrnehme, die beiden für identisch halte und sogar von meinem Großvater erkannt werde. Falsch. Meine Zweifel und deren Behebung im ausweglosen Sinn datieren aus dem Jahr 1989. Am Anfang stand für mich das dritte Kölner Geigenfestival, gedämpfte Energie, ein Epos aus Konzerten, ein offenes, durchlässiges System der Weltmusik, das Jahr war gut, da draußen wurde Helmuth Kohl Kanzler der Deutschen Einheit, das Jahrzehnt des Waldsterbens, am Ende war ich doch erst 49, zum Geburtstag diese beiden Bücher:

(Was mich heute erschüttert: das Buch von Peter Kafka wirkt praktisch ungelesen. Wollte ich mich damals partout nicht aufrichten lassen? Ich werde es zur Wiedergutmachung am Ende dieses Artikels ausführlich zitieren. Es ist unglaublich, hätte ich damals doch wenigstens über das Wort „Gemächlichkeit“ zu staunen begonnen! Was schreibe ich??? Sie können gleich hier zu lesen beginnen!)

Wir waren also beim Thema Energie. Ein Wort, das  zweifellos je nach Zusammenhang seinen Sinn verändert, sein Prestige aber aus der Physik bezieht. Gern wird auch ein Schlaffi, der sich mühsamst zusammenrafft, davon profitieren. Und kaum wiederzuerkennen ist es zum Beispiel, wenn man das Wort Cottbus dazusetzt. Wenn Sie heute nicht sicher sind, was Sie von einer Sache halten sollen, sind Sie in einer anderen Situation als ich im Jahre 1989: es gibt das Internet und seit März 2001 die Enzyklopädie Wikipedia auf deutsch, 20 Jahre der Erprobung und Erweiterung. Falsifikation im Schnellverfahren. Wenn ich mich also über eine Heilkunst wundere, die einen Radionischen Energietest anbietet, dazu eine Autorin, die vor 50 Jahren mehrere Radio-Sendungen für mich gemacht hat, was tut man? Dann informiert man sich als erstes über Radionik , z.B. hier, und siehe da: per Fernheilung ist man in Sekundenschnelle für immer kuriert.

Übergangslos wende ich mich einem anderen Gebrauch des Wortes Energie zu, und zwar bei Peter Bieri, einem Philosophen, zu dem ich Vertrauen habe, seit ich durch den Film „Nachtzug nach Lissabon“ auf ihn gekommen bin (Bitte folgen Sie doch dem eben gegebenen Link: der dort gegebene Zeitsprung ist verblüffend, ich erlebe ihn ständig, ohne Lateinlehrer zu sein.) Dieser Autor weiß, wovon er spricht, wenn er vom Schreiben schreibt und wie man das Wort Energie dafür ganz unprätentiös gebraucht.

ZITAT

Ein Autor, indem er eine fiktive Geschichte entwickelt, versucht herauszufinden, wie genau er die Welt und sich selbst erlebt. Daß er dazu die Fiktion braucht, wo es doch um eine wirkliches Erleben geht, ist nur scheinbar paradox. Was Fiktion möglich macht, ist Verdichtung von Erfahrung, wie es sie im realen Strom des Erlebens selten gibt. Das Schreiben einer erfundenen Geschichte, könnte man sagen, schafft Laborbedingungen, um auf einen Teil der unübersichtlichen Innenwelt mit dem Mittel der dramatischen Zuspitzung ein ungewöhnlich helles und klares Licht zu werfen. Und wenn man es so sieht, ist es nicht mehr paradox, wenn einer, um sich selbst zu verstehen, einen anderen, Fremden erfindet.

Das erklärt auch unser unersättliches Bedürfnis nach fiktiven Geschichten. (…)

Ob jemand eine Geschichte ganz aus sich selbst heraus schreibt, ob er sie um ein reales Ereignis herum rankt oder gar einen historischen Roman schreibt: Nie ist es Zufall, was er sich aussucht. Es bedarf enormer seelischer Energie, um eine Geschichte zu schreiben, und man kann gar nicht anfangen, wenn man nicht spürt, daß der Stoff einen in einer Tiefe berührt und beschäftigt, aus der heraus die nötige Energie fließen wird.

Quelle Peter Bieri: Wie wollen wir leben? / Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN« Residenz Verlag St.Pölten – Salzburg 2011 6. Auflage 2012 (Zitat S. 48 u 49)

Zum weiteren Nachdenken: das Bieri-Trilemma hier

Wikipedia zu Peter Bieri hier

Zurück zu der Frage, wie denn andernorts ein Philosoph auf ein vorsichtig aufgeblasenes Phantasiegebilde reagieren kann mit der Rede von einer „Energieballung, die mich jetzt leben lässt, vorher schon mal gegeben hat und nachher wieder geben wird oder Teile dieser Energieballung.“

Vielleicht weil die Seelenwanderung nun einmal in der Welt ist und durch die Jahrtausende geistert? Da braucht es keine Beweise mehr, die Energie ist schon da, überall. Siehe HIER.

Man muss sich nur einmal mit Träumen befassen. Oder mit der Kraft der Imagination. Und der Vermischung von „wahrgenommenen“ Bildern mit „eingebildeten“. Wie man von Erinnerungen heimgesucht werden kann. Wie allein die gedankliche Verbindung verschiedener Fakten eine neue Realität schafft, die man verstärkt, indem man sie erzählt und sich zum Kronzeugen aufwirft. „In den Monaten, bevor mein Vater 1959 starb, erschien in unserm Garten eine weiße Amsel, offenbar das Albino einer Schwarzdrossel. In dem Jahr danach war sie nicht mehr da.“ (JR) So war es wirklich, zweifellos ein auffälliges Phänomen, aber noch wirklicher sind die Assoziationen, die daraus einen bedeutungsvollen Zusammenhang machen wollten. Besonders wenn die Menschen drumherum dazu tendieren, dem eigenen Leben und Überleben einen höheren Sinn zuzuschreiben. Ich denke oft an meine Mutter und meinen Vater, ja, und auch mein Großvater „erscheint“ mir gern, bedeutungsvoll raunend. Ich muss nur an ihn denken. Schall und Rauch! In der Zeit, in der wir die weiße Amsel sahen, spielte Goethes Faust eine prägende Rolle für mich. Behaupte ich heute… (siehe hier).

