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John Dowland

Nicht traurig sein! (Ein Antidot)

John Dowland

Can she excuse my wrongs [hier]

Übersetzung von Peter Rottländer

1. Kann sie meine Fehler mit dem Mantel der Tugend bedecken?
Soll ich sie lobpreisen, wenn sie sich als grausam erweist?
Sind dies helle Feuer dort, die sich in Rauch auflösen?
Muß ich die Blätter lobpreisen, wo ich keine Früchte finde?

Nein, nein: Wo statt Körper Schatten sind,
wirst du vielleicht geschmäht, wenn dein Blick getrübt ist.
Kalte Liebe ist wie in Sand geschriebene Worte,
oder Blasen, die auf dem Wasser schwimmen.

Willst du dich weiter so schmähen lassen,
wissend, daß sie dich niemals gerecht behandeln wird?
Wenn du ihren Willen nicht überwinden kannst,
wird deine Liebe ewig so fruchtlos bleiben.

2. War ich so unedel, daß ich nicht emporstreben könnte
zu jenen hohen Freuden, die sie mir vorenthält?
So hoch wie sie sind, so hoch ist mein Verlangen:
verweigert sie mir diese, was gilt denn dann noch?

Gibt sie dem nach, was die Vernunft gebietet:
Der Wille der Vernunft ist, daß Liebe gerecht sei.
Liebste, mache mich glücklich und gewähre mir das noch,
oder beende das Warten, wenn ich denn sterben muß.

Besser ist’s, tausend Tode zu sterben,
als so gequält weiter leben zu müssen:
Liebste, erinnere dich aber daran, ich war’s
der dir zuliebe zufrieden gestorben ist.

Alfred Deller in seiner späten Zeit

1. Can she excuse my wrongs with virtue’s cloak?
shall I call her good when she proves unkind?
Are those clear fires which vanish into smoke?
must I praise the leaves where no fruit I find?

No, no: where shadows do for bodies stand,
thou may’st be abused if thy sight be dim.
Cold love is like to words written on sand,
or to bubbles which on the water swim.

Wilt thou be thus abused still,
seeing that she will right thee never?
if thou canst not overcome her will,
thy love will be thus fruitless ever.

2. Was I so base, that I might not aspire
Unto those high joys which she holds from me?
As they are high, so high is my desire:
If she this deny what can granted be?

If she will yield to that which reason is,
It is reasons will that love should be just.
Dear make me happy still by granting this,
Or cut off delays if that I die must.

Better a thousand times to die,
then for to live thus still tormented:
Dear but remember it was I
Who for thy sake did die contented.

Aus der frühen Zeit des Sängers:

ZITAT

Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörbare Melancholie alles Lebens.

Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grund, der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muß.

Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)

George Steiner [Vorspruch zu seinem Buch]: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6

Nachwort

Ich kann mir Steiners Gründe nicht durchweg zu eigen machen, obwohl Schelling mich ebenso anrührt: vielleicht der „Schleier der Schwermut“ mehr als die „anklebende Traurigkeit“. Aber die ganze Natur? Der einfache Grund, dies so zu sehen, ist wohl die projizierte Vergänglichkeit, – ein Wort, nah am falschen Sentiment, leichthin gesagt und wohlklingend. Kennt die Ästhetik der Klassiker nicht auch das Erhabene, das Tremendum, den Sternenhimmel, die griechische Schönheit? Da klebt nichts …

Und doch geht mir der achte Grund nicht aus dem Kopf:

ZITAT

Wir werden nie erfahren, welch tief verborgene Unaufmerksamkeit, Abwesenheit, Abneigung oder alternative Vorstellung den manifesten erotischen Text dekonstruieren. Noch die einander nächststeheneden, aufrichtigsten Menschen bleiben Fremde füreinander, mehr oder minder voreingenommen, mehr oder minder unerklärt. Der Akt der Liebe ist auch der eines Akteurs. Diese Doppeldeutigkeit ist dem Wort mitgegeben.

Denken ist am lesbarsten, am wenigsten verhüllt in Ausbrüchen entfesselter, geballter Energie, wie etwa im Falle von Furcht oder Haß. Diese Triebkräfte können, insbesondere im Augenblick des Geschehens, kaum vorgetäuscht werden, mögen auch Virtuosen des Doppelspiels oder der Selbstkontrolle die Verschleierung bis zur Meisterschaft beherrschen.

Tiere, mit denen wir Umgang haben, zeigen uns, daß wir in Momenten der Furcht einen spezifischen Geruch absondern. Vielleicht hat auch Haß einen Geruch. Da Haß die gesamte Palette mentaler und instinkthafter Kräfte mobilisiert, könnte er sehr wohl die vitalste, geladenste Geisteshaltung sein. Er ist stärker, kohäsiver als Liebe (wie Blake intuitiv erkannte). Oft ist er der Wahrheit näher als jede andere Offenbarung des Selbst. Die andere Klasse gedanklicher Erfahrung, bei der es zum Zerreißen des Schleiers kommt, ist die spontanen Lachens. In dem Augenblick, da wir den Witz verstehen oder einen Blick auf die komische Seite erhaschen, liegt unser Wesen bloß. Kurzzeitig gibt es keine  ›Hintergedanken‹. Doch diese Öffnung hin auf die Welt und die anderen ist nicht von Dauer; unabsichtliche Beweggründe kennzeichnen sie.

In dieser Hinsicht wird das Lächeln fast zur Antithese des Lachens. Das Lächeln von Schurken hat Shakespeare sehr beschäftigt.

Im großen und ganzen bleibt der Skandal bestehen. Kein letztes Licht, keine einfühlende Liebe legt das Labyrinth der Innerlichkeit eines anderen frei. (Bilden echte Zwillinge, mit ihrer Privatsprache, wirklich eine Ausnahme?) Letztlich kann Denken uns zu Fremden füreinander machen. Die intensivste Liebe – schwächer vielleicht als Haß – ist eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.

Ein achter Grund für Betrübnis.

Quelle George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6 (Zitat Seite 61f)

Spiegelbilder

Vor drei Tagen

in Facebook

Pressetext

Die weiblichen Protagonistinnen sind zentrales Element dieses Konzeptalbums. Es präsentiert die Arien als sich gegenseitig spiegelnd: eine Händel-Arie über eine Heldin wird durch eine eher unbekannte Arie über dieselbe Figur komplementiert – so entstand auch der Albumname Mirrors. „Die Hörer:innen können so verschiedene Reflexionen desselben Charakters erleben, als betrachteten sie ihn durch einen zerbrochenen Spiegel“ , erklärt Yannis François, der für die Konzeptualisierung der Aufnahme verantwortlich ist. Die Arien erzählen von Schlüsselmomenten in der psychologischen Entwicklung der Protagonistinnen, beleuchten die Vielfalt emotionalen weiblichen Erlebens und die nachvollziehbaren Perspektiven auf ihr Leben.

Die CD ist eingetroffen:

Beim ersten Hören steigen leichte Befürchtungen auf: Erinnerungen an „Sturm“ – Arien mit Cecilia Bartoli, – das ist hier ebenso bewundernswert wie dort, aber es ist nicht das, was ich mir an einem dunklen Novembertag auflege.

Und dann kommt Track 5. Ein italienischer Topos. Die Entdeckung der schmerzlichen Vorhalte. Ich kenne dies von Pergolesi, natürlich: „Stabat mater“, und von Bach, Praeludium h-moll, Wohltemperiertes Klavier Teil 1, vollendet im Jahr 1722, – da war Pergolesi gerade 12 Jahre alt (1710-1736), ich verzettele mich. Aber dies wunderschöne Werk hier stammt von – Telemann. Erstmals aufgeführt 1704 (Telemann ist im Jahr davor Leiter und Komponist der Leipziger Oper geworden), eine weitere Aufführung folgt zur Herbstmesse 1710. Und woher kommt nun besagter „Topos“ ? Ich dachte an Bachs frühe Kantate 21 „Ich hatte viel Bekümmernis“ , aufgeführt 1714. Schauen Sie auch hier im Blog. Bei Alfred Dürr steht’s:

(Dieses letzte Präludium des WK I) spiegelt unverkennbar den Typus der italienischen Triosonate wieder, wie sie Arcangelo Corelli (1653-1713) in großer Zahl für 2 Violinen und Basso continuo komponiert hat, und die Merkmale der konsequenten Dreistimmigkeit, des melodischen, einander frei imitierenden beiden Oberstimmen sowie des gemessen schreitenden Stützbasses (…) usw. usw.

Natürlich, Corelli, jeder hätte es wissen können, ich sollte es dabei belassen und mich lieber ganz dieser herrlichen Stimme widmen und – wie es mir angeraten wurde – an Händel denken und die entsprechenden Spiegelungen zu schätzen lernen. Ja, aber bin ich nicht gerade dabei? Ich suche einstweilen noch nach den Texten der hier gesungenen Partien… Es dauert eine Weile, ehe ich den entsprechenden Code finde, aber er ist da, unten links:

Photos von Gregor Hohenberg

In der Tat, als ich Jeanine De Bique im Album-Trailer (0:45) von „Barockmusik mit dem ältesten Orchester der Welt“ sprechen hörte, erschrak ich und fragte mich: meint sie unser Ensemble, das Collegium aureum, das noch bis etwa Mitte der 90er Jahre auf Tournee ging? nein, ich sehe junge, sympathische Kollegen, die damals schon erheblich jünger waren als ich, – Freunde, könnte ich fast sagen, die bei Franzjosef Maier in Köln studierten, Markus Hoffmann und Jörg Buschhaus, oder Alexander Scherf, der mir bereits seit Schülerzeiten samt Cello in Solingen begegnete, Jean-Michel Forest (bei Musica antiqua Köln). Ich drifte schon wieder ab. Jetzt geht es also erstmal um die Texte. Der QR-Code links unten führte mich zur Quelle, ohne dass ich sie hier direkt abrufbar machen könnte (aber Sie werden doch wohl Ihr Handy selbst griffbereit haben?) :

Rimembranza crudel / sempre il mio cor fedel / penar farà

Nova Clizia al raggio amante / del suo vago, e bel sembiante / portar lungi il pié non sà.

