Bach am Cembalo und am Flügel

Wenn ich es anders spielen will: warum?

Es geht um die Fuge in Cis-moll, Wohltemperiertes Klavier Teil II BWV 873. Ich beziehe mich auf zwei Interpretationen, die man später in diesem Blog-Artikel anklicken kann, finde es aber ratsamer, nicht vom Hören auszugehen, sondern vom Studium der Noten. Für alle Fälle sei hier trotzdem ein Beispiel mit vorangestelltem Praeludium angegeben, das aber im Verlauf der Reflexion keine Rolle spielen soll, – an dieser Stelle nur, um uns während des Lesens in die musikalische Atmosphäre hineinzuführen: hier. (Dauer 6 Minuten, danach ausklicken.)

Natürlich kann ich solche Leistungen anerkennen und bewundern, aber nachahmen will ich sie auf keinen Fall. Und zwar nicht, weil mir die Trauben zu hoch hängen (das sicher auch). Ich würde diese Musik nicht so lieben, wenn ich sie nur in bestimmten Versionen kennte, statt vom eigenen Spiel und mit Kenntnis der Noten. Wie kann ich sie da guten Gewissens anderen Leuten weiterempfehlen?!  Dabei meine ich nicht den Unterschied in der Perfektion, eine Live-Aufnahme (Robert Hill, Cembalo) hört man anders als eine lupenrein inszenierte und geschnittene Studiofassung (Nikolai Demidenko, Klavier).

Erste Voraussetzung: man muss bereit sein, ständig zu unterbrechen – wie beim Üben – und alle Abschnitte x-mal zu hören, mit zwischen den Stimmen wechselnder Fokussierung, also z.B. immer auch vom Bass her, oder von der Mittelstimme aus. Das sind wechselnde Perspektiven.

Zweite Voraussetzung: ich muss auch das, was ich selber als richtig fühle, in Zweifel ziehen können. Zwar habe ich die Schule der Alten Musik durchlaufen, aber ich argwöhne, dass ich immer „romantischer“ phrasieren möchte als diese beiden Künstler, von denen der eine als Alte-Musik-Spezialist gilt, während der andere aus der romantischen Schule des russischen Klavierspiels kommt. Der Klang des Cembalos ist wunderbar, auch intim genug, aber das Praeludium finde ich in beiden Versionen nicht wirklich innig gespielt, die unendlich (nicht-enden-wollende) süße Traurigkeit fehlt. Und die Fuge empfinde ich in jedem Fall als zu schnell, zu stramm vorwärtsgehend. Es ist ja eine Doppelfuge, also mit zwei Themen. Das erste Thema ist nicht eigentlich schön, es hat das Understatement einer Invention, es ist ein „Rundling“. Aber wohl keine Gigue, wie sie Dürr ins Spiel bringt. Wenn das zweite, chromatisch absteigende Thema nichts Schmerzliches hat, welches den behenden Rundlauf des Haupthemas abdämpft, so ist die Aussage des Stückes verfehlt. Es behandelt ja die Themen komplementär, und das chromatisch absteigende Motiv hat als Gegenpol auch noch das diatonisch zielbewusst aufsteigende, – da wird etwas ins Gleichgewicht gebracht. Die letzte Zeile, ab Takt 68, eigentlich ab Takt 66 mit 3 Sechzehnteln Auftakt, ist ein affektiv-pathetisches Resümee. Wer diesen Abschnitt als erstes übt, bis es ihn tief im Herzen ergreift, der (die) wird die ganze Fuge anders spielen: so dass der Ausklang wirklich wirkt wie die allerletzte Wiederkehr, fast wie die abschließende Phrase in der Aria „Es ist vollbracht“.

Dritte Voraussetzung (sie betrifft weniger die Interpretation und ist – anders als im Präludium – einfach zu beherzigen, nach Alfred Dürr Seite 277), man kennt den Formverlauf:

Der Gesamtaufbau der Fuge ist gut überschaubar und besteht aus sechs Durchführungen, die sich zu je drei in zwei fast gleich lange Teile gliedern:

     

Also: da haben wir mit einigen farblich abgesetzten Markierungen diese ganze Fuge zum Mitlesen. Entscheidend ist zunächst die Wahrnehmung der rot bezeichneten Durchführungen I bis VI, das Thema selbst muss (auswendig) sitzen, dann aber sollte sofort die gedankliche Registrierung dessen folgen, was mit dem Thema stufenweise passiert. (Die Zahlen beziehen sich auf den Zeitablauf  in der nachfolgenden Robert-Hill-Aufnahme, die man im externen Fenster parat halten sollte. Weiterscrollen zum Bild.)

