Brahms in den Streichquartetten

Aufbewahren für alle Zeit!

Wie immer reihen sich viele Zufälle sinnvoll aneinander, als seien es keine Zufälle. (Man sieht halt deutlicher, was auch zusammen passt.) Die Fahrt nach Heidelberg, die CDs im Auto (Gerhahers „Nachtviolen“ und Brahms mit Artemis), Besuch des Antiquariats HATRY in Heidelberg, Kellergeschoss voller Musik, Brahms-Buch 8,50 €, das im Hotel zur intensiveren Lektüre führt (warum erst jetzt? es existiert seit 1983!), viele Hotelstunden wegen lästiger Erkrankung usw. usw.

Brahms Laaber Christian Martin Schmidt

Brahms-Quartette haben wir im Mai 2014 studiert, der letzte Satz des B-dur-Opus ist mir irgendwie verschlossen geblieben. (Die damaligen Blog-Einträge sind – wie der ganze Blog – im November 2014 abgestürzt, nicht rekonstruierbar.) Vormerken: die Aufnahme mit dem Belcea-Quartett im SWR hier, ab 1:00:05. Zu vergleichen mit dem Kuss Quartett hier, von diesem auch das Mozartsche „Jagd-Quartett“, siehe hier und hier, das von Brahms zitiert wird. Themenvergleich:

Brahms B-durMozart Jagd

Im Fall des B-dur-Streichquartetts op.67, speziell in Bezug auf den letzten Satz, wäre zu studieren, was C.M.Schmidt (ab Seite 91)  zur Bedeutung der Variationsform für Brahms sagt und mit aufschlussreichen Zitaten belegt. Auf der Hand liegt die Wiederkehr des Kopfthemas aus dem ersten Satz im finalen Variationssatz, aber fast zu „trickreich“ und zu plakativ für mein Empfinden, daher die distanzierte Erinnerung. (Auch die rhythmische Finesse der Einführung des „Polka“-Themas im ersten Satz, das dann demonstrativ seine Kombinierbarkeit mit dem Hauptthema vorweisen muss.) Letztlich hängt alles an den Interpreten, diese Vorgänge „natürlich“ und nicht zu konstruiert erscheinen zu lassen.

Sehr interessant, was Schmidt zur formbildenden Aufgabe der Harmonik bei Brahms schreibt – auch im Gegensatz zu Wagner – und speziell zum Streichquartett c-moll op. 51 Nr.1.

Als die Sonatenform entstand, war die harmonische Anlage das wesentliche Element des formalen Zusammenhangs: Der harmonische Gegensatz zwischen Haupt- und Seitensatz in der Exposition war der Ausgangspunkt für die Entwicklung in der Durchführung, die zur Lösung des Gegensatzes in der Reprise führte – nicht etwa der Gegensatz der Themen. Nach Beethoven jedoch verlor die Harmonik mehr und mehr die Bedeutung als zentrale forlmbildende Ebene: Wichtig für die Formbildung wurde zunehmend die Durchführung und Variation von Themen und Motiven, das Konfrontieren von gegensätzlichen motivischen Gestalten und ihre Vermittlung. (S.102)

Einleuchtend sein Diagramm des harmonischen Verlaufs im genannten Quartett (S.103). Man sollte üben, es einmal hörend nachzuvollziehen, – also entlang der Pfeile. (Die beiden nicht mit Pfeilen versehenen Seiten des Vierecks dienen nur dem Verständnis der perfekten Quintenkonstruktion.)

Brahms c-moll Quartett Form

Ich werde seine mit genauen Taktangaben versehene Wegbeschreibung mit den Zeitangaben der Artemis-Aufnahme ergänzen. Es ist eine Übung! Aber sie hat Sinn, selbst wenn man eher zu der inhaltlichen Beschreibeung tendiert, die Volker Scherliess im Booklet der CD gibt:

Zwar lässt sich die traditionelle Sonatenform erkennen, aber weniger als vorgegebenes Schema, sondern als Rahmen, in dem sich die musikalischen Gedanken frei entfalten. Sie haben etwas Gestalthaftes: Gesten des Steigerns und Zurücksinkens lösen sich ab und ergeben einen Erzählstrom in Wellen – eine drängende Folge pulsierender, emotional aufgeladener Bögen, die innehalten, sich gleichsam ducken und neu ansetzen, um schließlich kantabel auszuschwingen. Wechselnde Charakterbilder des Gehetzten und Flehenden, aber auch Momente von Schwermut und Trost. Die Durchführung – kurz und konzentriert – bringt verschiedene Praktiken kontrapunktischer Arbeit ins Spiel (Augmentation, Diminution, Engführung usw.). Aber auch in den anderen Formteilen finden sich typisch „durchführende“ Elemente. Die ausgedehnte Reprise beginnt fast unmerklich und mündet in eine Coda, in der sich die düstere Stimmung erhellt – Wendung nach C-Dur und affektive Beruhigung (auskomponierte Verlangsamung der Impulse).