Die grausamen Erinnerungen / werden mein treues Herz / auf ewig leiden lassen

Wie Klytia, die nach ihrem geliebten Apoll schaut, / vermag ich mich nicht loszureißen / vom Anblick seines schönen Gesichtes.

Eine Kostprobe der ersten Zeile finden Sie hier, im Tracklisting Nr. 5, und wenn Sie es nicht lassen können, schauen Sie dort rechts oben, wie man die CD kostenpflichtig erwirbt. Ich habe es nicht anders gehalten. Habe es aber aufgegeben, weitere Nachforschungen über Opern und deren Plots anzustellen. Händel in Italien, ja, 1709 „Agrippina“ in Venedig (Text: Kardinal Grimani). Telemann 1704 „Germanicus“ , (deutscher ? Text: Christine Dorothea Lachs). Sind beide Agrippinen identisch? Mutter oder Tochter? Ehrlich gesagt: ist mir egal. Allerdings erinnert mich die zweite Zeile der Händel-Arie Tr.4 motivisch an eine Melodie, die ich seit Berliner Liederabenden 1960 (Victoria de los Angeles) kenne und nie mehr wiedergefunden habe: „Violetta graziosa“. Aber auf welche Silben? Eine gute Übung wäre es, „im wildesten Sturm“ den Atem anzuhalten und den rasant skandierten Text zu verfolgen, zur ersten Orientierung im Tracklisting Nr.4, am besten natürlich im Original, als echte Spiegelung im Gehörgang – „al dolce aspetto“ , wie die brillante Oboe als Spiegelung einer ebenso brillanten Stimme:

L’alma mia frà le tempeste / ritrovar spera il suo porto.

Di constanza armato ho io petto, / che d’un regno al dolce aspetto /

le procelle più funeste / son oggetti di conforto.

Inmitten dieser Stürme hofft meine Seele, / ihre frühere Ruhe wiederzufinden.

Ich wappne mich mit Beharrlichkeit, / denn wer den Thron vor Augen hat,

der findet noch im wildesten Sturm /  süßen Trost und Erquickung.

Man kann sich auch prüfen, ob man eigentlich Qualitätsunterschiede feststellt, Personalstile, Zeitstilbrüche (immerhin in einer Spanne zwischen 1704 bis 1745!) – Graun, Telemann, Händel, Gennaro Manna (?), Leonardo Vinci (?), Riccardo Brocchi, und man kann sich einfach freuen, was eine einzige instrumental und expressiv geführte Singstimme im Wechsel mit hervorragenden Instrumentalisten vermag…

ODER? Hätte ich mich dieser CD ganz anders nähern sollen? Nicht als Ahnungsloser mit unberechenbaren Kenntnissen und Vorlieben, Erwartungen und Fehleinschätzungen? Sondern? Natürlich kann ich mich bemühen, den Ideen der Interpreten und Programmgestalter zu folgen. „Über die Musik“ – da steht’s. Mit anderen Worten: ich lese das Booklet und fange mit den letzten Tracks an, 12 und 13. „Vor diesem Hintergrund gibt es wohl keinen geeigneteren Vergleich als ‚Mi restano le lagrime‘ von Broschi bzw. Händel.“ Ach, lesen Sie doch selbst, wenn Ihnen dies Vorgehen nicht zu didaktisch ist. Es ist ja der Aspekt des Dirigenten Luca Quintavalle, und er weiß schon sehr genau, wovon er spricht. Wir aber müssen noch die italienischen Texte nachschauen, ebenso die Übersetzungen, ja, und ihm in seiner irgendwie assoziativen Reihenfolge folgen. Ich habe mir die Tracks hineingeschrieben.

Den Anfang des Textes liefere ich nach und nehme das nette Statement der Sängerin noch dazu:

Nachtrag 19.01.22

Das erwähnte Lied, das ich aus Liederabenden 1960 in Berlin in Erinnerung habe, ist dingfest gemacht!! Christiane Oelze hat mir dank Facebook geholfen, indem sie eine Information aus Neuseeland weitergegeben hat. Es stammt also aus der Oper „Pirro et Demetrio“ (1694) von Allessandro Scarlatti (1659 – 1725).

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Hier eine Aufnahme mit Noten (vorgetragen von einer unbekannten Sängerin), und nachfolgend mit Elly Ameling (ich werde es nie wieder vergessen), vielleicht etwas zu ruhig: Hier.

Mit Blick auf Bach

Spitta, Heinichen, Goebel

Endlich besitze ich den Spitta, den Beginn der großen Bach-Forschung, zwei gewaltige Bände à 800 + 1000 Seiten. Und da ich gerade auf Heineken gekommen war, schaue ich, was es dort darüber zu lesen gibt. Zu Anfang des Kapitels CÖTHEN, Band I, Viertes Buch, Seite 613:

in Rom also traf Fürst Leopold auf den Komponisten Heinichen, der später in Dresden wirkte. Als stiller Konkurrent von Bach? Findet man etwas darüber in Wikipedia, hier? Immerhin… Aber wo habe ich kürzlich etwas über sein gelehrtes Hauptwerk gelesen, das Bach gut studiert haben soll?

„Musik & Ästhetik“ – Ich muss später darauf zurückkommen, aber es ist (für mich) sensationell, wie hier die Fäden zusammenlaufen. Genau dieses Werk von Heinichen besitze ich seit wenigen Tagen, ein Original, so wie es Bach vor Augen und in Händen gehabt haben könnte:

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wo sind Reinhard Goebels CDs? Ich muss sie aufs neue hören, tolle Musik, und da gibt es einen Parallel-Satz (hier Tr.1) zu einem Satz der Brandenburgischen Konzerte, Thema Jagd. Ich muss vor allem die Booklet-Texte nachlesen. Wer sonst könnte mir den Komponisten und die Zeit so gegenwärtig machen wie RG?

©Reinhard Goebel / hören: hier

Scheint die Zumutung zu groß, einen solchen Text wie den hier folgenden zu entziffern? Und wenn er von Bach wäre statt von Heinichen?

Anmerkung (a): Es sei mir erlaubt, hier eine Frage einzuwerfen, nämlich woher es komme, dass es zur Zeit in unserm Land so viele übermäßige Kontroversen, soviel Widerspruch, soviel Diskussion zwischen den alten und neuen Komponisten gibt? Antwort: die häufigste (um nicht zu sagen: einzige) Ursache ist, dass sich beide Teile um das Hauptprinzip, worauf alles in der Musik ankommt, nicht einigen können, – ob nämlich die Musik und ihre Regeln nach dem Gehör oder nach der sogenannten Vernunft eingerichtet sein sollten. Die Alten halten es mehr mit der Vernunft, die Neuen aber mit dem Gehör. Und weil also beide Parteien in den ersten Fundamenten nicht einig sind, kann es nicht ausbleiben, dass die aus zwei konträren Prinzipien gemachten Schlüsse und Konsequenzen ebensoviele untergeordnete Kontroversen und tausend genau entgegengesetzte Konsequenzen gebähren. Bekanntlich haben die Alten sich zwei Richter in der Musik gewählt: Ratio und Auditum (Verstand und Gehör). Die Wahl wäre richtig, weil sie beide unentbehrlich sind. Jedoch wegen des jeweiligen Anteils dieser beiden Kommandanten wollen die heutigen Zeiten mit den vergangenen nicht mehr übereinstimmen, und das Altertum wird hierin zweier Fehler beschuldigt.

Mein erster Versuch in O-Ton Heinichen… lesen Sie doch bitte selbst weiter. ⇑

Zu den Dresdener Concerti

©Reinhard Goebel

Von der Fuge

Armida Quartett – s.a. im Blog hier (Köln!)

Und wo liegt das tertium comparationis? Im Verfasser des Textes, der auch hinter der Werk-Auswahl steckt.

©RG

Fröhliche Wissenschaft

Nietzsches Buchtitel wird vom Journalismus gern beschworen, wenn es darum geht, die präzise gedachten Wörter- und Satzfolgen mit einer gewissen Leichtigkeit zu versehen, was durchaus von Flapsigkeit zu unterscheiden ist. Andere bleiben einfach bei dem Grundsatz: seriöse Forschung muss auch in einem ruhigen Ton vorgetragen werden, der Vertrauen schafft und auch Zweifler zum Mitdenken ermuntert. Goebel gehört zu den letzteren, wenn auch von einem sanguinischen Temperament angetrieben. Es ist immer auch amüsant ihm zuzuhören.

Ganz anders sieht es aus, wenn der leichte, kommunikative Spiritus nicht durch fundiertes Wissen gesteuert wird. Das Buch von Klaus Eidam ist schon 20 Jahre alt, hat aber unnützerweise die Leistung echter Wissenschaftler – passend zur Coronazeit – fragwürdig gemacht. Es beginnt mit dem ehrenwerten Hermann Keller, – und man tut gut daran, jedes einzelne Faktum zu überprüfen, kaum jemand kommt ungeschoren davon. Hier können Sie üben: beginnen Sie vielleicht mit dem zuletzt genannten Thema B-A-C-H, transponieren Sie es „zwei Ganztöne nach oben“, dann haben Sie D-CIS-E-DIS.