Hier ist der Zeitpunkt, von einem anderen Autor zu sprechen, den ich beeindruckend finde, weil er mit großer Geduld und Intelligenz viele Hirngespinste auflöst, die sich hartnäckig in den allmächtigen Mythen des Alltags forterben und durch das Gewicht der Jahrhunderte nicht wahrer werden, sondern platter. Kein Zweifel, was Frau B.H. erlebt hat (oder erlebt haben will), könnte als ein sogenannter „Klartraum“ bezeichnet werden. Merkwürdig daran ist eigentlich nur, dass er inhaltlich so dürftig ist. Und dann eine entsprechend dürftige philosophische Einordnung findet. Das muss am Phänomen der Talkshow liegen, die es einfach allen recht machen will. Der Autor, auf den ich mich jetzt beziehe, heißt Douwe Draaisma, sein Buch „Wie wir träumen“ erschien auf deutsch im Jahr 2015.

ZITAT Seite 159:

Eine der ältesten Beschreibungen eines Klartraums findet sich in einem Brief von Augustinus aus dem Jahr 415. Der Träumer war ein gewisser Gennadius, ein Arzt, der in Karthago arbeitete, sich zur Zeit des Traums jedoch noch zur Ausbildung in Rom aufhielt. Er zweifelte an der Möglichkeit eines Lebens nach diesem Leben. Wie konnte die Seele weiterbestehen, wenn der Körper gestorben war? In seinem Traum erscheint ein junger Mann, der ihn befragt. Wo befindet sich dein Körper jetzt? In meinem Bett, antwortet Gennadius. Weißt du, dass die Augen in diesem deinen Körper jetzt geschlossen sind und dass du mit diesen Augen nichts siehst? Das muss er bestätigen. Aber mit welchen Augen siehst du mich denn jetzt? Gennadius muss die Antwort schuldig bleiben. Er schweigt. Und dann erklärt ihm die Erscheinung, dass es so auch nach dem Sterben sein wird: Die körperlichen Augen sind für immer geschlossen, aber es wird noch immer Augen geben, mit denen du wahrnehmen kannst. Der luzide Traum war für Augustinus die perfekte Analogie für ein Weiterleben der Seele nach dem Tod des Körpers. Fünfzehn Jahrhunderte später war dies für den trauernden Van Eeden noch immer der Fall.

Und damit verweist er zurück auf den Anfang dieses großen 6. Kapitels, Überschrift: Wissen, dass man träumt. Über luzide Träume. In diesem Buch:

Der entscheidende Punkt aber in diesem Traumbericht ist das Wort Analogie und im Hintergrund: das Phänomen der Imagination. Einerseits „die körperlichen Augen“ und andererseits die Augen der Imagination, die analog funktionieren, aber nicht existieren. Im philosophischen Denken gehört es zu den Grundübungen, dass man ähnliche Dinge oder Vorgänge nicht miteinander verwechselt. Oder in meiner Vorstellung taucht mein Großvater auf und spricht mit mir, genau so, wie ich ihn in Erinnerung habe, als Person, – er tut es, weil ich es so will, – weil ich ihn imaginiere. Er ist mein Geschöpf, meinem Großvater analog. Peter Bieri sprach von „seelischer Energie“. Es ist meine Energie, egal woher die Stoffe kommen.

Berühmt ist das Rätsel des Tschuangtse: er träumte, er sei ein Schmetterling, ist sich aber nach dem Erwachen nicht mehr sicher, ob er ein Mensch sei, oder ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch. – Als Dichter hat er ein schön verwirrendes Bild geschaffen, als Mensch könnte ihm geholfen werden. Mit dem Buch von Draaisma zum Beispiel.

Zu den gängigsten Verwechslungen gehört allerdings die der Worte, die eine große Bedeutungsbreite haben und doch so gebraucht werden, als seien sie eindeutig. Das Wort Energie zum Beispiel. Aber auch ganze Szenen können als Muster wiederkehren, Filme als Metaphern, – mich hat die Erzählung der Frau B.H. an Berichte über Nahtoderlebnisse erinnert, und ich habe in einem anderen Buch von Douwe Draaisma nachgeblättert, das mir vor vielen Jahren das Rätsel der „Déjà-vue“-Erlebnisse aufgelöst hat. Da erfährt man im Schlusskapitel viel über die Rolle von Fotos und Filmen in unserem Erinnerungsvermögen, auch über die Wirkung des Buches von Raymond Moody über Nahtoderlebnisse, Life after life (1975), das gewissermaßen einen Kanon der Nahtoderfahrungen geschaffen hat: er trieb „auf der Thermik östlicher Mystik….ins kollektive Bewusstsein“ (Draaisma S.312). Plausible Theorien gibt es aber schon sehr viel früher, seit Ende des 19. Jahrhunderts. ZITAT Draaisma:

Wenn die Sinnesorgane ausgeschaltet oder durch monotone Reize betäubt werden und die Nahrung von außen wegfällt, stellt sich das Gehirn eine Notration zusammen. Es wendet sich an Reize, die in der Vergangenheit gespeichert wurden, und verarbeitet diese erneut. Das geschieht mit so großer Intensität, daß der Sterbende denkt, er schaue von außen drauf, als würde es sich vor seinen Augen abspielen. Wo man normale Erinnerungen ›von innen‹ erfährt, als würde man sie ›im Kopf‹ sehen, haben die Bilder der Panoramaerinnerung eine Schärfe und Lebendigkeit, die unter normalen Umständen nur Bilder  ›von außen‹ haben.

Des weiteren scheint gut erklärbar, weshalb die erinnerten Bilder „mit dem heiteren Gefühl, alles sei in bester Ordnung“ einhergehen (endogene Morphine, die ein Gefühl von Wohlbefinden erzeugen).

Quelle Douwe Draaisma: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird. Von den Rätseln unserer Erinnerung. Piper München u Zürich 2006

Ich sage nicht, dass alles erklärbar sein muss, aber es beruhigt mich doch, wenn dafür nicht Energien herhalten müssen, die sich zusammenballen und unberechenbar wiederkehren, womöglich aus moralischen Gründen oder um uns noch irgendwelche Aufgaben erledigen zu lassen.