I : (4:17) Der erste Verlauf des Themas ist noch nicht ganz abgeschlossen, wenn der zweite erfolgt; dieser aber wird dann nicht nur abgeschlossen, sondern auch noch etwas weitergeführt, ehe der dritte Einsatz erfolgt (Takt 5). Nach dessen Ende beginnt ab Takt 7 ein Zwischenspiel, in dem ein Motiv des Themas sequenzartig weitergetrieben wird. Es „zielt“ auf den Beginn der nächsten Durchführung.

II : (4:45) Hier erscheint – nach zwei Zitaten des Themas – als Kontrapunkt zum dritten (im Bass Takt 20) erstmals das chromatisch absteigende Motiv (4:53). Ist es ein zweites Thema? Handelt es sich überhaupt – wie Alfred Dürr ausdrücklich feststellt – um eine Doppelfuge? In der Tat kann man es als Thema nur bezeichnen, wenn es wirklich so behandelt wird und nicht, wenn es quasi nebenbei – als ausdrucksvoller Kontrapunkt – entsteht.

III : (5:00) das 1. Thema tritt in neuer Gestalt auf, nämlich in Umkehrung, was bedeutet: die melodische Linie wird an einer gedachten waagerechten Mittellinie gespiegelt. in dieser Form erscheint es zuerst in der Oberstimme, dann in der Mittelstimme (mit winziger Variante beim siebten Ton), dann in der Unterstimme und schließlich (als „überzähliger“ Einsatz in der Mittelstimme). Entscheidend ist jedoch das Auftreten der Chromatik im Kontrapunkt ab zweiter Hälfte des ersten Themenzitats: Takt 25, dann Takt 27 und Takt 28/29. Damit ist der Auftritt des 2. Fugenthemas wunderbar vorbereitet, – es ist selbstverständlich eine Doppelfuge!

IV : (5:22) Durchführung, die allein dem 2. (chromatischen) Thema gewidmet ist, drei Zitate, von denen das zweite – in der Mittelstimme – dem ersten „ins Wort fällt“, während das dritte nahtlos anschließt. Als Ziel dieser Durchführung entpuppt sich das Original-Zitat des 1. Themas zu Beginn der nächsten Durchführung:

V : (5:47) das 1. Thema in Originalgestalt in der Oberstimme (mit cis beginnend)  gleichzeitig mit dem 2. (chromatischen) Thema in der Unterstimme (mit Fis beginnend). Nach einem viereinhalbtaktigen Zwischenspiel folgt die Vertauschung dieser Verhältnisse: Unterstimme Originalthema (mit Cis beginnend) und gleichzeitig 2. (chromatisches) Thema (jedoch mit Cis beginnend).

VI : (6:13) eine neue Vertauschung der Verhältnisse: das 1. Thema in der Mittelstimme, gleichzeitig das 2. (chromatische) Thema in der Unterstimme, zweieinhalbtaktiges Zwischenspiel und wiederum: 1. Thema Mittelstimme, gleichzeitig das 2. (chromatische) Thema in der Oberstimme. Und unmittelbar in diesen Schluss startet ein letztes, etwas unorthodoxes Zitat des 1. Thema, und  noch unorthodoxer das 2. (chromatische) Thema, dessen Linie sich jetzt abwärts spannt über eine ganze Oktavstrecke, um dann die Leiteton-Grundtonkadenz über dem Quintfall des Basses zu vollstrecken. (Ende 6:51)

Darf man solch ein Stück zu schnell spielen? Auf keinen Fall. Wer es einmal so gut kann, sollte das nicht demonstrieren. Voreilige Musterschüler müsste man immer wieder dazu anhalten, jede Durchführung separat zu spielen und … zu erzählen, was da passiert. Es wäre zu schade, wenn da etwas verloren ginge, nur um ein Fahrtziel zu erreichen.

Der Laie mag eine solche Beschreibung für trockenes Stroh halten, aber genau so würde ich von einem Schüler erwarten, dass er die Forderung des großen Klavierpädagogen Heinrich Neuhaus erfüllt: den Verlauf der Musik in Worte zu fassen. Die kontrapunktische Technik ist kein leeres Stroh, sie ist vor allem: Substanz. Wie man an Bach selber sieht, wenn man den Worten seines Sohnes Emanuel und seines ersten Biographen Forkel Glauben schenkt. 