Den Begriff der Übung, den ich absichtlich gern wiederkehren lasse, weil er für einen Musiker prinzipiell eine besondere Rolle spielt, setze ich, ohne mich zu schämen, in Beziehung zu dem bei Schmidt (Seite 58) dargestellten besonderen Charakterzug des deutschen Bürgertums jener Zeit:

Brahms war tief von der ethischen Verpflichtung der Kategorie Leistung durchdrungen; er war in dieser Hinsicht durch und durch bürgerlich und zeigte keinerlei Züge eines sich der gesellschaftlichen Norm entziehenden Bohémien.

Heute gehört es zum Zeitgeist, die spielerischen und von formalen „Zwängen“ scheinbar freien Züge des Kreativen hervorzuheben, typisch mein Unbehagen am „Gearbeiteten“ : man hüte sich aber, hier voreilig moralische Begriffe ins künstlerische Gestalten einzumischen. (Es geht so und so … daher auch die andere Sicht auf Sibelius, dessen 6. Sinfonie kürzlich in Solingen zu hören war, und für die  vom GMD in launigen Worten eine andere Hörhaltung als die deutsche angemahnt wurde.)

Christian Martin Schmidts Beschreibung des Diagramms, das den Modulationsgang des Satzes zeigt, von mir in Farbe ergänzt durch die entsprechenden Zeitangaben bei Artemis:

Die Exposition wendet sich in zweifachem Ansatz in subdominantische Richtung: Dem c-moll im Hauptthema (T.1 0:00) schließt sich b-Moll (T.11 0:19) und f-Moll (T.15 0:27) in den beiden Viertaktern des 2. Themas an; dem c-Moll der Wiederaufnahme des Hauptthemas (T.23 0:42) folgt es-Moll im Seitensatz (T.33 0:59). Daß der Seitensatz in es-Moll und nicht, wie regulär, in Es-Dur steht, hängt mit der Absicht zusammen, vier auf dem Quintenzirkel nebeneinander liegende Tonarten zu exponieren: c-Moll, f-Moll, b-Moll, es-Moll. Ihnen wird im Harmoniegerüst der Durchführung (5:14) durch die Aufeinanderfolge derjenigen vier Molltonarten entsprochen, die auf dem Quintenzirkel gegenüber liegen: a-Moll (T.84 5:14), e-Moll (T.100 5:41), h-moll (T.108 5:55), fis-Moll (T.118 6:10).

Mit diesen Zeitangaben sind aber lediglich die Bereiche der genannten Tonarten bzw. ihr jeweiliger Beginn bezeichnet, die Formabschnitte ergeben eine andere Gliederung, die separat durchgenommen werden müsste. Ich habe auch leise Zweifel, ob der Versuch, den Modulationsplan des obigen Diagramms zu erfassen, wirklich auch beim Hören näher an die Musik heranführt. Für das unbefangene Hören könnte die Kenntnis der allgemeinsten formalen Koordinaten als Hilfe ausreichen, da die emotionale Energie genügend in Anspruch genommen wird, die motivisch-thematischen Vorgänge zu erfassen. Also:

Exposition 0:00 bis 2:36 Wiederholung 2:36 bis 5:15 Durchführung 5:15 bis 6:42 Reprise 6:42 bis 9:27 Coda 9:27 bis 10:16.

Soviel zum ersten Satz des Quartetts c-moll op.51, 1. Mein Ausgangspunkt war jedoch der letzte Satz des B-dur-Quartetts op. 67: Poco Allegretto con Variazioni. (Tr. 8 der Artemis-CD). Nichts einfacher als das:

Thema 0:00 bis 0:52 Variation 1 0:53 bis 1.46 Variation 2 1:47 bis 2:38 Variation 3 2:39 bis 3:33 Variation 4 3:35 bis 4:22 Variation 5 4:22 bis 5:09 Variation 6 5:11 bis 6:50 Doppio Movimento 6:53 bis 7:42 Variation 8 7:43 bis 8:37 Variation 9 (incl. Coda) 8:37 bis 10:18

Hat sich meine Einstellung zu dem Satz geändert? (Es lag – sehr einfach – an dem allzu oft gehörten Auftakt und den folgenden Tonwiederholungen, wodurch etwas Leierndes in das Thema kommt. Von Brahms vielleicht behaglich gemeint, genau das aber ist eine Stimmungslage, die mir bei ihm am wenigsten gefällt. Eine grundbürgerliche. Etwa so: Lass die Welt da draußen, ich fühle mich wohl. Wie in der Mutter Schoß.) Ich verstehe: daher auch das belebende Element der Wiederkehr des „Jagdthemas“ in der „Doppio Movimento“-Variation. Damals: das leicht spottende Mitsingen des „Cantare“-Schlagers (ab 9:47): „O-ho-ho-ho“. Schade… Oder ist nicht jetzt, beim wiederholten Hören der Artemis-Aufnahme, doch endlich vollkommener Frieden eingekehrt? Und alles, alles wird wieder gut?

Artemis Brahms

Zugang zur Partitur: hier

http://imslp.nl/imglnks/usimg/b/b4/IMSLP93521-PMLP22218-Brahms_Quartet.pdf