Da gefällt mir die pragmatische Behandlung des Wortes besser, weil sie kein immaterielles Missverständnis heraufbeschwört:

Soweit ich weiß, geht es allein um den Körper. Ich kenne das nur aus einer Talkshow und habe therapeutisch keinerlei Erfahrung. Vielleicht kommt diese erst mit dem fortschreitenden Alter. (Aus welcher Talkshow? natürlich reiner Zufall, dass ich den Link habe: hier.)

Als Kind hat mich beeindruckt zu hören, dass eine Katze 7 Leben hat. Sie weiß es nicht, schläft viel, kennt aber kein Müdigkeitslabyrinth. Es ist wohl auch nur eine Metapher. Rechnet man 1 Katzenleben für 10 Jahre, so bin ich leider schon weit darüber hinaus.  Andererseits habe ich da auch wieder etwas verwechselt, nämlich Lebensspanne und Lebenskraft im Sinne von Überlebensenergie oder so. Kurz und gut, ich hoffe, dass ich dieses Tier noch mehrmals wiedersehe … und zwar in diesem, meinem einzigen Leben.

Foto E.Reichow (Völs am Schlern 2021)

Wie aktuell ist dieses Buch – heute?

Zurück zum Thema

Der Anfang des Buches „Grundlagen des linearen Kontrapunktes / Bachs melodische Polyphonie“ von Ernst Kurth / Verlag Krompholz & Co. Bern 1948 (1956)

ZITAT Carl Dahlhaus

Musik ist – nach einer communis opinio, an der niemand zu zweifeln scheint – tönende Bewegung; und die Erfahrung, daß sie es ist, bildet den Ausgangspunkt der Theorien einiger Musikästhetiker des 20. Jahrhunderts, die Rudolf Schäfke „Energetiker“ nannte (Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, 1934, 394), da sie – halb Phänomenologen und halb Metaphysiker – den Bewegungseindruck, der von Tonfolgen ausgeht, auf eine hypothetische Energie zurückführen, die – von August Halm „Wille“ und von Ernst Kurth „Kraft“ genannt – als Agens in der Musik  wirksam sei und ihr verborgenes Wesen ausmache. So unabweisbar sich jedoch beim musikalischen Hören die Vorstellung einer Bewegung aufdrängt, so schwierig ist es, sie zu beschreiben und zu analysieren, ohne in die verwirrende, betäubende Sprache Ernst Kurths zu verfallen, eine Sprache, in der sich psychologische und musiktheoretische Einsichten mit einer teils physikalischen, teils lebensphilosophischen Metaphorik mischen. (…)

Auch fällt es schwer, sich eine Bewegung ohne Träger vorzustellen. Der musikalischen Beweguung aber scheint das Substrat zu fehlen. Denn zu nehaupten, daß es der Ton sei, der sich im Tonraum bewegt, wäre eine fragwürdige Hypothese. Ein höherer Ton, der einem tieferen folgt, ist eher ein „anderer“ Ton als „derselbe“ an anderer Stelle. Der erste Ton wechselt, wenn die Melodie fortschreitet, nicht seine Lage, sondern wird durch einen zweiten abgelöst. Andererseits ist der Versuch Ernst Kurths, die Bewegungsenergie, welche die Musik „durchströmt“, zu einer Wesenheit zu hypostasieren und die Töne zu bloßen Durchgangspunkten herabzusetzen, zu gewaltsam und auch zu tief in Metaphysik verstrickt, um als das letzte Wort gelten zu können.

Es scheint, als seien die Schwierigkeiten, in die der Versuch einer Beschreibung und Analyse des Tonraums und der musikalischen Bewegung gerät – Schwierigkeiten, die manchmal labyrinthisch anmuten -, erst entwirrbar, wenn man von der Hypothese ausgeht, daß in dem Komplex von Raum- und Bewegungseindrücken der Rhythmus – und nicht, wie Kurth annahm, die Melodie – das primäre Moment darstellt. Rhythmische Bewegung, im System der Taktrhythmik durch die Dauer, den Nachdruck und den Charakter der Zählzeiten bestimmt, ist von melodischer unabhängig – oder kann es wenigstens sein -, aber melodische ist nicht von rhythmischer abtrennbar. Und daß ein Rhythmus ohne Tonfolge, eine Tonfolge jedoch nicht ohne Rhythmus denkbar ist, besagt, daß der Rhythmus das fundierende Moment des musikalischen Bewegungseindrucks bildet. Die Zeit, der zum temps espace verfestigte temps durée, ist die primäre Dimension des Tonraums, die Vertikale die sekundäre.

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln  1967 (Seite 117 u. 119) JR NB: le temps und la durée siehe dazu hier Abschnitt „Bergson“.

ENDE

P.S. 10. Juli

Ich hatte versprochen, am Ende noch ausgiebig Peter Kafka zu zitieren, dessen Buch ich vor 40 Jahren sträflich ignoriert habe, obwohl ich es besaß. Ich muss ihn nicht weiter zitieren, weil man ihn oben per Link schon ausreichend leicht weiterlesen konnte, nein, ein zweites Mal werde ich ihn gewiss nicht vergessen. Noch ein abschließender (?) Blick auf sein Lebenswerk, siehe Wikipedia ⇒ https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Kafka_(Astrophysiker).

(Endgültiges Ende)

