Bildung!

Nur was fürs „Bildungsbürgertum“?

Das sogenannte Bildungsbürgertum erhebt sich gern über das, was Schülerinnen und Schüler, die heute Abitur machen, doch alles nicht wissen. Sie kennen nichts, sie verstehen nichts, reden aber viel und meistens sehr schnell. Ich verstehe sie auch nicht, halte das aber letztlich für belanglos. Über kurz oder lang ist man bei  den kleinen handlichen Medien, die den jungen Leuten angeblich die Illusion vermitteln, man brauche keine Bücher mehr, es genüge, ein bisschen zu googlen. In der Tat, man kann zu allem etwas sagen, wenn man nur Zeit genug hat, ein bisschen mit dem Smartphone zu spielen. Wäre Bildung vielleicht die Fähigkeit, ohne Hilsmittel etwas Triftiges zu einem Thema zu sagen, das sich zufällig ergibt? Zufällig, also wie das Leben so läuft. Im Gespräch zum Beispiel. Und nicht ständig die Formel „keine Ahnung“ einfließen zu lassen. Hier eine verwunderte Bemerkung, die aus der Schule stammen soll: „Denken ist wie googeln. Nur krasser.“ Genau, ist doch ganz richtig? Mehr dazu: siehe FAZ heute „Die digitale Amnesie“.

In meiner Schulzeit kam es Mitte der 50er Jahre plötzlich auf, von „Allgemeinbildung“ zu schwärmen. Man las „Das neue Universum“ oder „Durch die weite Welt“ oder löste wie besessen Kreuzworträtsel. Ich staune im Nachhinein, dass das Buch von Dietrich Schwanitz erst 1999 herauskam: „BILDUNG. Alles, was man wissen muss“. Und erst 2001 setzte der Wissenschaftler Ernst Peter Fischer dagegen: „Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte“. Und erst vor 2 Jahren fand ich in einem Blechschrank, der im Botanischen Garten stand und eine Gratisauswahl von gebrauchten Büchern anbot, ein Lesebuch, das seither bei mir zuhaus griffbereit auf einem stillen Örtchen liegt:

Lesebuch Oberstufe

Es begeistert mich immer aufs neue. Darin ist wirklich alles enthalten, was man zum Denken und Fühlen braucht. Ich übertreibe nur wenig. Viele Jahre auf einer einsamen Insel: dies Buch würde mir ausreichend Nahrung bereitstellen. Schwanitz hätte seine Freude an mir, und Fischer würde sagen: „Typisch Bildungsbürger! Keine Ahnung von Meeresströmungen und Navigation!“

Bildung Schwanitz  Bildung Fischer

Das Fatale an einem Bücherschrank ist, dass man ein herausgenommenes Buch nicht wieder zurückstellen mag. Man meint ihm doch noch ein Geheimnis entlocken zu müssen. Oder auch: man möchte ihm nicht Unrecht tun und es nur für ein Zitat verwenden, während man alles andere als weniger wissenswert abtut. Und so sammeln sie sich auf, neben und unter dem Schreibtisch Bücher im Wartestand; allen bin ich noch etwas schuldig. Das geht mir bei Google durchaus nicht so; bei Google spüre ich nichts, „null“ sagt man heute. Bei Wikipedia durchaus, da spüre ich menschliche Sorgfalt und gedankliche Akkuratesse.

Aber diese Lesebücher waren es immer, die mich faszinierten, selbst wenn sie wie dies da oben einfach als „Deutschbuch“ daherkamen. Schon die aus der Zeit meiner Mutter: meine – streng genommen – ungebildete kleine Oma las mir daraus vor oder lies mich später vorlesen und war selber fasziniert: Schiller-Balladen und Gesänge aus Homers Odyssee, – selbst wenn sie den Inhalt aus Glaubensgründen ablehnen musste. Sie freute sich, wenn ich an ihren Lippen hing. Anfang der 60er Jahre war es dann ein Buch wie dieses, französisch orientiert, da es die Übersetzung eines Originals von Gallimard 1957 war. Es war nicht die Suche nach dem Abstractum „Bildung“, sondern danach, mich anders zu prägen, einen Panorama-Blick zu entwickeln und ihn mit der interessierten Betrachtung „kleinster Zellen“ – etwa in der Musik (frei nach Adorno) – zu verbinden.

Panorama

Was würde ich heute an diese Stelle setzen? Wahrscheinlich das Buch von Ralf Konersmann über „Die Unruhe der Welt“. Es ist detailreich und schwer systematisch einzuordnen, aber gerade deshalb geeignet, für Unruhe im eigenen Innern zu sorgen und sie doch – zwischen zwei Buchdeckeln – vorbildlich gebannt zu wissen. Solchermaßen wird man vielleicht gehindert, sich bildungsbürgerlich zur Ruhe zu setzen, und zugleich Byung-Chul Hans Büchlein über Zen-Buddhismus auf dem Nachtschränkchen liegen zu haben, so dass ein Zen-Buch wie das von Alan W. Watts (August 61) in philosophischer Umgebung wiederkehrt und mir einen Rest von Kontinuität signalisiert – wie die Musik. Ruhe bewahren und Unruhe gewähren lassen.

Konersmann Unruhe

Doch zurück zu meinem Deutschbuch für die Oberstufe:

(Fortsetzung folgt)

Oder vielmehr zur neuesten bildungsbürgerlichen Erregung: das Armida Quartett spielt am Donnerstag in der Kölner Philharmonie. „Meine“ Quartette von Schumann und Schubert.