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Ein Blick auf die Zahl der vergangenen Jahre: (das war im Jahr nach Afghanistan, und was war in Kirchheim?) Ich habe nicht geahnt, wieviel Arbeit (und Vergnügen) noch wartete… Ich hatte für einige Zeit ein Cembalo von Reinhard Goebel hier in meinem Zimmer stehen (es war sehr eng), ein Klavier sowieso an der Schmalwand, einmal war er gemeinsam mit Robert Hill zu Besuch. Viel Diskussion über Bach.

 Bärenreiter dtv März 1975

Folgendes Video in externen Fenster HIER. Fuge ab 4:12 einstellen.

Das nächste Video bitte unter dem folgenden Info-Screenshot im Link anklicken:

Achtung: das Youtube-Video beginnt mit Reklame! Zugang im externen Fenster HIER. Fuge ab 5:33. I also ab 5:33 II ab 5:55 III ab 6:07 IV ab 6:23 V ab 6:42 VI ab 7:01 Ende 7:18.

Ein Rundling? Falsch, das Thema ist nicht monolitisch (wie etwa das der cis-Fuge in WTK I), sondern dynamisch, aktiv, aber es bezeichnet einen Kreis, unten und oben, kehrt zurück, sagt A und O. Und: es weist im Kontrapunkt der nächsten Töne darüber hinaus. Alfred Dürr hat gezeigt, wie sich aus diesem Kontrapunkt (der zur Antwort auf das Thema, also dieselbe Gestalt in der Oberstimme, erfunden ist, selbst eine andere Antwort ist, und damit aus dem Kreis heraus schreitet) das zweite Thema entwickelt:

Zugleich wurde, gerade bevor dieses Thema realisiert wird, das erwähnte „diatonisch zielbewusst aufsteigende“ Motiv eingeführt: hier sehen Sie – schlecht und recht in den Übe-Noten – die Durchführungen II und III, in denen es zeichenhaft erscheint, danach kommt es nur noch einmal explizit in Takt 31 (mit Auftakt). Und damit ist seine Rolle ausgespielt (ersetzt durch das chromatische bzw. aufgelöst im Fluss).

Nein!!! ganz ausgespielt noch nicht, schauen Sie nur Takt 44 in die Mittelstimme und im nächsten auf den Bass. (Ende der Durchführung IV, – am besten wieder im dreiteiligen Notenbeispiel weiter oben).

Noch etwas muss ich einfügen, aus dem unfehlbaren Buch von Czaczkes, dieselbe Beobachtung wie eben die von Dürr, zur allmählichen Genese des 2. Themas:

Zur Interpretation: wenn Sie die Fugen in beiden Aufnahmen mitgelesen (und geübt) haben, so werden Sie sich in dem Livemitschnitt mehr und mehr an falschen Tönen gestört haben (kein Wunder, wenn der Künstler das Mammutwerk im Konzert von A – Z spielt und dann zulässt, dass es in Einzelteilen veröffentlicht wird); in der Produktion des Klaviervirtuosen aber daran, dass er das Wunderwerk der Fuge wie ein Perpetuum mobile durchhämmert. Beide spielen die Fuge zu schnell, aber die Cembaloversion lässt wenigstens ahnen, wie schön sie sein könnte.

Mein Kriterium wäre, dass ich vieles (das meiste) von dem, was ich als „formal“ (in der Analyse) wesentlich erachte, auch in der Interpretation wahrnehmen kann. Das heißt aber nicht durch Hervorhebung, Akzentuierung, Artikulation, was den Fluss des Geschehens stören könnte, sondern vor allem und als erstes: im Tempo. Es darf nicht vorbeirauschen.

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Eine sehr korrekte, wenn auch sprachlich holprige Kurzbeschreibung der Fuge gibt Ludwig Czaczkes (Bd.II Seite 46):

6 Durchführungen, die sich in zwei Dreiergruppen zusammenschließen, bauen diese Fuge auf. Das Hauptthema und seine Umkehrung beherrschen den I. Teil. Als Gegensatz erscheinen die variablen Vorformen des 2. Themas, die sich immer mehr und mehr der endgültigen Form des 2. Themas nähern, das schließlich mit einer eigenen Durchführung den II. Teil eröffnet, um sich als gleichberechtigte Partnerin zu entpuppen. Die beiden letzten Durchführungen vereinen dann beide Themen.