FAUST

Damals

Ich denke oft an das Haus zurück, das meine Eltern mit uns Mitte der 50er Jahre hoch über Bielefeld bezogen, d.h. man überblickte die halbe Stadt und hatte vom Garten aus nur 50 Schritte bis zur Promenade, einem breiten, asphaltierten Kammweg, der bis zur Sparrenburg führte. Ich befand mich, ohne es benennen zu können, in der Pubertät, meine Mutter sprach von „Flegeljahren“, die angeblich ausblieben, dabei war ich zumindest gedanklich auf Höhenflüge eingestimmt, die Nachtigall sang gleich hinterm Gartenzaun und aus der Ferne kamen entsprechende Antworten. Der Eingangsbereich unseres Holzhauses war ein gemauerter Keller mit Heizungsraum, wo ich oft neben dem Kohlenverschlag Geige übte, außerdem gab es ein Klo, einen Abstellraum mit Putzgerät, eine Treppe nach oben und einen großen Keller, in dem ein Apfelregal stand, das den Duft der gehorteten Früchte verbreitete, ein großer alter Esstisch, meist mit Werkzeugen bedeckt, außerdem eine Schubkarre und verschiedene Fahrräder. Und eines Tages entdeckten die Freunde meines älteren Bruders diesen Raum als idealen Ort für Zusammenkünfte, besonders wenn man oben im Garten gefeiert hatte, vielleicht noch den Abschied hinauszögerte, ein paar Getränke aus dem oberen Wohnbereich beschaffte. Und genau dort unten entstand von einem bestimmten Abend an ein unglaubliches Zentrum, das eine neue Welt zu eröffnen schien. Vielleicht real nur zwei, drei Sommerwochen lang. Einer von den Freunden hatte ein riesiges Tonbandgerät mitgebracht, Grundig, kaum zu glauben, dass der schlaksige Junge es  von der Straßenbahnhaltestelle aus den Berg herauf geschleppt hatte. Auch Mikrophone dabei, so konnte man sich selbst beim Feiern aufnehmen und sogleich wieder abhören. Sie improvisierten kleine Szenen, es gab viel Gelächter. Und eines Tages hatte dieser Freund namens Lönnendonker etwas vorbereitet, nämlich einige Langspielplatten überspielt, Musik, sie hatten eine Band gegründet, „The Skyliners“, und erste Versuche festgehalten. Aber da gab es auch eine Aufnahme, die mehrere Spulen füllte und merkwürdigerweise uns alle in den Bann zog, vielleicht bei den Älteren dank einer nachhelfenden Schullektüre. Aber ohne die hysterische Fieslingsstimme des Mephistopheles wäre der magnetisierende Effekt wohl nicht eingetreten: es war Goethes Faust in der Gründgens-Inszenierung. Vielleicht 1957? (Der Film kam erst 1960 heraus. Es muss diese Aufnahme gewesen sein: 3 LP Box-Set mit 36-seitigem Begleitbuch (mit Texten). Die Gründgens-Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses aus dem Jahre 1957. Mit Paul Hartmann (Faust), Gustaf Gründgens (Mephisto), Käthe Gold (Margarete), Elisabeth Flickenschildt (Marthe Schwerdtlein), Ullrich Haupt und anderen. Ich glaube, das Gerät verblieb wegen seines Gewichtes einige Tage dort bei uns im Keller, und auch ich durfte es offenbar bedienen, hörte stundenlang, konnte immer längere Passagen auswendig, die andern ebenso, und die etwas spröde Musik von Mark Lothar befremdete uns zuerst, ergriff uns schließlich genau so wie das strenge Pathos der Schauspieler. Selbst der Prolog im Himmel, den wir immer übersprungen hatten, begeisterte uns, weil die Stimme des Bösen so furchtlos und zynisch mit dem Herrn des Weltalls rechtete und räsonnierte. Unvergesslich die Szene mit den rettenden Chören: „Was sucht ihr mächtig und gelind, ihr Himmelstöne mich im Staube, klingt dort umher, wo schwache Menschen sind, die Botschaft hör ich wohl, allein: mir fehlt der Glaube!“ Das war der  packende Monolog für mich, den Nietzsche-Leser, unbeschreiblich all dies, und wenn ich durch die Wälder lief, um mich sportlich stark zu machen, waren es diese recht physisch verstandenen Übermensch-Ideen, die mich umtrieben.

Szene III

Szene II

Szene I

Was konnte man damals wissen über die Entstehung des Textes? Eine vollständige Werkausgabe hatte sich schon meine Mutter besorgt („zeitlos“ wie manche Möbel, vielleicht ähnlich motiviert wie – nach dem ersten Gehalt – das Bild der Sixtinischen Madonna, das dann lebenslang über ihrem Bett hing): 20bändig herausgegeben von Theodor Friedrich 1922, Eintragungen aus ihrer Schulzeit (Abitur 1931), Unterstreichungen von meinem Bruder und mir. Im Anhang des dritten Bandes („Faust“) die folgende Chronik:

Und die Lesespuren im Text, die meiner Mutter (beflissen) und rechts – zum Gefühl – die meines Bruders (provokativ), auf der nächsten Seite die allerletzte Unterstreichung im ganzen Faust-Band: „Auch, wenn er da ist, könnt‘ ich nimmer beten“. Von wem wohl?

Andererseits muss ich mich daran erinnern, dass damals alles literaturwissenschaftliche Zubehör nicht interessant war am „Faust“. In der Gymnasial-Oberstufe gab es bei uns eine Theater-AG, der ich nicht angehörte; wir Altsprachler brachten allerdings die „Antigone“ des Sophokles auf die Bühne, mit dem Sprechchor, der die Aktionen kommentierte, archaisch, beeindruckend – die anderen dagegen spielten „Doktor Faustus“ von Marlowe, aus meiner Sicht enttäuschend abweichend von meinem schon anders gepolten Faust-Bild. Wie aber war es gepolt? In meiner Vorstellung spielte der Wissensdrang der Titel-Person eine große Rolle, die Loslösung vom leeren Ideal, von den Worthülsen des Guten, Schönen, Wahren, auch die Magie und die geheimnisvolle Phiole (über Jahre bis hin zu Gottfried Benns Verherrlichung des „Provozierten Lebens“). Aber entscheidend war seltsamerweise die Sexualität, die mir in Goethes Drama wilder und abgründiger erschien als irgendwo in der engen heimischen Außenwelt, die sich darüber vollständig ausschwieg, oder in den rüden Anspielungen aufgeklärterer Mitschüler. Im Drama gingen mir die gehässigen Bemerkungen über das „gefallene“ Gretchen nach, die unverstandenen Worte ihres Bruders „dass alle brave Bürgersleut / Wie von einer angesteckten Leichen / Von dir, du Metze, seitwärts weichen“, es war die von mir kaum begriffene moralische Bewertung im Verlauf der ganzen Verführungsgeschichte, die intensivsten Identifikationen mit dem Mädchen, mit dem leider nicht nur glorreich wirkenden Manne, dem störenden Teufel, der aber zwingend dazugehörte, ja, der alles aus nächster Nähe mitbetrieb. Die scheinheilige Rolle der Marthe. Gretchen, im Kerker, die sich nicht retten ließ, dem Wahnsinn verfallen. Lauter ungelöste Konflikte auch in mir, der ich alles immer wieder in der Phantasie auf eigene Wünsche und Vorstellungen hin extrapolierte, augmentierte, reduzierte, beschönigte. Der Zwang, im wirklichen Leben all diese inneren Bewegungen auf Null zu dimmen, Tarnkappenverhalten einzuüben. Außer in der Musik (Schumann, Puccini, „Tristan“). Merkwürdigerweise habe ich ab 1956 Einstein „Mein Weltbild“, Julian Huxley „Entfaltung des Lebens“ und Freud „Abriss der Psychoanalyse“ gelesen, ohne mich je um Widersprüche zu kümmern. Aufklärung um jeden Preis. Im Nachhinein – so dachte ich später – hätte ich eine Therapie gebraucht. (Nebenbei: meine Mutter auch, Goethe auch!)

Ich habe gelesen (aber wo?): wer Faust I auf die Bühne bringt und nicht die Szene 1 des Faust II dranhängt, hat den Sinn der Aufführung verfehlt…

Später (Faust zweiter Teil)

Im zweiten Teil bin ich immer steckengeblieben. Es war mir unmöglich, einen „klassischen“ Goethe anzubeten, ich war nicht selbst imstande, ihn wirklich  „umzudenken“. Die Rede vom „Wahren, Guten, Schönen“ – oder was so ähnlich klang – war mir zuwider. Auch ein Gedicht, das scheinbar so ähnlich anfing wie die Sinnsprüche meiner Oma, mochte ich nicht weiterlesen: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Ich las Gedichte, ohne zu wissen warum. Aber dann war mir der Faust II in der Gründgens-Aufnahme auch wieder zu phantastisch und im Realismus zu hanebüchen, zu materialistisch. Ich habe ihn vollständig verfehlt! Hätte ich doch wenigstens in meiner neueren Goethe-Ausgabe der 60er Jahre mal das Nachwort gelesen: von Goethes Skrupeln und von Schillers Bedeutung für die Weiterentwicklung des Faust-Dramas  um 1800. So arbeitet ja wohl kein „Klassiker“?  (Ja doch! gerade! „bis ans Ende“!)

Aus dem Nachwort von Hanns W. Eppelheimer (1962). Daran ist aber nun auch wieder nicht viel Verlockendes. Frischer Wind kam erst auf durch Friedenthals Biographie (1963). Heute würde ich jedem raten, mit dem Buch von Rüdiger Safranski (2013) zu beginnen, unvergleichlich differenziert, auch wenn man es nur nach Stichworten aufschlägt; man muss nicht von A-Z lesen, – obwohl man bald dahin tendieren wird. Und das Dümmste wäre, vorsätzlich darauf zu verzichten, als erübrige sich die von Safranski geleistete  Aufklärungsarbeit seit 2015. Man beginne mit der Figur des Mephistopheles! (Sobald man sich inhaltlich kursorisch vorbereitet hat, z.B. anhand von Wikipedia hier.) Ab Seite 606 etwa:

„Was den Teufel betrifft, so war in Goethes Weltbild für ihn eigentlich kein Platz. Er statuiere keine selbständige Macht des Bösen, pflegte er zu sagen, und als Kant das ‚radikal Böse‘ in seine Philosophie einführte, erklärte Goethe, nun habe der weise Mann aus Königsberg seinen Philosophenmantel beschlabbert. Für Goethe gab es keinen Teufel.“ Seite 607: „Mephisto bewahrt den Menschen vor Erschlaffung und hält ihn rege. Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen. Und insofern gehört Mephisto auch zu Faust. Faust und Mephisto, treten zwar als eigenständige Figuren auf, bilden aber letztlich zusammen eine Person, so wie Goethe auch von sich selbst sagte, er sei ein Kollektivsingular und bestehe aus mehreren Personen gleichen Namens. [„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, etc.“] Die prekäre Einheit der Person hindert indes nicht, ihre einzelnen Pole gesondert ins Auge zu fassen, um zu verfolgen, was sie beitragen zur Steigerung des Ganzen.

Faust II Gründgens-Hörfassung (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier):

Der Text von Melchinger hat mich aufgeweckt und ermuntert, den „Faust“ nicht aus den Augen zu lassen…

Heute

In solcher Deutung war Faust nicht mehr ein vom Dichter verherrlichtes Idol oder womöglich der Dichter selbst, der sich in seinem Helden als Prototyp des Menschen gezeichnet wissen wollte. Das war in weit entfernter Zeit einmal so gewesen, als der „Urfaust“ entworfen worden war, in der Epoche von „Wanderers Sturmlied“ und „Prometheus“. Inzwischen hatte der Dichter Distanz zwischen sich und seinen Helden gelegt. Fausts Streben wurde von ihm ausdrücklich als „widerwärtig“ bezeichnet. (Aus dem vorhergehenden Text von Siegfried Melchinger 1959)

Und während ich das folgende Buch studiere, schweife ich immer wieder ab in die anregenden Goethe-Biographien von Safranski oder noch einmal: Friedenthal, weiche nicht aus (wie früher), wenn die Fakten seines Lebens gerade den Weg in die Moderne vorzeichnen (nach der Französischen Revolution, dem Kolonialismus, dem Industrialismus, des Totalitarismus), also nicht nur Italien oder „das Land der Griechen mit der Seele suchend“… Ich hebe die entsprechenden Passagen hervor:

Goethe läßt sich auf den alchemistischen Traum des Menschenmachens ein in einem historischen Augenblick, da in den Naturwissenschaften seiner Zeit die erstmals gelungene Harnstoffsynthese, also die Bildung einer organischen Substanz aus anorganischen Stoffen, Anlaß zu kühnen Spekulationen gab über die Möglichkeit, auch kompliziertere Organismen und am Ende vielleicht sogar menschliches Leben künstlich herstellen zu können. Deshalb bezieht sich Goethe in der 1828 geschriebenen Homunkulus-Episode nicht nur auf paracelsische Alchemie, sondern eben auch auf diese zeitgenössischen Versuche. Wagner erklärt: Was man an der Natur geheimnisvolles pries, / Das wagen wir verständig zu probieren, / Und was sie sonst organisieren ließ, / Das lassen wir kristallisieren. [S.614] Auch wenn Homunkulus ein Fabrikat Wagners ist, so gehört er doch in die Sphäre des Zusammenspiels von faustischer Metaphysik und mephistophelischer Physik. Ein anderes Beispiel ist die Erfindung des Papiergeldes, auch so eine moderne Idee, die Faust und Mephisto bei ihrer Weltbemächtigung aushecken. [S.614f] Goethe, der zeitweilig auch für die Finanzen des Herzogtums zuständig war, hatte sich anregen lassen von der finanztechnischen Revolution, welche die Band von England in Gang setzte, als sie dazu überging, die Menschen des umlaufenden Geldes nicht mehr allein auf Gold und bereits getätigte Wertschöpfungen zu gründen, sondern auf die Erwartung künftiger realer Wertschöpfung, wozu die vermehrte Zirkulation beitragen sollte. [S.616] … die innere Werkstatt der Einbildungskraft…. Die Machtergreifung des Eingebildeten kann sogar politisch geschehen, dann sprechen wir von der Herrschaft der Ideologien. Es kann aber auch vorpolitisch und alltäglich geschehen – auch hier läßt Goethe seinen Faust einiges voraussehen, was heute im Zeitalter der Medien Gestalt angenommen hat, wo jeder einen erheblichen Teil seiner Lebenszeit nicht mehr in der ›ersten‹ Wirklichkeit, sondern im Imaginären und in einer mit Imagination durchsetzten Wirklichkeit verbringt. Die Welt ist fast nur noch das, was einem vorgestellt wird. [S.617]

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens / Carl Hanser Verlag München 2013

Michael Jaeger: Goethes „Faust“ / Das Drama der Moderne / ISBN 978 3 406 76429 5 / oben Titelbild: Will Quadflieg u Gustaf Gründgens in Faust Schauspielhaus Hamburg©1960, mauritius images / unten: Inhaltsübersicht

Die beiden letzten Szenen erleben: GRABLEGUNG hier BERGSCHLUCHTEN hier

Wichtiger Lese-Hinweis: den guten Wikipedia-Artikel zu Faust II nicht nur überfliegen, sondern inhaltlich Satz für Satz begreifen, mindestens – sagen wir – 1 Stunde lang verinnerlichen, inklusive aller Links – etwa zu mythologisch befrachteten Namen. (Es geht z.B. nicht ohne die Antike!) Leichter als heute war der Zugang nie in unserm ganzen Leben. Aber das Internet ist kein Ruhekissen. Schwierigste Voraussetzung in diesem Fall: keine Kundenmentalität, keine vorgefasste Meinung, was ein Goethe zu liefern hat.

Ein Beispiel der typischen Schwierigkeiten: Faust Zweiter Teil „Weitläufiger Saal“

Worum gehts? Man muss die szenischen Anweisungen genau lesen, z.B. Weitläufiger Saal  mit Nebengemächern, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz. Direkt vorher heißt es (der Kaiser spricht): So sei die Zeit in Fröhlichkeit vertan! / Und ganz erwünscht kommt Aschermittwoch an, Indessen feiern wir, auf jeden Fall, / Nur lustiger das wilde Karneval. (Trompeten. Exeunt.) MEPHISTOPHELES. Wie sich Verdienst und Glück verketten, / Das fällt den Toren niemals ein; / Wenn sie den Stein der Weisen hätten, / Der Weise mangelte dem Stein. (Dann, im weitläufigen Saal, beginnt der HEROLD:)

Denkt nicht, ihr seid in deutschen Grenzen / Von Teufels-, Narren- und Totentänzen! Ein heitres Fest erwartet euch. / Der Herr auf seinen Römerzügen, / Hat, sich zu Nutz, euch zum Vergnügen, / Die hohen Alpen überstiegen, Gewonnen sich ein heitres Reich.

(Er wurde dort gekrönt, hat sich die Krone geholt, und da:) Hat er uns auch die Kappe mitgebracht.  Nun sind wir alle neugeboren. Die Narrenkappe!  Es bleibt doch endlich nach wie vor / mit ihren hunderttausend Possen / Die Welt ein einzig-großer Tor.

Die Welt der Narren also wird uns im Folgenden präsentiert, in sorgsam ausgewählten Gestalten und Symbolen.

Nach 75 Seiten beginnt die neue Szene LUSTGARTEN mit folgenden, an den Kaiser gerichteten Worten FAUSTs: Verzeihst du, Herr, das Flammengaukelspiel? Und der KAISER zum Aufstehn winkend (denn F. & M. haben gekniet), sagt: Ich wünsche mir dergleichen Scherze viel. – (und er repetiert:) Auf einmal sah ich mich in glühnder Sphäre: Es schien mir fast, als ob ich Pluto wäre. (und er beschreibt, was er gesehen hat, – auch für uns, damit wir es einordnen.)

Michael Jäger schreibt im Seitenblick auf dieses Kanevalsgeschehen: – „während zur  selben Zeit die gesamte Gesellschaft dem allgemeinen Ablenkungstrubel des Mummenschanz erlegen war.“

Die gesamte Gesellschaft also (mit Herold = Ansager) im Karneval, nämlich: GÄRTNERINNEN – OLIVENZWEIG MIT FRÜCHTEN – ÄHRENKRANZ – PHANTASIEKRANZ – ROSENKNOSPEN – MUTTER (und Tochter) – HOLZHAUER – PULCINELLE – PARASITEN – TRUNKNER – SATIRIKER – DIE GRAZIEN AGLAIA, HEGEMONE, EUPHROSYNE – DIE PARZEN ATRIPOS, KLOTHO, LACHESIS – DIE FURIEN  ALEKTO, MEGÄRA, TISIPHONE – FURCHT – HOFFNUNG – KLUGHEIT – ZOILO-THERSITESKNABE WAGENLENKER (Begleiter des Plutus) – WEIBERGEKLATSCH – DER ABGEMAGERTE – HAUPTWEIB – WEIBER IN MASSE – PLUTUS – SATYR – GNOMEN – DEPUTATION DER GNOMEN AN DEN GROSSEN PAN

In dem oben gegebenen LINK der Gründgens-Aufnahme findet man alldies auf ein Minimum gekürzt: Sie erinnern sich? (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier), darin –

  auf Filmteil 12:36 anklicken

„Denn wir sind Allegorien“

Tipp: Man gehe dem Link zu „Knabe Wagenlenker“ weiter nach und lese die Diplomarbeit von Susanne Fuchs (Wien 2009). Da hat man den Schlüssel zur ganzen „Mummenschanz“-Szene…

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Weiteres ZITAT aus Michael Jaeger „Goethes Faust“:

In der den zweiten Akt abschließenden Szene Felsbuchten des Aegäischen Meers ereignet sich dann im Gewande der antiken Mythologie die Lebensentstehung als die «Vermählung» des Homunkulus «mit dem Ozean», dargestellt als dessen Vereinigung mit der göttlichen Nymphe Galatee. Auf den Wellen kommt diese Meerestochter venusgleich als «lieblichste Herrin» (8378) auf einer großen, von Delphinen gezogenen Muschel angefahren. Es umkreisen Galatees Wassergefährt die Doriden und Nereiden, auf Delphinen, Seepferdchen und Meereskentauren reitend. Die Sirenen blicken auf die Ägäis und kündigen die unmittelbar bevorstehende «Muschelfahrt» Galatees an: „Leicht bewegt, in mäßiger Eile …[etc]“

Raffael (Wikimedia hier)

Oben: eine für mich höchst motivierende Schlüsselstelle (betr. 1987), jetzt zur Klassischen Walpurgisnacht. Der entsprechende  Text hier in der Gesamtausgabe meiner Mutter:

Über meine soeben bezeichnete „Schlüsselstelle“ hinausgehend, wird mir ab Seite 108 in Jaegers Werk völlig klar, dass der „Schock“, den ich für mich auf 1987 datiert habe, genau dem entspricht, den Goethe selbst in seiner Zeit erlebte und mit dem er sich vor und nach 1830 auseinandersetzte. Kapitel Système Industriel: Fausts Plan und der Saint-Simonismus. Siehe dazu hier und hier (Saint-Simon). Entsprechend Jaeger, Seite 109:

Mit dem allergrößten Unbehagen las Goethe jene Pariser Manifeste, in denen eine technisch-industrieller Umbau von Natur und Gesellschaft angekündigt wurde. Dabei trat ihm die komplette Unzeitgenäßheit seines eigenen Wissenschaftsprinzips der Naturkontemplation vor Augen, wurde doch das neue Universalsystem von Saint-Simon gleichsam als Anwendung von Newtons physikalischem Weltbild auf die Gesellschaft konzipiert. Saint-Simon selbst gewann unter seinen Anhängern die Statur eines neuen »Newton der Geschichte«. Die Verzweiflung Goethes angesichts solcher vermeintlich naturwissenschaftlicher Sozial-, Wirtschafts- und Weltpläne, durch eine an Newtons Physik angelehnte »Physico-politique« die »Genesis zu überbieten« und das »irdische Paradies« herzustellen, muss grenzenlos gewesen sein […].

Und Rüdiger Safranski zum gleichen Thema :

Als Goethe an diesen Szenen des Untergangs des Großunternehmers Faust schrieb, war er seinerseits fasziniert von technischen Großprojekten und andererseits abgestoßen von der Saint-Simonistischen Industriereligion, worin das Individuum dem Kollektiv und die Schönheit dem Nutzen geopfert wird. Was die moderne Technik betrifft, so besorgte er sich ein Modell der ersten Eisenbahn und präsentierte sie wie einen Kultgegenstand. Mit Eckermann sprach er über den Bau des Panamakanals, über die Möglichleit eines kanals bei Suez und über die Verbindung von Rhein und Donau. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, sagte er, und es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zu Liebe es noch fünfzig Jahre auszuhalten. Das waren für ihn Projekte, in denen er den Gipfel menschlichen Erfindungsgeistes und unternehmerisxcher Tüchtigkeit erblickte. Insofern diese Visionen auch bei den Saint-Simonisten im Schwange waren, begrüßte er das und gestand zu, daß an der Spitze dieser Sekte offenbar sehr gescheite Leute stünden.

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Carl Hanser Verlag München 2013 (Seite 621)

Hier die letzten Seiten der Arbeit von Michael Jaeger: Goethes »FAUST« Das Drama der Moderne / C.H.Beck München 2021

Das hier zuletzt beschriebene „wahre Wunderwerk der Faustphilologie“ ist tatsächlich als Online-Ausgabe aufzufinden und steht zum geduldigen Studium bereit:

HIER

Ich habe sozusagen ausgesorgt bis an mein Lebensende.

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Gründgens Faust II 3.Akt, Szene 2.2 hier  ab 16:25 Helena „…der leere Platz / Beruft den Herrn und sichert mir den meinen.“ FAUST „Erst knieend laß die treue Widmung dir / Gefallen, hohe Frau!“…

Zum Verständnis dieses Anfangs: es geht um den Ton der Rede, die „Sprechart unsrer Völker“, – die Griechin Helena kennt den Reim noch nicht. Zitat aus dem Kommentar (Schöne S.612): „Eine altpersische Legende erzählte von der Entstehung der ersten Endreime beim Liebesdialog des Sassanidenherrschers Behramgur und seiner Sklavin Dilaram (…). Hier wird dieser Vorgang in Szene gesetzt – als bilde in Fausts und Helenas Wechselrede und dem Einklang ihrer Reime geradezu der hochzeitliche Akt sich ab.“ Siehe hier Stichwort „Behramgur“. Der Chor danach stimmt „den Hymenaeus an: das antike Vermählungslied, das gesungen wird, wenn die Liebenden einander zugeführt worden sind.“ (A.Schöne) Hinter der vermummten Gestalt (Phorkyas), die bei 4:10 auftritt, verbirgt sich niemand anders als Mephisto. – Man sollte sich nicht beschämt fühlen: Fausts lange Rede an die Heerführer, die Benennung ihrer Länder und dann die verbale Vorbereitung auf das Land Arkadien, all das ist ohne Text und ohne Kommentar nicht zu verstehen, – ist aber schön zu hören und zu ahnen.

Zu Peter Steins Aufführung

Die Aufführung FAUST II Szene für Szene ab hier

10. Juni – neue Phase: der Faust-Kommentar von Albrecht Schöne ist unterwegs …

Der Blick zurück – so leicht wie heute war der Zugang zum Faust II seit der (noch unvollständigen) Gesamtausgabe von 1828 noch nie. Meine (wirklich vollständige) Ausgabe von 1962 zum Größenvergleich (links).

Das alte 20bändige Original hat mir vor vier (?) Jahren die freundliche Nachbarin (*20. Juli 1943) geschenkt, die das Werk von ihrem Vater geerbt hatte. Sie ist am 14. Mai dieses Jahres gestorben; ich werde an sie denken, so oft ich einen dieser Bände in die Hände nehme.

    zu guter Letzt dtv 1962 Seite 177 f

Fortsetzung folgt wirklich. Wird hier erst auf Seite 351 enden. Und die Interpretation der letzten, unerklärlichsten Verse werde ich bei Albrecht Schöne finden. „Ereignis“ = „Eräugniß“. Für immer „unzulänglich“.

In diesem Moment klingelt es, die Post ist da!!! 14. Juni 10.11 h :

Deutscher Klassiker Verlag 2017 (Antiquariat Lenzen Düsseldorf, 2 Bände neuwertig, 24.- €, d.h. wie geschenkt… nachschlagen:)

Und gleich die Probe aufs Exempel: beim Mitlesen der obigen Szene Faust II, 3.Akt, Szene 2.2. irritierte mich (abgesehen vom Inhalt, hören Sie ab 6:05 „Mit angehaltnem stillen Wüten…“) eine Abweichung im Text, – ein Fehler von Bruno Ganz oder in meinem dtv-Text? „Stahl“ oder „Strahl“ in Strophe 2 ?

Frage gelöst:

Ist es eine Kleinigkeit? Durchaus nicht! Und das Problem, weshalb sich Faust hier wie ein Oberbefehlshaber aufführt, ist auch alsbald gelöst…

Zum Abgewöhnen

Eine Besprechung hier und noch eine (Spiegel) hier

Zur abschließenden Orientierung

Das Faust-Projekt (Wikipedia)

Die dümmste Ästhetik

„Musik ist pure Emotion“

Wer hat das bloß aufgebracht? Doch wohl nicht die Westälischen Nachrichten?!

Wie kein anderer Komponist verkörperte Claude Debussy den Geist seiner Epoche. Die Musik des Franzosen ist das «pure Fleisch der Emotionen», der hörbare Impressionismus, der mit dem genialen Tonsetzer 1918 stirbt.

So beginnt der Artikel, als sei der noch dümmere Satz vom „puren Fleisch der Emotionen“ ein Zitat. Warum nicht wenigstens der „pure Geist“ der Emotionen, der sinnliche Ausdruck, die Chiffre, ja, nur alles, was groß genug klingt.

Man muss sich einmal vorstellen, das würde von einem Menschen gesagt: „er ist die pure Emotion“, nichts als Temperament, Gefühl, Leidenschaft, – – – würde man sich freuen, mit ihm zusammenzutreffen, in einer Gesprächsrunde zu sitzen, gemeinsam ein Museum zu besuchen, über ein Buch zu sprechen?

Welche Musik fällt mir dazu ein? Vielleicht „Francesca da Rimini“? Zugleich wohl auch der Satz eines Kritikers, der behauptete, es gebe eine Musik, die man stinken hört. Eine Frechheit. Aber nicht dümmer als das Gerede von den Emotionen, das heute Mode geworden ist. Je weniger man fühlt, desto nervöser das emotionsbeflissene Gequatsche. Es ist ein leeres Wort, gedroschenes Stroh, wie es als Unterlage in den Stall gefegt wird. Ich höre geradezu die bölkenden Kühe, wenn sie Hunger haben und vom puren Fleisch ihrer Emotionen angetrieben werden. An sich bin ich ein Freund der Kühe. Ich bleibe stehen und versuche zu lesen, was in ihnen vorgeht.

Diese Persönlichkeiten traf ich in Südtirol, sie sind ruhig und lauschen dem Sonnenlicht. Soll ich ihnen keine Emotionen zuschreiben? Wohlbefinden zum Beispiel. Fächelnde Luft in den Nüstern. Ich bin verunsichert, heute Morgen las ich als erstes DIE ZEIT, es ist Donnerstag, und wieder ist der Hörfunk mit seiner Musik ein ganzseitig abgehandeltes Thema und wieder lese ich den Satz: „Musik ist Emotion pur“. Und dies als ganz ganz neue Devise! Es ist zum Fremdschämen. Ich mag nichts weiter wiedergeben, es kann nicht wahr sein, dass dieser Satz wirklich ein Programm lenkt.

Trösten wir uns doch: die Klassik ist in aller Mund. Die westliche Klassik, und wahrscheinlich all das irgendwie klassisch Klingende oder als klassisch zu Verkaufende. Was tut’s? Wenn man wenigstens darüber spricht, sich ernstlich fragt, für wen man es braucht. Eines Tages sagt sogar einer: es gab doch auch mal die indische Klassik, die nordindische und die südindische, die deutlichen Erinnerungen an die große türkische, arabische, iranische Tradition, die afrikanischen Kulturen, die großen Orchester Indonesiens. Wo ist das alles geblieben? Es ist ins Gesamtprogramm integriert. Bis zur absoluten Unkenntlichkeit. Was denn sonst?! Bitte: in welcher Welt leben Sie denn?!

Ich hätte nicht schreiben sollen: „die dümmste Ästhetik“. Das klingt beleidigend. Da ist wohl eine Emotion mit mir durchgegangen. Normalerweise würde ein Wort durchaus genügen, um ein modernes und zukunftweisendes Musik- (und Wort-)programm anzudeuten, Phantasie zum Beispiel.

Was tun, um auf andere Gedanken zu kommen? Ein schönes Bild könnte helfen.

(Fotos: E.Reichow)

Das Bild – leicht unscharf – ist von sommerlicher Leichtigkeit, es löst in mir eine Vielzahl von Assoziationen aus, die wiederum mit sehr unterschiedlichen Emotionen verbunden sind. Haben sie etwas mit dem Bild an sich zu tun? Es war 2019, die Rückfahrt von dem Örtchen Lohe (Kindheit) über Soest (die blühende Naturwiese = eine erlesen-künstliche Grünanlage inmitten der Stadt), ein Gemisch von Erinnerungen und neuen Eindrücken, italienisches Mahl auf dem Platz am St.Patrokli-Dom, Hauptgesprächsthema ein unglückseliger Verwandter, Ziel die aktuelle Heimat Solingen. – Ich sprach von „andere(n) Gedanken“. Haben wir im Auto Musik gehört? Höchstwahrscheinlich. Welchen Sender? Ich weiß es nicht mehr.

Es ist mal wieder Frühling, ich arbeite schwitzend am Blumenbeet und könnte eigentlich mein altes Gartenarbeitshemd noch auftragen, bis es zerfällt.