 

Gesegneter Absch(l)uss ins All:

Joachim Ernst Berendt? Ein Dilettant auch er. Ich habe keine Lust mehr, mich mit seinen Gedanken zur Harmonie der Welt oder zur Musikästhetik von Kürbissen und Petunien auseinanderzusetzen. Mir genügt unsere verbale Begegnung vor rund 30 Jahren: hier (Gegen „Nada Brahma“).

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Zurück zum Thema B-A-C-H: Wie beginnt die cis-Moll-Fuge denn wirklich? CIS-HIS-E-DIS (-CIS). Vielleicht meinte der Besserwisser anderthalb Töne, so dass sie tatsächlich mit CIS bzw. DES begänne, – dann wäre es eben DES-C-ES-D bzw. CIS-HIS-DIS-CISIS. Und nun schauen Sie bei Keller nach (Seite 53), wie sorgfältig er mit dem Thema umgeht, das – nebenbei – wahrhaftig nicht aus 4, sondern aus 5 Tönen besteht. Die aber haben nichts mit B-A-C-H oder seiner Transposition zu tun. (A propos Keller: noch eine sehr nützliche Lektüre, obschon etwas alt…)

Quelle Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter Kassel 1965 / sen letztes großes Werk, sein erstes: Die musikalische Artikulation / insbesondere bei Bach / Stuttgart 1925

Des weiteren zur Lektüre empfohlen:

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel 1998

Intelligenz am Werk

Solissimo Violine Zwiener

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Selten habe ich mich so gefreut über eine neue Geigen-CD, die dem Senza-Basso-Spiel vor Bach gilt, eine Auswahl, von der ich vor 40 Jahren nur träumen konnte: dabei hatte ich mir von Anfang an schon allerhand Wissensstoff besorgt:

… den Boyden im August 1972, angeregt durch Sigiswald Kuijken. Und über den Aschmann (Zürich 1962), den ich am 30.8.73 in Benediktbeuern erstand oder zu lesen begann, konnte Reinhard Goebel, dem ich am Telephon – latent stolz – darüber berichtete, nur spötteln (er besaß schon alles überhaupt Greifbare zum frühen Violinspiel). Ich sehe Gebrauchsspuren auf dem Cover, vorn Abdrücke eines Weinglases (?), hinten einen illegalen Malversuch meiner Tochter (*1971).

Gestern, als die CD angekommen war, habe ich natürlich als erstes auch das folgende Youtube-Video „nachgeschlagen“, – sehr schön und sehr anrührend, und gleich zu Anfang auch überzeugend, was den Takt bzw. den strittigen Ton angeht, am Anfang der zweiten Zeile (e oder es?).

Zum Kennenlernen – Gunar Letzbor – hier (hineinhören!)

Natürlich habe ich mir seit damals einiges von den älteren Sachen besorgt (in vielem erkenne ich Goebels Tipp oder – Handschrift). Biber kann ich recht gut, von seinen Mysterien-Sonaten hatte ich einige in Solinger Kirchen gespielt, als es noch gar nicht Usus war, sich mit Skordatur (anders gestimmten Geigen) aufs Podium zu wagen. Ansonsten mochte ich nichts von Komponisten vor Bach so gern, dass ich Übezeit opfern wollte. Hören – ja! die Begeisterung für Monteverdi (Madrigale – dank Deller Consort – und Marienvesper) war schon immer da. Andererseits fühlte ich mich als Pionier der Barockgeige, und sehe nachträglich, dass ich irgendwie im Dunkeln tappte… Viel später erst hat mein Lehrer Franzjosef Maier, der schon in den 60er Jahren mit uns die von Muffat im „Florilegium“ dargelegten Spielweisen erarbeitet hatte, auch die Mysterien-Sonaten „zur Kenntnis“ genommen, aber erst 1983 für Harmonia Mundi ausgezeichnet eingespielt. Reinhard Goebel folgte1990 mit einer Kontrast-Aufnahme und neuen Ideen. Er machte mich auf manches aufmerksam. Dies könnte seine Handschrift sein:

Nicola Matteis (Goebel)

Walther („Bogenvibrato“?)

Wie früh konnte man überhaupt Pisendels Solosonate schon kennen? Man höre und schreibe: mindestens seit 1952, siehe unten das Vorwort Hausswald.  Die weitere Frage war: wir sollte man sie überzeugend spielen? Ich habe Im WDR-Archiv noch frühe Biber-Aufnahmen abgehört: unfassbar spießige Alte Musik, aufgenommen im großen Sendesaal von Mitgliedern der frühen Cappella Coloniensis, – trotz Mitwirkung Fritz Neumeyers am Continuo. Der Stil änderte sich prinzipiell erst mit den Gebrüdern Kuijken! … und mit Reinhard Goebel.

vgl. Aschmann

Man sieht es den Akkorden z.B. in der Zeile 5 nicht unbedingt an, wie unglaublich schwer sie zu greifen und sinnvoll vorzutragen sind. Es reizt von Natur aus keine/n Geiger/in, sich daran die Zähne auszubeißen. Anders als bei Biber oder gar bei Bach, von dem hier nur eine der schwierigsten Stellen wiedergegeben sei. Ein Pianisten-Auge sieht das nicht, es handelt sich – nach den leeren Saiten d/a um den „machbaren“ Griff d/gis und den darauf folgenden vierstimmigen Fingerverknotungsgriff  h/gis/d/f, eigentlich nur um diesen einen Akkord, der die Wirkung der Kadenz zunichtemacht, scheinbar, – es sei denn man macht eine Kunstpause und spricht ein Trostwort ins Publikum…

BWV 1003 Fuge T. 277 ff

Ich hoffe, man verübelt mir nicht, dass ich zunächst über mich selbst schreibe statt über die fabelhafte Geigerin. Das kommt auch daher, dass ich nicht zum eigenen Ruhme schreibe, sondern um mich zu vergewissern, ob oder wie ich innerlich mit den Dingen, die mich heute bewegen, verbunden war, bin oder sein sollte. In den 70er Jahren zum Beispiel habe ich nicht nur Geige gespielt, sondern eine Dissertation über arabische Musik abgeschlossen, mich intensiv mit indischer Musik u.a. beschäftigt, wurde beim WDR fest angestellt – nolens volens! -, produzierte regelmäßig Sendungen und Konzerte mit außereuropäischer Musik, machte Aufnahmereisen u.a. nach Rumänien, Afghanistan und Korea.

Trotzdem, – um bei Biber zu bleiben – , ich fand mich irgendwie wohl unersetzlich, zumal mir ein barocker Geigenstil im Sinne Monteverdis vorschwebte, nämlich leidenschaftlich und virtuos. Alte Musik durfte nicht zahm und langweilig sein. Und auch in der „Schutzengel“-Sonate hätte ich weniger die frommen Gedanken als den Lamento-Bass herausgekehrt, den tragischen Lebensweg zum Tode, der ein ständiges Aufbegehren provoziert. Mit Blick auf Bachs „Ciaconna“ ebenso wie auf Flamenco-Modelle und verwandte arabische und indische Modi. Wie dem auch sei, ich lese mit besonderer Anteilnahme, was jemand sich bei Musik denkt, und wie er oder sie das in Worte fasst. Es ist ein Indiz, kein Rezept. Ich empfehle daher auch, das ganze Booklet zu lesen, das glücklicherweise online auffindbar ist: nämlich hier. Merkwürdig, dass Nadja Zwiener von einer Art „Trance-Zustand“ spricht… Man kann ganz anderer Meinung sein, aber es ist mir eigentlich lieber als der moderate Text, den einst mein verehrter Lehrer zu den „Rosenkranz-Sonaten“ geschrieben hat. Die musikalische Welt, die für mich maßgebend war, habe ich damals immer wieder darstellen wollen, und auch die Gelegenheit im Radio genutzt. Sendungen ohne Text. Zum Beispiel nur über die Idee der 4 Töne abwärts, denen die „Schutzengel“-Sonate gewidmet ist.

 

Die Passacaglia „Schutzengel“ von Heinrich Ignaz Franz Biber (nach Aschmann)

Biber: zum Vergleich hineinhören hier (Gunar Letzbor) hier (Goebel) / Text hier

Wer war Johann Joseph Vilsmayr? (Biber-Schüler) Siehe Wikipedia hier

Vilsmayr: zum Vergleich hineinhören hier (Austrian Baroque, Liliana Bernardi)

Gunar Letzbor

Zitat zu Biber (Seite 177): „Mit Gottes Hilfe werden wir versuchen, diese katholische Botschaft auch Menschen mit anderem religiösen Hintergrund zu vermitteln und ihnen ein mystisches Erlebnis der großen göttlichen Liebe zu schenken.“

Einbandgestaltung: Christian Vitalis unter Verwendung von Fotografien von Daniil Rabovsky (Cover) und Franz Farnberger (Rückseite) / ISBN 978-3-86846-155-8

Man sollte einmal in die Aufnahme der Westhoff-Suite in a-moll hineinhören, Stück für Stück, man hat sie ja leicht greifbar bei jpc hier. Ich finde da nichts wieder von dem, was mich bei Nadja Zwiener fasziniert: hier. Sicher, es ist brutal, nur diese herausgerissenen Fragmente abzuhören, aber es lässt sich doch schon vieles erahnen. Wenn auf der Solissimo-Geige vierstimmige Akkorde verlangt sind, sollte man wissen, dass sie anders klingen dürfen und sollen als in der „Kreutzer-Sonate“. Auf jeden Fall nicht einer wie der andere, sondern sehr unterschiedlich arpeggiert und nie und nimmer gebrochen in „unten zwei“ und „oben zwei“, die letzteren dann durchgezogen. Im übrigen auch sonst: es bedarf phantasievoller Varianten im Bogenstrich-Tempo, man braucht „sprechende“ Stricharten, selbst bei einem obsessiven Verlauf wie in der Gigue von Westhoff! Was für ein tolles Stück, wenn man es präsentiert bekommt wie von Nadja Zwiener.

Oder man nehme die Vilsmayr-Partita in A-dur auf der derselben Zwiener-CD Tr. 14 – 23 und vergleiche sie mit der Aufnahme von Liliana Bernardi hier Tr. 1-10. Z.B. die „einfache“ Aria, hier Tr.2 (bei Nadja Zwiener Tr.15), da ist auf Anhieb der klangliche Unterschied zwischen Barockgeige (N.Z.) und moderner Geige (L.B.) offensichtlich; ich meine nicht den Unterschied der Stimmung (den auch), aber in der Ausführung der Akkorde, – die Ruhe, die Leichtigkeit des Saitenwechsels -, oder das Vibrato, dessen Enge im einen Fall fast ängstlich wirkt, dessen Fehlen aber im anderen Fall, wo man es gar nicht sucht, nur wohltut. Die natürliche Anmut der Melodie und der Ornamente hier, auf der anderen Seite die bloße Korrektheit des scheinbar flotteren Vortrags.

Vorweg ein Fazit zu Nadja Zwiener: für mich ist dies die CD des Jahres. Geigerisch eine Offenbarung, zumal der Ton des „vormodernen“ Instrumentes unverwechselbar zur Geltung kommt, ja unverzichtbar erscheint. Ohne jegliches Defizit hinsichtlich der virtuosen Möglichkeiten. Ich muss zugeben, dass ich z.B. Pisendels Solosonate schon früh in einer Goebel-Abschrift oder -kopie besaß, auch zu üben begonnen habe: sie blieb mir jedoch ein barockes Rätsel, nicht reizvoll, sondern eher wirr und willkürlich, griff- und bogentechnisch schwierig, aber ohne tieferen Sinn. (Bei Bach ist es der Sinn, der einen ruhelos macht und beim Üben vorantreibt.)

Es braucht einige Zeit, ehe man sich auf dieser CD zurechtfindet: machen Sie den Test, spielen Sie jemandem die CD (27 Tracks) vor und fragen Sie zwischendurch, wo wir uns befinden. Kaum denkbar, dass Sie eine befriedigende Antwort bekommen. Übrigens hilft auch die Lektüre des Booklet-Textes nicht viel (Reihenfolge der thematisierten Tracks 12, 8, 26, 27, 14-23, 3-6, 9-11), obwohl das wiedergegebene Gespräch mit Nadja Zwiener sympathisch, informativ und anregend ist. Es gehört auch dazu, dass man erfährt, wie sorgfältig sie die Abfolge des Programms gestaltet hat. Auch, was es für sie bedeutete, diese Produktion in der Corona-Zeit erarbeitet zu haben, also: die unfreiwillige Einsamkeit für Solissimo-Musik zu nutzen, die nicht von Bach stammt. Man genießt es, und es zahlt sich aus, immer wieder innezuhalten und sich zu vergewissern, in welchem Umfeld oder Jahrzehnt man sich befindet (z.B. Portugal 1720?). Vilsmayr (Biber-Schüler) – 10 Sätze und Charaktere, Aria oder Menuett? Giga mit Variationen fast 9 Minuten – wo bin ich? (Finale Pisendel).

Interessant finde ich Nadja Zwieners Bemerkung zum Prelude in A-dur von Corelli, das im Original als Satz einer Sonate mit Continuo-Begleitung veröffentlicht wurde (1700 Corelli op.5 siehe hier). Sie sagt:

Ich war selbst überrascht, als ich ein Faksimile eines Walsh-Druckes von 1705 in die Hände bekam, der gesammelte Präludien für Violine solo der „großen Meister aus ganz Europa“ enthält, darunter Namen wie Corelli, Purcell und Biber. (…) Gerade Corelli mit seinen wegweisenden Violinsonaten opus 5 war noch Jahrzehnte nach seinem Tod europaweit bekannt. Das Prelude in A-Dur ist wortwörtlich der Mittelsatz aus einer dieser Sonaten, aber eben ohne Bass. Anscheinend war es durchaus üblich, diese Werke auch ohne Begleitung zu spielen.

Wenn Sie vergleichen wollen: die Original-Version finden Sie auf Youtube in der Gesamtaufnahme mit Andrew Manze hier06. Sonata No.6 for violin & continuo in A major“ Satz III ab 1:01:45 bis 1:02:42.

(Fortsetzung folgt)

Josquin heute

Klangeindrücke

Vox Luminis LIVE – La Déploration sur la Mort de Jean Ockeghem – Josquin Desprez

Auswahl verschiedener Interpretationen durch Florian Vogt in dem Artikel Wie klingt Josquin heute? Neue Einspielungen zum 500.Todesjahr (Musik&Ästhetik Heft 100 Oktober 2021 Klett-Cotta Stuttgart / Seite 116-120)

Josquin Desprez (1440-1521)
Le Septiesme Livre de Chansons.. jpc HIER
Ensemble Clément Janequin
Marianische Motetten & Instrumentalstücke
„Stabat Mater“…………………………..jpc HIER
Cantica Symphonia, Giuseppe Maletto
Missa Pange Lingua
The Golden Renaissance……………..jpc HIER
Stile Antico
Josquin
Motets & Mass Movements………..jpc HIER
Brabant Ensemble, Stephen Rice
Josquin
Chansons – „Adieu mes Amours“…jpc HIER
Dulces Exuviae, Romain Bockler
Johannes Ockeghem (1430-1497)
Les Chansons……………………………..jpc HIER
Cut Circle, Jesse Rodin
Josquin Desprez (1440-1521)
Chansons – „Se Congie Prens…….jpc HIER
Musica Nova, Lucien Kandel
Songs of Songs
Werke von Palestrina, Gombert, Josquin.. jpc HIER
Cappella Mariana
Josquin Desprez
Stabat Mater. Motets…………………….YouTube HIER

La Chapelle Royale, Philippe Herreweghe 

 Aus dem Artikel von Florian Vogt folgt hier die Seite, die mich motiviert hat, in alle angegebenen CDs hineinzuhören:

Quelle s.o. unter YouTube-Video

Geschmäcker (Bach – einst und heute)

Stoff zum Nachdenken

Die Geigerin (und Pianistin) Julia Fischer schreibt über ihre Erfahrungen mit Bach:

CD Pentatone Classics PTC 5186072

Dieser Text verwunderte mich, – die Künstlerin war ja 2004 zur Zeit der Aufnahme erst 21, und sie spricht von prägenden Eindrücken, die noch 7 oder sogar 10 Jahre zurückliegen. Menuhin war ein Meister des Wortes, und das, was der weise alte Mann als Lehrer sagte, hat eben das Kind begeistert. Andere, die zugehört haben, waren ganz anderer Meinung, – und das war übrigens schon in meinen 1960er Jahren so –, sie aber sagt: „Nun, das bleibt Geschmacksache.“ Bei allem Respekt, das darf man heute (und auch 2004) so nicht in den Raum stellen. Jeder kann doch ohne weiteres anhand seiner vorliegenden Bach-Aufnahmen heraushören, was er gesagt haben könnte: und das ist keine Geschmacksache, sondern sehr altmodisch; er spielt Bach, wie eben ein großer Geiger spielt, mit großem Ton, konsistent, mal laut, mal leise. Ich habe ihn 1985 persönlich getroffen, es war eine nette Begegnung; ich schätzte ihn vor allem, weil ich eine unglaublich musikalische Platte aus seiner frühen Zeit kannte. Und: weil er die indische Musik so gefördert hat.

Und bei Glenn Gould gehen und gingen die Meinungen aus ganz anderen Gründen auseinander, ich ertrage ihn schwer. Auch er wird erwähnt, als gelte seine Auffassung heute wie damals.  „Es war, als erwache Bach zu neuem Leben, als ob Gould alles neu entdeckt.“  Könnte doch sein!? Ja, sicher… „Sein Mut, neue Wege zu gehen“. Genau. Und so weiter: Die „Ciaccona“ in Busoni-Fassung gehört ohnehin zwei Zeiten (mindestens) an. Spielt Kissin sie wesentlich anders als Hamelin? Natürlich, aber das ist nicht wesentlich….

(Schnittfehler: 3 Töne am Anfang fehlen) Produzent: Paul Gordon / The film, entitled Concert Magic, and featuring other artists besides Menuhin, was shot in the last months of 1947 at the studio formerly used by the comedian Charles Chaplin. Released about a year later, it was reasonably well received, but never caught on. Television was beginning to take over this sort of territory, and as a medium it was better able to present musical performances with immediacy and flair. Concert Magic has been virtually unseen for many years.

Wer war Anna Magdalena Bach?

Mythenbildung

Es gibt wirklich blumenreiche, filmreife, wahre Details aus Anna Magdalena Bachs Leben, aber die hätte ich damals für erfunden gehalten, andere, die ich heute, wären sie wahr, für etwas skandalös hielte, aber auch spannend; nur dass sie einige der besten Werke ihres Gatten nicht nur abgeschrieben, sondern sogar selbst komponiert haben könnte, dass hätte ich im Leben nicht geglaubt, – das stand ja nicht mal in der erfundenen kleinen Chronik, an die ich damals für kurze Zeit geglaubt habe. Und ob sie in Köthen zuerst eine Mätresse des Fürsten gewesen sein könnte, das werde ich erst ganz zum Schluss in Betracht ziehen … vielleicht auch nicht.

So hat es bei mir begonnen: am Tag der Konfirmation erhielt ich dieses Buch, das ich für eine authentische Chronik hielt, die mich nun dem Alltag meines Idols Bach näher bringen konnte. Und ich habe das Buch verschlungen. Es war auch die Zeit, als ich aufrichtig versuchte, fromm zu sein oder zu werden. Mindestens so wie Albert Schweitzer. Der Kantor der Pauluskirche Bielefeld, Eberhard Essrich (Stellvertreter Bachs auf Erden, dessen Frau, wie ich fand, nicht zufällig auch Magdalena hieß) schrieb mir in einem persönlichen Brief, er wünsche mir, dass ich als Geiger ein rechter Spielmann Gottes werde. Er werde mir in Kürze auch Orgelstunden geben, wenn ich Lust habe. Ich war begeistert. Ihm verdankte ich auch das Schlüsselerlebnis einer Bach-Kantate (live!) „Jauchzet Gott in allen Landen“, deren Partitur ich mir selbst anschaffte. Sopran, Solo-Trompete, Solo-Geigen, Choral! Meine Mutter war Zeuge und führte Buch („Chronik“):

20. März 1955

  Es wurden nur 10 Stunden 31.4. bis 17.9.55, dann folgte erstmal Harmonielehre, Choräle mit sinnvollen Bass-Linien zu versehen, bezifferte Bach-Choräle auszusetzen.

 

Enttäuschung: ein Freund meines Vaters, Dr. Peter Schmidt, enthüllte bald, dass die besagte Chronik eine Fiktion aus der Feder der englischen Schriftstellerin Esther Meynell sei (siehe hier). Es gab keinen Zweifel, der Mann hatte musikwissenschaftliche Arbeiten verfasst (im ersten MGG über Forchhammer, Mühling, Ritter, Schwencke, Willing) und gab mir kleine, angestrengt lustige Lehrstunden, das Lispeln loszuwerden). Ich hielt mich jetzt an Albert Schweitzers Bach-Buch (aus der Stadtbibliothek). Brauchte ich einen Bach-Bogen? (Nein!)

eine Auswahl!

Daraus hatten wir alle gespielt, wohlwissend, dass auf der zweiten Seite stand „Die leichtesten Stücke ausgewählt und bezeichnet von Franz Ludwig“ und: dass unsere Lieblingsstücke eventuell gar nicht von Bach sind, sondern u.a. von Petzoldt. Am Klavier wollte unsereins sowieso lieber – nach fast durchgestandenem Stimmbruch – mindestens den Anfang der „Pathétique“ interpretieren.

Die rührenden, filmreifen Details aus Anna Magdalenas Alltag las ich erst 1975 in den Bach-Dokumenten und jetzt wieder im Bach-Jahrbuch 2020 (Talle S.296):

dass sie eine passionierte Gärtnerin war und den Vetter und Privatsekretät ihres Mannes, Johann Elias Bach, bat, ihr aus seiner fränkischen Heimat gelbe und ‚Himmel blaue‘ Nelken zu besorgen, eine dort erhältliche botanische Rarität. Als diese eintrafen, soll sie sie höher geschätzt haben „als ihre Kinder ihren Christ Beschehr“ , und sich sorgsam um sie gekümmert haben, „wie man kleine Kinder zu warten pflegte, damit ja keines von ihnen eingehen möge.“ Während eines Besuches in Glaucha im Jahr 1740 war J.S.Bach von den Fähigkeiten eines abgerichteten Hänflings angetan und sorgte dafür, dass er seiner Frau zugesandt wurde, die anscheinend „eine große Freundin von dergleichen Vögeln“ war.

Anna Magdalena begegnete ich erst wieder, als ich schon im Collegium Aureum mitspielte und Dr. Alfred Krings kennenlernte, aus dessen Nachlass dieses sehr gebrauchte Büchlein stammte. Der Film, dessen bedeutende „Darsteller“ im Laufe der 60er Jahre sämtlich in Schloss Kirchheim/Bayrisch Schwaben auftauchten, wurde uns als den üblichen musikalisch Verdächtigen flugs zum Begriff (auch zum Gespött):

Wikipedia hier

Zitat aus Wikipedia:

Jean-Marie Straub, im Oktober 1968 in einem Gespräch mit Redakteuren der Zeitschrift Filmkritik auf die Frage, warum er diesen Titel behalten habe, obwohl doch der Film nichts mit dem Buch der englischen Autorin zu tun habe: „Aus Dank. Wenn ich das Buch nicht gelesen hätte, wäre ich vielleicht nie auf den Film gekommen. Und weil mir der Titel gefällt, wegen des Wortes Chronik.“

Der ganze Film (mit spanischen Untertiteln):

Ich habe versucht, hier noch etwas persönliche Archäologie zu betreiben, aber die eigentliche Motivation stammt aus dem erwähnten Beitrag des Bach-Jahrbuches 2020, dessen Lektüre mir Reinhard Goebel kürzlich so dringend empfahl. Siehe hier. Jetzt also zum Thema… Stopp! Zunächst noch der Aufreger HIER! …und hier (auf deutsch) die Anpreisung.

Dann die leicht fertigzustellende Recherche anhand meiner neuesten Anschaffung:

Wer ist Andrew Talle?

Titelseite nach Wikipedia

Über das Clavier-Büchlein 1722 und das Notenbuch 1725 siehe hier bei Wikipedia. Ein sehr merkwürdiger Satz steht darin:

Die Bach-Forschung hat sich für das erste Notenbuch kaum interessiert. Es gilt im Allgemeinen nur als Quelle für die älteste Fassung der Französischen Suiten.

Und ich habe diese Merkwürdigkeit auch an mir selbst festgestellt und auf die oben angedeuteten Jugenderinnerungen bezogen: als ich in den 60er Jahren im Schloss Kirchheim – quasi im Vorübergehen – bemerkte, dass das Technikteam (um Krings) eine Schallplatte nach dem „Notenbüchlein“ vorbereitete, blieb ich uninteressiert, ich witterte ein Weihnachtsvorhaben, und obwohl der bekannte Flötist Hans-Martin Linde eins der Liederchen mit seiner recht schönen Baritonstimme vortrug, hielt ich das Ganze doch für etwas „handgestrickt“. Das mag an einer leichten Aversion gegen den Habitus des schon arrivierten Interpreten gelegen haben. Als dagegen jetzt vor zwei oder drei Jahren die CD „Bach privat“ (mit Andreas Staier, Georg Nigl und Anna Lucia Richter) herauskam, war ich so begeistert, dass ich sie dreimal gekauft und verschenkt habe, nun aber selber nicht mehr besitze.

Heute – nach der Lektüre des neuen Bach-Jahrbuches – sehe ich das oben abgebildete Titelblatt mit Erstaunen: Sehen Sie unter dem Großbuchstaben B die dreizeilige Eintragung? da hat sich Vater Bach doch tatsächlich die Buchtitel eines theologischen Autors notiert, offenbar in Ermangelung eines Merkzettels… eine grobe Respektlosigkeit seiner Frau gegenüber??? Ein Wink mit dem Zaunpfahl??  Und schon fängt es an, in mir zu arbeiten, die Mythenbildung beginnt aufs neue… hat sie ihm eine Szene gemacht? Das Wort „offenbar“ verrät es, die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Möglicherweise hatten die Buchtitel für beide etwas zu bedeuten. Ein wichtiger Punkt noch (Christoph Wolff 2000, S. 239):

Leider ist das Album in entsetzlich verstümmelter Form überliefert, denn von den ursprünglich 70 bis 75 Seiten sind nur 25 erhalten. Und so gibt das kostbare Dokument mehr andeutungsweise als erschöpfend Auskunft über die enge und tiefe musikalische Gemeinschaft der Eheleute.

Das prägt sich ein. Am hartnäckigsten aber wirkt nicht das Edle nach, sondern – wie bei Nietzsche – „Menschliches, Allzumenschliches“ :  Z.B. dieser unmögliche Wissenschaftler, dessen Konstrukte man schnell wieder vergessen muss, ehe jemand sagt: vielleicht ist ja doch was Wahres dran? Es ist so wie mit der sprichwörtlichen Schwangerschaft. Entweder ist das kleine Etwas wahr oder nicht, aber was nur etwas wahr ist, gilt für nichts. Alle Produkte des „Wissenschaftlers“ Martin Jarvis sind null und nichtig.

Was ich als erstes erzählen würde: Anna Magdalena hat nicht nur für ihren Mann Noten kopiert, sondern auch für Geld. Also: da kommt z.B. ein Musikstudent und sagt: „Ihr Mann soll so interessante Übungen für Cello geschrieben haben, die brauche ich ganz dringend und zwar bis zu meiner Abreise, das heißt: bis übermorgen früh! Mein Vater zahlt in bar.“ (Ich habe mir das ausgedacht, aber so kann es gewesen sein, und zumindest das mit der Eile und dem psychologischen Druck, das stimmt…) Das Ergebnis ist entsprechend. Und da kommt nun heute ein tüchtiger moderner Wissenschaftler daher wie Andrew Talle und fragt: Hat sie von den Originalnoten ihres Mannes abgeschrieben? (Nein!) Hat sie das, was sie geschrieben hat, innerlich gehört und sozusagen mitvollzogen? (Nein!)

Andererseits ist das, was da von Weltklassemusikern herausgelesen werden kann, so unbeschreiblich genial, dass sie konsterniert sagen: ich werde an diesem Schriftstück keinen Fliegenschiss bereinigen, es ist ein heiliges Dokument! – dann kann man das auch verstehen. So ging es vielleicht dem wunderbaren Cellisten Anner Bylsma, als er im Alter das Werk nicht mehr spielen, sondern nur noch mit Worten vermitteln konnte.  Sein Buch über die ersten drei Suiten, Bach. The Fencingmaster, wurde ein Kompendium an Anregungen über die Weisen, sich dieser Musik adäquat zu nähern, – so hieß es in einem Nachruf (SZ 28.07.2019).

Siehe im oben hervorgehobenen Artikel von Andrew Talle, Bach-Jahrbuch 2020, Seite 301, Anmerkung 24. Und für Violinisten sei erwähnt, dass im eben gegebenen Bylsma-Link ein sehr lesenswerter Essay über die Violinpartita in h-moll zu finden ist!

ZITAT Gerhart Darmstadt NMZ 2001

Eine extreme Version ist die zuletzt erschienene Ausgabe von Hans-Christian Schweiker bei Ries & Erler, ohne kritischen Apparat und ohne hinreichende Rücksicht auf Wendemöglichkeiten. In dem Vorwort erklärt er seine Absicht: „Die hier vorliegende Ausgabe orientiert sich sehr viel strenger als bisher erschienene Ausgaben an der Abschrift Anna Magdalena Bachs. Der Herausgeber hat nicht versucht, wie sonst üblich, scheinbare Unstimmigkeiten, Inkonsequenzen und ungewöhnliche Artikulationsmuster zu glätten, sondern sie musikalisch sinnvoll im Dienst der plastischen Struktur dieser Werke wiederzugeben.“ Obwohl diese Auffassung wieder zunehmend auch prominente Anhänger (zum Beispiel Anner Bylsma 1998) findet, so ist sie doch in quellenkritischer Hinsicht und in Anbetracht der Artikulationsgewohnheiten Bachs rundweg abzulehnen. Natürlich ergibt auch die perfekte Übertragung der Ungenauigkeiten unter Umständen ein interessantes und für sich gesehen gelungenes künstlerisches Ergebnis, jedoch verdient eine solche keine öffentliche Verbreitung.

Ich war beim Allzumenschlichen und zitiere eine Passage, die nicht nur mich bewegen wird, zumal sie jenseits aller Musikfragen liegt:

2016 teilte Peter Wollny den eigenwilligen Fall eines 13jährigen Bewerbers namens Christoph Friedrich Meißner (geb. 1716) um Aufnahme in die Thomasschule mit: In dem nach dessen Vorsingen angefertigten Protokoll vom Mai 1729 lobte J.S.Bach seine „gute Stimme und feine profectus“, doch nur ein Jahr später zählte Meißner zu den schlechtesten Sängern der gesamten Schule. Wollnys Erklärung für diese überraschende Diskrepanz ist,daß es sich bei dem Jungen um Anna Magdalena Bachs Neffen handelte. Die Probleme, die Meißner verursachte, beschränkten sich jedoch nicht auf die Musik. 1731 wurde er wegen Fehlverhaltens von der Schule verwiesen. Selbst nach dieser Kalamität erlaubte Bach dem Jungen, weiterhin bei der Familie zu leben, und beschäftigte ihn neben Anna Magdalena und Carl Philipp Emanuel als Schreiber – unter anderem ist er einer der Kopisten im Originalstimmensatz der Kaffeekantate. Man spürt hier, daß A.M.Bach erheblichen Einfluß auf ihren Mann hatte – sie bewegte ihn dazu, einen Prüfungsbericht zu beschönigen und einen alles andere als vielversprechenden Kandidaten mit Vollstipendium in die Thomasschule aufzunehmen, nur weil er der Sohn ihrer Schwester war.

Verlässliches zur Quellenlage der Cello-Suiten siehe hier / zur Frage: für wen Anna Magdalena Bach die einzige vollständig erhaltene und als authentisch geltende Abschrift angefertigt hat, deren Vorlage ebenfalls eine Kopie war (also kein Autograph J.S.Bachs): siehe hier. Als Schwanenberger bezeichnet bei Andrew Talle (2020 Seite 297f) und z.B. bei Christoph Wolff (2000, Seite 404), Schreibweise „Schwanberg“ bei Sackmann (2007, Seite 16).  Bei letzterem steht, leicht irreführend, die Vorlage sei „zweifellos die autographe Reinschrift ihres Mannes“ gewesen. Was wohl nur für die Violinwerke gilt. Siehe im eben gegebenen Link:

No Longer Existing Sources: [F] : The autograph from which A. M. Bach prepared her copy. This autograph was probably already a clean copy. It is very likely that there were several autographs (composing, clean copy, and perhaps even another later clean copy).

Die Frage nach der Vorlage ist nicht müßig, und so macht es durchaus Sinn, eine Liste der Schreib- oder Denkfehler Anna Magdalenas aufzustellen (siehe Andrew Talle 2020, Seite 299). Es geht nicht um eine Verunglimpfung der bewundernswerten Schreiberin, sondern darum,  eine Fortschreibung oder Sakrifizierung der in ihrer Situation unvermeidlichen Fehler zu vermeiden, wie sie übrigens auch bei J.S.Bach selbst vorkommen und dann selbstverständlich auch zu korrigieren sind.

ZITAT Andrew Talle (a.a.O. Seite 299)

Um einen einzelnen Fall herauszugreifen: „Wie könnte sie ganze Schläge einer Allemande (Suite III, T.21) … übersprungen haben?“ (Im folgenden Beispiel nach dem ersten Taktstrich, auf Zählzeit 2 – es fehlt eine Zählzeit.)

Wie es lauten muss:

Nebenbei: Anner Bylsma ergänzt natürlich auch solche Stellen! (Vgl. seine ergreifende späte Aufnahme hier, bei 7:18)

Sechs Suiten: Das Original der Abschrift von Anna Magdalena Bach HIER

Und in der Abschrift des Bach-Schülers Johann Peter Kellner HIER

Die verschiedenen Quellen im Vergleich (Marianne Dumas) HIER

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Was ich mir 1955 in meinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können: die Wissenschaft hat doch einen Weg gefunden, einiges über Bachs privateste Situation herauszubringen, und zumindest indirekt sogar mit Anna Magdalenas Hilfe, ohne ihr allzuviel anzudichten. So rigoros Andrew Talle die Phantasien des australischen Forschers Martin Jarvis zerlegt, so wohlwollend verfährt er mit dem Buch von David Yearsley, dessen Thema ein konservatives Publikum möglicherweise erschrecken könnte: „Sex, Death, and Minuets“. Ich zitiere mit Sympathie, ohne richtig rot zu werden:

Yearsleys Plädoyer für Anna Magdalena Bachs sexuelles Selbstvewußtsein stützt sich zum Teil auf den Umstand, daß sie in den 1740er Jahren ein Hochzeitsgedicht kopiert hat, das einige gewagte Zweideutigkeiten enthält. Während andere Wissenschaftler vor ihm diese Anzüglichkeiten herunterspielten, geht Yearsley bereitwillig auf sie ein: „Daß Anna Magdalena Bach sich in ihrem musikalischen Notenbüchlein von 1725 Witze über Penisgröße erlaubt, ist eine Tatsache, die ebenso unwiderlegbar ist wie sie den Hütern des Bachschen Erbes peinlich war“ (S.43). Als Kontext bietet er eine Tour durch gedruckte Hochzeitsgedichte und stellt fest, daß das Vergnügen seiner Protagonistin an derlei Texten für ihre Zeit und ihr Umfeld durchaus typisch war. Indirekte Belege für A.M. Bachs musikalisches Selbstvertrauen kommen von aufschlußreichen Analysen verschiedener Kantaten, die ihr Mann vermutlich für sie  komponierte, darunter besonders „Vergnügte Pleißenstadt“ BWV 216 (1728) und „O angenehme Melodei!“ BWV 210a (1729). Yearsley bespricht diese Werke auf eindrucksvolle Weise. In suggestiver Sprache vermittelt er den verführerischen Charakter von Bachs Musik und spekuliert fundiert über Anna Magdalenas Bühnenpersönlichkeit. Die Anforderungen, die der Komponist offenbar an sie stellte, lassen vermuten, daß sie in der Tat eine große Virtuosin war – offensichtlich konnte er sich darauf verlassen, daß sie ihre Partie mit der gefragten Koketterie präsentieren konnte. In seiner charakteristischen Ausdrucksweise malt Yearsley sich auch gleich die begleitende Gestik aus, zum Beispiel „eine elegante Hand, die sie auf die Brust legt, ein Senken des Kopfes oder eine Neigung zur Seite, um eine beginnende Ohnmacht anzudeuten, ein Lächeln, ein Zwinkern und andere bereitwillige Bekundungen von Freude und Verzückung“ (S.80). Indem er seine Diskussion auf textlichen wie musikalischen Details aufbaut, gelingt es dem Autor, ein stimmiges Bild von Anna Magdalena Bachs Bühnenpräsenz zu entwickeln; zugleich relativiert er die traditionelle Meinung, daß Bachs Musik viel Frömmigkeit enthält, aber die Freuden des Fleisches weitgehend ignoriert.

Quelle Andrew Talle a.a.O. Seite 304

O angenehme Melodei!
Kein Anmut, kein Vergnügen
Kommt deiner süßen Zauberei
Und deinen Zärtlichkeiten bei.
Die Wissenschaften andrer Künste
Sind irdnen Witzes kluge Dünste:
Du aber bist allein
Vom Himmel zu uns abgestiegen,
So musst du auch recht himmlisch sein.

Spielet, ihr beseelten Lieder,
Werfet die entzückte Brust
In die Ohnmacht sanfte nieder;
Aber durch der Saiten Lust
Stärket und erholt sie wieder.

Die hier avisierte Bühnenkunst findet man heute nicht ohne weiteres in der Alten Musik, obwohl alle wissen: es darf natürlich nicht antiquiert oder gar angestrengt klingen, aber doch nicht gleich kabarettistisch. Etwa so, wie die Gemälde von Gerrit van Honthorst es schon rund 100 Jahre früher ahnen ließen… (Wenn Sie mehr über die Interpreten der folgenden Aufnahme wissen wollen, gehen Sie bitte gleich auf „Ansehen auf Youtube“).

Ich gebe zu: dieser Blog-Artikel müsste allmählich ein Ende finden, aber etwas fehlt noch, fast möchte ich sagen: ein langgestreckter Höhepunkt der biographischen Ausführungen. Einmal die Aufklärung, dass zumindest das zweite Notenbüchlein 1725 „vor Anna Magdalena“ gedacht war, oder vielleicht gedacht, aber dann auch von anderen genutzt worden ist… “ Anzunehmen, daß sie auch für alle anderen Einträge auf irgendeine Weise verantwortlich war, hieße, die Beteiligung der übrigen involvierten Figuren zu mißachten“. (Seite 305)

Dann aber vor allem Andrew Talles Idee, nicht länger nur in A.M.Bachs unmittelbaren Lebenszeugnissen nach biographischen Auskünften zu suchen (es gibt keine), sondern in parallelen  Lebensläufen anderer Frauen dieser Zeit. Es gibt z.B. Drei Autobiographien von Frauen des 18. Jahrhunderts. Von der Sängerin Angelika Rosa sogar eine Serie von eigenhändigen Briefen, deren Original allerdings bei einem Bombenangriff auf Magdeburg zerstört wurde. Und es klingt wie ein Märchen:

Eines Tages, als sie von einem benachbarten Dorf zurückkehrte, wo sie sich als Hauslehrerin vorgestellt hatte, begegnete sie auf dem Heimweg Fürst August Ludwig von Anhalt-Köthen (1697-1755), dem jüngeren Bruder und Nachfolger Fürst Leopolds. August Ludwig war mit ihrer skandalösen Familiengeschichte vertraut, und nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, bot er ihr an, sie für eine Anstellung bei Hofe in Betracht zu ziehen. Am darauffolgenden Tag schickte er ihr um 10 Uhr morgens einen „Läufer“, der sie aufforderte, sich noch am selben Tag um 2 Uhr vorzustellen. Nach ihrem Eintreffen bei Hofe wurde sie aufgefordert, auf dem Cembalo zu spielen, zur Begleitung ihres Lehrers zu singen und einige Stücke eines blinden Komponisten (…) vom Blatt zu spielen.  „Das gelang mir denn auch so, daß ich vom Fürsten mit 200 Thalern Gehalt unter die Hofmusici aufgenommen wurde.“

Undsoweiter. Ich breche ab, und wenn Sie fragen „aber wie geht’s weiter?“ – so habe ich mein Ziel erreicht. Es steht ja alles im Bach-Jahrbuch 2020. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn sich ein zweiter australischer Spurensucher, Phantast und Filmemacher findet und daraus ein Drehbuch macht, das vom Mythos Anna Magdalena profitiert und um die Welt geht.

Nachtrag 4.12.2021 Die Geschichte ist noch nicht zuende:

Ein neues Buch ist da, ein Zeitbild unter dem Titel „Die Frau Capellmeisterin Anna Magdalena“, Autor: Eberhard Spree. Offenbar sehr empfehlenswert. Ich werde mich dieses Themas mit Sicherheit noch einmal annehmen, gerade weil es auch ein Zeitbild bietet. Einstweilen halte ich den Bericht der FAZ vom 17.11.21 für völlig glaubwürdig. Nachlesbar bei Perlentaucher hier  oder bei bücher.de hier.

Besuch in Siegen

Was macht eigentlich Reinhard Goebel?

Seit wann kennen wir uns? Ich habe das vor rund 15 Jahren schon einmal reflektiert, allerdings so, dass er sagte: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr“. Es war ein Scherz, denn er wusste durchaus, wie ichs meine. Allerdings habe ich mich auch an ein Bilderbuch meiner Kindheit erinnert, das mich mit folgender Maxime erschreckte: Ruhe recht und schone niemand! Und heute erhielt ich die Mail eines Kommilitonen von einst, der in die gestrige Klassikforum-Sendung in WDR3 mit Reinhard Goebel hineingehört hat: „Er plauderte über Gott und Harnoncourt und auch die Welt, ließ aber an anderen kaum ein gutes Haar.“ Wie unterschiedlich doch die menschliche Wahrnehmung funktioniert. Mir fiel auf, wie liebevoll Goebel immer wieder über seine Lehrer sprach (Franzjosef Maier, Igor Ozim oder Marie Leonhardt zum Beispiel) und wie hart zuweilen über sich selbst (über sein spätes Violin-Examen in Rostock, über die Takt-Schwerpunkte in seiner alten Aufnahme des Pachelbel-Kanons, die gleichwohl als kritisches Gegenstück zu der Version mit Schmidt-Isserstedt und dem NDR-Orchester auf Anhieb begeistern konnte). Wie auch immer man seine Arbeit und seinen Lebensweg betrachtet: er ist ein Phänomen sondergleichen.

Aus dem JR-Beitrag 2005 (vollständiger Text siehe hier):

Mehr über Reinhard Goebel hier (Wikipedia) und hier (Website) und eher privat:

Bücherwände allüberall!

Aber dort…

…  stehen zwei Bände, die ich auch habe.

Immerhin!

 

Reinhard Goebel: Beethovens Welt (ohne Beethoven) siehe hier

 

 

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Daumen drauf: 19. Jahrhundert er ist ein Frauenversteher unentwegt „präsent“

Was mir aus den Gesprächen im Moment besonders festhaltenswert erscheint, also: über das hinaus, was RG schon in dem GersteinTelekolleg über die Brandenburgischen Konzerte ausgeführt hatte, seine Charakteristik der Concertos: I die Jagd HÖRNER, II der Ruhm TROMPETE, III die Musen: Instrumente in DREIERGRUPPEN, IV der Friedensfürst FLÖTEN, V der Kriegsherr 16tel-REPETITION, VI die schöne Aussicht aufs Jenseits GAMBEN: all das gilt nur für den jeweils ersten Satz.

Wer ist wer? Es gibt keine Langeweile. Der weite Himmel über Siegen!

Alle Fotos: E.Reichow

Und etwas Ähnliches in live und lebendig? Hier:

Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal bei der Erinnerung an die Phantasiewelt meiner frühen Kindheit auch an das VI. Brandenburgische Konzert von Bach denken würde:

JR 1945 (?) Waldemar Bonsels 1940 (Siehe Bio hier!!!)

Weiter mit Bach

BWV 864 A-dur in Arbeit

Dieser Artikelbeginn ist nichts anderes als eine Ermutigung, es nicht beim bloßen Üben bewenden zu lassen, sondern – was? Begriffe zu bilden, zu notieren, welche „Absichten“ Bach verfolgt usw. Oder fangen wir so an: das Praeludium ist einfach großartig, ermutigend in sich, mit dem Aufschwung der großen Sexte, dem chromatisch-absteigenden Kontrapunkt dazu, einem Leidens-Topos, der mir sagt, dass der Aufschwung sich des dunklen Untergrundes bewusst ist. Technisch kein Problem, man kann „gestalten“. Gut, ein erster Ansatz. Aber zugleich sehe ich die Fuge, die ich fürchte: schwer in die Finger zu bekommen, aber auch in den Kopf, – ist sie nicht nur bizarr? Das heißt auch gewollt, gegen die Natur, ich weiß, was für ein Sechzehntel-Gewirr mir droht, wenn ich umblättere. Und wie so oft droht zugleich das Prinzip Perpetuum mobile. Schön spielen ist Nebensache, es muss erstmal alles da sein!

… Platz für den Rest der Fuge …

Nein, Sechzehntel bedeuten Freude (auch Wut, siehe „Sind Blitze, sind Donner“, aber das können wir hier vernachlässigen), zugleich kommt eine Mail, die mich auf ein Choralvorspiel (?) aufmerksam macht, das überquillt, ja, verrückt ist, nicht endenwollend. Schwer zu erkennen, die Choralmelodie, ich habe sie auch nie besonders gemocht, zu schwächlich, dieses „Allein Gott in der Höh sei Ehr“. Will es der Zufall, dass das TRIO meinem Praeludium ähnelt, das ich liebe, und zwar nicht nur in der Nummer des Werkverzeichnisses? BWV 664, es gibt sogar einen Link dazu:

Zur Entstehung siehe auch Wikipedia Leipziger Orgelchoräle hier. Malcolm Boyd schreibt: „Länge und musikalische Qualität scheinen die Hauptkriterien bei der Auswahl gewesen zu sein; während Bach sich im „Orgelbüchlein“ als einen (sic!) poetischen Miniaturisten im Komponieren von Orgelchorälen zeigt, so tritt er in den „Leipziger Chorälen“ hervor als ein Meister der Choralbearbeitungen von großartigsten Ausmaßen.“ Und später:

Im Trio „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ (Nr.5; BWV 655) entwickelt Bach einen klangvollen, fließenden Kontrapunkt, der überhaupt viele der „Leipziger Choräle“ auszeichnet. Seine Motivik stammt hier aus der ersten Melodiezeile, die allerdings zunächst nie vollständig gespielt wird; erst am Schluß läßt Bach im Pedal die ganze Choralmelodie als Cantus firmus erklingen. Ähnlich im Aufbau und vielleicht noch origineller in der Anwendung dieser Paraphrasentechnik ist der vierzehnte Choral, die letzte von drei hervorragenden Bearbeitungen von „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (BWV 664).

Quelle Malcolm Boyd: Johann Sebastian Bach / Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1984 (Seite 84f)

Zurück zu BWV 864 – bemerkenswert die Wortwahl bei Alfred Dürr:

Insgesamt fällt diese Fuge in mancherlei Hinsicht aus dem gewohnten Rahmen, und wenn nicht das Thema in seiner barocken Exzentrizität – es gehört zu den eigenwilligsten Themen des WK – eher als „Charakterthema“ (Besseler) denn als „normales Thema nach Art älterer Fugenmeister anzusprechen wäre, so läge es wohl nahe, in dieser Fuge die Überarbeitung eines Frühwerkes zu sehen. / Schon am Thema selbst muß die Sorglosigkeit auffallen, mit der Bach seine Gestalt verändert. Das beginnt mit dem durch 3 Achtelpausen voneinander getrennten Intervall zwischen 1. und 2. Themennote. (… Irregularitäten…)

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel etc. 1998 (Zitat S. 204f)

Nicht minder bezeichnend äußerte sich schon Hermann Keller zu dieser Fuge:

Ihr Thema ist wohl das seltsamste in beiden Teilen des W.Kl.: ein einzelstehendes Achtel, drei Pausen, nach denen Quarten geschäftig in die Höhe klettern und am Schluß in die Dominante umgeborgen werden. (…) Im zweiten Teil führt der Sechzehntel-Kontrapunkt der Fuge neues Leben zu und erlöst uns von der unaufhörlichen Quartenbewegung. (…)

Die Fuge ist von den Interpreten sehr verschieden aufgefaßt worden: Czerny versah die erste Note mit einem ff, als Startschuß vor einem Rennen, Riemann findet sie „von der innigsten Empfindung und einer fast rührenden Naivität“ , Tovey faßt sie als „zartes und kompliziertes Scherzo“ auf. Wenn auch der erste Teil nicht ganz ernst ist, so doch der zweite, und der Schluß krönt „dieses komplizierte Scherzo“ , wie es Tovey richtig nennt.

Quelle Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter Kassel etc. 1965 (Seite 98ff)

Unbegreiflich, wie manche Sachen aus dem Gedächtnis verschwinden, andere nie. Auch dafür schreibt man im Blog, um sich selbst auf die Schliche zu kommen: auch viele eigene Einträge von einst sind mir neu und fremd, und dann kommen sie wieder und regen aufs neue die alten Gedankengänge an, so dass sie sich wie die eines Fremden weiterspinnen lassen. Hier nun die Übe-Noten mit der Erinnerung 1992 und 1994, habe ich die Fuge damals wirklich ernst genommen? Keinerlei Eintrag zur formalen Gliederung, selbst die Problematik des zweiten Themeneinatzes ist mir nicht aufgefallen (er kommt zu früh, – ein Engführung zu Beginn? – oder ein Scherz? wo genau endet das Thema überhaupt?).

s.a.oben

Und doch: beim bloßen Hören erscheint alles so leicht und übersichtlich… wie oft muss mans wohl hören, um einen Begriff von der Form der Fuge zu bekommen? Ludwig Czackes, der immer recht hat, sagt, sie „baut sich aus 5 Durchführungen auf, die zu 2 und 3 gruppiert zwei Teile bilden. Der II. Teil zeigt in der Anordnung des thematischen Materials die gleiche Reihenfolge wie der I. Teil.“ (Seite 188) Alles klar? Ja, die Frage ist klar: was bedeutet es, dies zu wissen oder zu ignorieren?

Zumindest die Hälftung sollte ich als erstes eintragen, z.B. in Blau, dann die Durchführungen in Rot, in Grün die Zwischenspiele, alles im blinden Vertrauen auf Czaczkes. Der Beginn der zweiten Hälfte ist völlig plausibel, er beginnt mit dem Einsatz der Sechzehntelläufe. Danach folge ich also der Studienpartitur, während ich die Aufnahme (klicken: „Ansehen auf Youtube“) im Hintergrund dazu ablaufen lasse. Wissend, dass es zum Prinzip gehört, keine Einschnitte hervorzukehren, aber – gibt es in dieser Interpretation, so glatt sie ist, nicht eine Temposchwankung? (Soll sie etwa zeigen, dass es sich um keine Computer-Simulation handelt?)

Seltsamerweise macht Czaczkes kein Aufhebens davon, dass die V. Durchführung offenbar nur 4 Takte umfassen soll; in Wahrheit kann seine Wortwahl „Binnenzwischenspiel“ für den Rest nichts anderes bedeuten, als dass die letzten Takte eben auch eindeutig zur Durchführung V gehören, nicht etwa eine Coda darstellen: was eindeutig fehlt, ist nur noch ein unmissverständliches Themenzitat, stattdessen eben die Überbietung alles Thematischen in der rechten Hand, jenseits allen Fugenprinzips, während die linke Hand die Sechzehntelkaskaden „überborden“ lässt, auf den Gipfel bzw. bis zum kaum unterbietbaren Tiefpunkt treibt, dem CIS, das einzig in den Takten 39 und 41 bereits markiert wurde. Allumfassend wie jede Fuge von Bach. Daher auch der doppelte Bezug auf die Takte 17 – 19, also das Zwischenspiel, dem dort auch schließlich das „Thematische“ folgte, am Ende des ersten Teils, – bis hin zu einer neuen Durchführung, die uns jetzt für den Rest der Fuge noch als Aufputschmittel die motivische Arbeit mit Sechzehntelketten bescherte. Alldies kehrt also am Ende auf anderer Ebene wieder, nur mit dem Schlusspunkt statt einer weiteren Durchführung. Alles ist gesagt. In aller Eile.

Exkurs

À propos: auf verzwicktem Wege kommt man von hier aus zu Mozart (dies nur zur Erholung – – –  auch, um anzuknüpfen an einen anderen Blogbeitrag, der in Mozarts „Figaro“ kurz die Fandango-Szene thematisierte, deren von Gluck stammende Melodie Feruccio Busoni als „Bolero“ mit der seltsamen Gigue KV 574 verknüpft, die Mozart aus Bachs Largo-Fuge h-moll (BWV 893) abgeleitet und vor allen im Tempo so modifiziert hat, dass man sie vom Charakter her wohl eher mit Bachs bizarrer Fuga in A-dur (BWV 864) verknüpfen würde. Vielleicht hat er sich aber von beiden Fugen gleichzeitig faszinieren lassen. Hören Sie doch einfach, was Busoni in Gestalt einer weiteren Metamorphose („Variazione“) und mit ihm der letztendlich real gestaltende Pianist Anatol Ugorski daraus gemacht hat: „An die Jugend“, eine Short Story hier.

Einfach bloß hören? Für die Verächter jeglicher Analyse sollte man noch hinzufügen: wie anders als mit intensivem Notenstudium kann man den Geheimnissen solcher Metamorphose auf den Grund gehen?

Couperin „Prélude“

Zum französischen Stil der Bach-Zeit oder: „Premier Concert Royal“ Interpretationen

Hier folgt etwas Studienmaterial. Das besagte Prélude nicht einmal vollständig; wer es einstudieren will, wird die Noten anderswo finden. Ein Kommentar eventuell später. Ich beziehe mich auf den neuesten Band Musik & Ästhetik. Eine Fußnote darin verweist auf den folgenden, hochinteressanten Essay, der mich bereits arbeitswillig genug stimmt. Mich fasziniert an dem ganzen Projekt das Ineinandergreifen von Musikwissenschaft und Praxis. Und all dies natürlich wie immer mit Blick auf Bach. (Auf die Französischen Suiten, auf die Solo-Partiten für Violine in h und E, auf das Thema der Goldberg-Variationen. Außerdem dachte ich vorübergehend an das Thema des Mittelsatzes im Brandenburg-Concerto VI.)

https://www.forschung.schola-cantorum-basiliensis.ch/de/publikationen/menke-franzosische-satzmodelle.html hier

Letztlich ist es dieser Artikel, der den Ausschlag gibt, der französischen „Klassik“ wieder größte Aufmerksamkeit zu widmen. Lully, Rameau, Campra, Marais, Couperin, zuletzt hier. Jetzt aber auch analytisch: Eine Harmonielehre, die dem Eigenwert der Akkorde gerecht wird und Dissonanzen nicht voreilig als bloße Vorhalte deutet, – was mir näher lag. Vielleicht fällt von hier ein neues Licht auf die Fama, dass Bach sich vom System Rameau distanzierte. (C.P.E. Bach bezeichnete bekanntlich die musiktheoretischen Grundsätze seines Vaters als „antirameauisch“, was aber nicht wirklich belegt ist. Er hatte französische Musik schon in Lüneburg kennen und spielen gelernt.)

Quelle: Musik & Ästhetik Heft 99 Juli 2021 Jörg-Andreas Bötticher und Johannes Menke: »D’une autre Espèce« Überlegungen zum Prélude aus dem Premier Concert Royal von François Couperin

Hörbeispiele – dem obigen Notenbeispiel entsprechend, aber etwas planlos aus dem Youtube-Angebot ausgewählt. Die Irritation beginnt schon dort, wo ich nicht sicher unterscheiden kann, ob die Melodiestimme – mit feinsten Verzierungen – von der Flöte allein gespielt wird oder im perfekten Einklang mit der Violine oder überhaupt anderen Instrumenten. Wie ist es gemeint?

Sonstiges zur Belebung der Geschichte

… haben? hier Oder dies, ebenfalls Lully:

Dazu der Wikipedia-Artikel: HIER

Libretto (in französischer Sprache) hier

Neue Produktion 2019 hier (bei jpc mit Trailer und Anspielmöglichkeit)