Man könnte sich daraus eine flüssige Erzählung herstellen, die einen auch beim Spiel inspiriert und sogar etwas über den Sinn der Form verrät. Vorweg: Zur Berechtigung der Frage, ob es nun eine Doppelfuge ist oder nicht, sei erwähnt, dass Czaczkes einräumt: „Riemann, Morgan, Grabner (…) und viele andere führen diese Fuge nicht als Doppelfuge.“ (Ich fühle mich ein wenig exkulpiert, da ich es auch erst spät eingesehen habe.) Czaczkes jedoch definitiv:

Diese Fuge ist, da der Einführung des 2. Themas eine eigene Durchführung zugewiesen wird, eine Doppelfuge, welche Tatsache durch die Ähnlichkeit des Baues beider Expositionen und die korrekte Stimmfolge des Themas 2 in der letzten Durchführung bestätigt wird.

Da auch die genaue Abmessung der sechs Durchführungen bei den Theoretikern strittig war, meines Erachtens verursacht u.a. durch die irrige Einschätzung der zweistimmigen Passage, – die sozusagen im Nachhinein den starken Verlauf der neuen Durchführung (III)  signalisiert, nicht etwa eine schwache Zwischenspielphase. So in den Takten 26-27. Zumal gerade dort die Chromatik in den Vordergrund tritt, die dann mit dem fugiert behandelten Thema 2 eine neue, eigene Durchführung „erzwingt“. Diesen Vorgang muss man erfassen! Ebenso (rückwirkend) die Tatsache, dass das Hauptthema für eine Weile verschwindet, nach der Wiederkehr der recte-Form ab Takte 30. Um so bedeutsamer dann die nächste Wiederkehr zu Beginn der Durchführung V in der Oberstimme MIT dem Thema 2 im Bass, in dieser Kombination erstmalig! Wichtig auch am Ende dieser Durchführung – als Signal des letzten großen Resümees (Durchführung VI ab Takt 61) – ist der Orgelpunkt auf der Dominante im Bass (Takt 59 und 60). Beim Üben sollte man diesen Ton mehrfach anschlagen, crescendieren oder sonstwas, jedenfalls die Kumulation spüren lassen, die später in der über eine Oktave absteigenden Chromatik der Oberstimme (Takt 68/69/70) ihr letztes Echo findet.

Bevor ich mich weiterhin mit dem Bau der Fuge beschäftige, möchte ich Lesern/ Hörern, die sich aus purer Neugier auch schon mit dem Praeludium befassen, bzw. einfach gern von vorn beginnen, weil die Liebe zu diesem Werk nicht mit der Fuge, sondern (natürlich) mit dem Praeludium begonnen hat, etwas Stoff zum Nachdenken geben. In der Tat ist es kein bloßes Vorspiel, sondern ein Mysterium, und zwar eines der Form, nicht nur des Ausdrucks. Man wird möglicherweise diesen formalen Aspekt unterschätzen, weil man mehrfach auffällige Neuansätze wahrnimmt, die man für Reprisen halten könnte, obwohl man sie nicht lange verfolgen kann. Es ist vielleicht ein wesentlicher Aspekt, dass die klare Gliederung sich desto mehr entzieht, je deutlicher man diese melodischen Wandlungen artikuliert. Ich habe in den Noten zunächst mal das rot markiert, was am offensichtlichsten zutage tritt (nach Alfred Dürrs Vorgaben) Die Einteilung in A (Hauptteil) und B (Episodisches). Aber wichtiger finde ich am Ende das, was nicht auf der Hand liegt. Hören Sie nur, – und beobachten Sie, was geschieht, was da weiterführt und wie bereits Gegebenes rekapituliert wird:

      

(Fortsetzung folgt)

Vorstudien zur Interpretation des Praeludiums

Die dreistimmige Sinfonie Es-dur BWV 791 (wegen der Ornamentik)

Ich habe sie geliebt, seit ich sie hinter den zweistimmigen Schwestern, den Inventionen, im selben Notenband entdeckte und im Gegensatz zu den andern dreistimmigen leicht spielbar fand. Mir schien die kleingedruckte Ossia-Stimme mit den Verzierungen nicht verbindlich. Als ich viel später genau diese von Bach mit ausgeschriebenen Ornamenten versehene Fassung zu üben versuchte, hat sich manches in mir gesträubt: genau so schlimm, wie akzeptieren zu müssen, dass die marmornen Statuen der alten Griechen in Wahrheit einmal bunt bemalt waren. Dies wäre die Fassung aus weißem Marmor:

Und dies sind verschiedene Interpretationen der von Bach mit Ornamenten versehenen Fassung. Es bleibt immer noch enorm viel Spielraum: