Archiv für den Monat: Februar 2021

Delacroix – der Film

Ein Orient

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HIER den Film ansehen (bis 1.Mai 2021)

Was ich eigentlich gesucht hatte: eine  Möglichkeit den folgenden, langen Film mit demselben Thema aus einer Mediathek oder einem anderen Speicherort abzurufen, außerhalb meines privaten, den ich leider nicht weitervermitteln kann. Genau diesen Film, keinen nur thematisch ähnlichen, über den ich allerdings auch schon ganz froh bin. Merkwürdig, wieviele Versuche fehlschlagen, – es gibt ihn also nicht in der Mediathek. Mit solchen Bildern und Szenen! Oder? Eine halbe Stunde vergeht…

Und: ein Wunder! ich habe ihn doch gefunden, abrufbar bis 14. März 2021 !  HIER

Die oben abgebildete Szene „Jüdische Hochzeit in Marokko“ (Tanger) im Film ab 37:59

Sehen Sie, hören Sie, vergleichen Sie Realität und Imagination, z.B. ab 1:16:00

Was für ein Monat, der März, was für eine Entdeckung! Gerade dieser Film, alles ist gut, der Ton des begleitenden Textes, speziell die Experten. Und die Musik! Die Identifikation: meine erste Berührung mit dem Orient in Marokko, wann war das? Die Ankunft auf dem Flughafen Rabat, wir mit unsern Geigenkästen, – überwältigend die laue Abendluft, beneidenswert die unter Orangenbäumen ruhenden, palavernden Männer…

Eugène Delacroix – Ein Maler im Farbenrausch

Jahrzehntelang hat dieser 3 kg schwere, 579 Seiten starke Band aus dem Nachlass meines kunstliebenden Schwiegervaters ein Schattendasein bei mir im Foliantenregal geführt, jetzt kann ich stundenlang darin blättern; zum erstenmal frage ich mich, aus welchem Jahr er stammt (1967 – was für ein Zufall!) und was für einen Stellenwert der Verfasser René Huyghe hatte:

Es überrascht vielleicht, in welcher Hinsicht sich der junge Delacroix mit Deutschland befasst hat. Im Kopf eines solchen Künstlers geht halt mehr vor als eine flüchtige Anmerkung hergeben kann. Das Werk ist entscheidend. Das gilt hier genauso wie in Marokko oder Algier. Man lese unten die Sätze über Musik. Und oben die Kapitelüberschriften Seite 191 und 197.

Man hat sich inzwischen daran gewöhnt, sobald ein Anflug von Orient-Schwärmerei aufzutauchen scheint, mit erhobenem Zeigefinger Edward Said zu zitieren, so auch ich; verweise dabei aber ganz besonders auf die Tatsache, dass Delacroix nur 1 einziges Mal und dann sehr pauschal einbezogen ist, inklusive ein Satz in Klammern, der Platz gibt für eigene Gedanken: „(worauf ich hier leider nicht näher eingehen kann)“.

Wer ist Komitas?

Wer ihn nicht kennt, sollte diese CD besitzen. Und vielleicht vorweg den Wikipedia-Artikel lesen (s.u.). Aber es ist eben auch dieser Klavierklang, der einen in Bann schlägt, vielleicht sind es zugleich die wunderbaren Stücke von Béla Bartók, die den Ohrenöffner spielen, – immerhin kennt man am Ende 35 Minuten Komitas-Musik, unterscheidet sie und wird in Zukunft nicht mehr schweigen, wenn von armenischer Musik die Rede ist. Wen hat nicht schon  das armenische National-Instrument Duduk in Filmen mit Wehmut erfüllt, – man wird vielleicht sogar den Namen Djivan Gasparyan gelernt haben, um seinen Klangspuren weiterhin zu folgen, – aber hat man deshalb auch schon den gewaltigen Hintergrund dieser Musik wahrgenommen, der fast im Orkus der Geschichte verschwunden wäre? Der Schlüssel dazu ist Vardapet Komitas. Und vielleicht finden wir im Klavierklang eher einen grandiosen Vermittler der Substanz armenischer Musik als in einer vibratogesättigten Melodie, die wir gern beliebigen Naturfilmen zuordnen, statt der Seele eines Volkes.

Zudem ist der Pianist auch verbal ein großartiger Vermittler, den man gern Wort für Wort zitieren möchte, um alles im Werk wiederzufinden. Ebenso lesenswert sind die Bemerkungen zu Bartóks Folklore-Verständnis. Und nicht zuletzt interessiert die Biographie des Interpreten. Mehr davon hier und hier:

Text ©Steffen Schleiermacher / Das Coverbild der CD stammt von dem ungarischen Maler Tivadar Kosztka Csontváry (1853-1919)

Bei jpc findet man die CD (alle Titel zum Anspielen) hier

Anmerkung zu Tr.15 „Scherzo“: ein Druckfehler hat sich fortgeerbt, siehe meinen Blogbeitrag Notiz zu Bartóks Bauernliedern.

Noch mehr Frühlingsahnen

Botanischer Garten, andere Perspektive 21.02.21

Alle Fotos: E.Reichow (Lumix)

Eine Passage von Helmuth Plessner, auf Tiere bezogen, möchte ich gern auf die langsamsten Kreaturen unserer Lebenswelt ausdehnen, ohne mich als Mensch dagegen profilieren zu wollen. Im Gegenteil. (Aber so war es von ihm auch nicht gemeint.)

Im Anwendungsbereich einer Kultiviertheit zeigt der reife Mensch erst seine volle Meisterschaft. Direkt und echt im Ausdruck ist schließlich auch das Tier; käme es auf nicht mehr als Expression an, so bliebe die Natur besser bei den elementaren Lebewesen und ersparte sich die Gebrochenheit des Menschen. Wo finden wir noch solchen Ausdruck reinster Trauer als bei einem Hunde, wo solchen Adel der Haltung als beim Pferd, wo solche göttliche Gewalt als im Haupt des Rindes? Lachen und Weinen des Menschen, sein Mienenspiel erschüttern erst da, wo sie die Eindeutigkeit der Natur und des Geistes hinter sich gelassen haben und von jener Unfaßlichkeit umwittert sind, die den Abgrund ahnen läßt, ohne ihn zu öffnen. Im Indirekten zeigt sich das Unnachahmliche des Menschen.

Quelle Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft / Eine Kritik des sozialen Radikalismus / suhrkamp taschenbuch wissenschaft / Suhrkamp Frankfurt am Main 2001 Seite 106

Singdrossel (Notiz)

Foto: Jan Piecha

Heute, 25.02.21, auch bei uns im Areal ringsum, zum ersten Mal dieses Jahr.

Oder ist es keine? Eine sehr schöne Aufnahme von Lars Lachmann: HIER  https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/portraets/singdrossel/

„Unsere“ singt (schreit) einfacher. Ist es überhaupt eine? Bzw. ein Singdrosselmann? Ich warte ja auch auf die Wiederkehr des Gelbspötters, dessen ich mir auch nicht so sicher war, mit seinem undurchschaubaren, aufgeregten Haspel-Gesang.

Eine gute Sammlung von Singdrosseln in Bild und Ton findet man HIER

Bei Wikipedia gibt es eine lange (und „trockene“) Tonaufnahme, direkt: hier.

Oder zuerst eine bunte Folge verschiedener Singvögel zum Üben und Freuen? hier !

Hierher! Hier sollen sie leben!

 

Fast ein Frühlingsahnen

Ein Gang durch den Botanischen Garten Solingen 21. Februar 2021

Enten, kurz vor der Paarung, Sibirische Papierbirke

Oben l.: Sophora japonica (Schnurbum) Oben r.: Cryptomeria Japonica (Japanische Sicheltanne)

Seiner Wuchsform sieht man nicht an, wie er im Einzelnen gestaltet ist.

Sequoiadendron giganteum (siehe Wiki hier „Junger Baum in einem Garten“)

Unten: Man erkennt, dass es eine Rotbuche sein könnte. Aber schon dicht über dem Boden beginnt die vielfältige Verzweigung. Fagus sylvatica Asplenifolia (Geschlitztblättrige Rotbuche)

Ich dachte an die großen Gesten der Bäume, allerdings auch an die befremdende Pantomime des Entenpaares, das sich paarte, wobei das Weibchen kaum noch den Schnabel aus dem Wasser recken konnte. (Das macht doch nichts, es kann auch sonst lange tauchen…)

Ohne irgendetwas beweisen zu wollen, sammle ich merkwürdige Zufälle. Zum Beispiel greife ich im Vorbeigehen ein Buch aus dem Schrank, aus unerfindlichen Gründen habe ich es nie gelesen. Für ein Revival der griechischen Mythologie war ich damals (1993) nicht bereit. Jetzt vertiefe ich mich in die Geschichte von Pelops, werde neugierig auf den Zeus von Olympia, das gigantische Wunderwerk des Phidias, sehe mir Rekonstruktionen an, auch bei Wikipedia hier. Ein Dendron Sequoia hätte in die Nähe des Tempels gehört.

Wikipedia Foto: Sanne Smit 2002

Am nächsten Morgen schlage ich die Kinderseite des Solinger Tageblattes auf und sehe folgendes (ich schwöre, es war der Tag danach!):

ST 22.02.2021 Yango

Liebe Kinder, heute ist der 23. Februar, ich habe ein paar Stunden im Garten gearbeitet, schweißgebadet, als mir der Gedanke kam, dass ich einige Baumfotos aus dem Botanischen Garten verwerten sollte: wie wichtig sie dastehen, das sind doch Gesten, immerwährende, festgewachsene. Andererseits wollte ich mir die Geschichten von Zeus nochmal durchlesen. Ich bin gigantisch gut aufgelegt. Und auch von König Pelops, nach dem der (die? das?) Peloponnes benannt ist, bin ich beflügelt, aber vor allem diese zweite Begegnung mit Zeus in der Tageszeitung könnte ich an die große Glocke hängen: der höchste Gott der Griechen gibt mir ein Zeichen. Liebe Kinder, liebe Eltern, was hat das zu bedeuten? Bin ich auserlesen für die Erschaffung einer Weltbedeutungstheorie?

Nichts dergleichen. Zufälle sind manchmal so. Aber wir sind so beschaffen, dass wir mehr darin sehen wollen. Richtiger wird es dadurch nicht. Warum hat dieser italienische Schriftsteller all die Geschichten der griechischen Mythologie wiedererweckt? Er tat später desgleichen mit der indischen Götterwelt. Ich muss die Zeilen suchen, in denen er sich mit dem Sinn seines Unternehmens befasst… Zweifellos gibt es da etwas. Sonst würden mich die Geschichten nicht so fesseln. Ich werde anfangen mit der Außenansicht des Buches. Moment, – auch die Gesten spielen eine Rolle im Erinnerungsvorgang, der Name Abi Warburg tauchte auf, es muss die Süddeutsche von gestern gewesen sein. Derselbe Tag war es, als mir Zeus auf der Kinderseite wiederbegegnet war, da erwarb ich beim REWE-Einkauf auch noch die SZ und wurde durch die Wiedergabe des Kupferstichs vom „Raub der Proserpina“ gebannt: ist es nicht Zeus, der sich auf dem einen Bild lässig zur Seite flegelt, auf dem anderen eine ranke Dame gewaltsam an sich reißt??? hier ist  die originale Zeitung.

22.02.21 Ein Sarkophag des Erinnerns!

Das Glück will es, dass der Artikel online abrufbar ist: hier. Und online kann man dann auch noch hinüberklicken in den Artikel über Abi Warburgs „Bilderatlas Mnemosyne“. Was für eine Fundgrube tut sich auf!

ZITAT

Wenn man die Wendeltreppe im Inneren des Tempels hochstieg, erreichte man die oberen Galerien und konnte von dort aus den Zeus des Phidias aus der Nähe betrachten. Dieses Werk hatte nach Ansicht Quintilians »der Religion der Menschen etwas hinzugefügt«. Gold und Elfenbein wurden nur durch Gemmen unterbrochen, außer am Thron, wo man auch Ebenholz erkennen konnte. Tiere und Lilien waren über das Gewand verstreut. Zeus war mit einem Olivenzweig bekränzt und hielt in seiner rechten Hand eine Nike mit einem Band und einem Kranz. Unter jedem Thronfuß waren weitere kleine Niken angebracht, die das Aussehen tanzender Elfen hatten. Aber noch etwas anderes spielte sich zwischen diesen Füßen ab: geflügelte Sphingen raubten mit ihren Krallen thebanische Knaben, und Apollon und Artemis durchbohrten noch einmal die Söhne und Töchter der Niobe. Und das Auge, das sich an die bewegte Dunkelheit gewöhnte, entdeckte immer neue Szenen auf den Verbindungsstreben des Throns. Je weiter man den Blick nach unten richtete, um so größer wurde die Zahl der Figuren, Neunundzwanzig auf den Verbindungsstreben: Amazonen, Herakles mit seinem waffentragenden Gefolge und Theseus. Ein Junge richtet sich das Stirnband: stellt er Pantarches dar, den jungen Geliebten des Phidias? Der Thron ist unzugänglich, von bemalten Absperrungen umgeben: wieder erkennt man Theseus und Herakles, dann Peirithoos, Ajax, Kassandra, Hippodameia, Sterope, Prometheus, Penthesilea, Achilles, zwei Hesperiden. Andere Gestalten wachsen aus dem oberen Teil des Throns: drei Chariten und drei Horen. Danach senkt sich der Blick auf den Fußschemel des Zeus, und auch da begegnen ihm Figuren: wiederum Theseus und noch einmal die Amazonen und goldene Löwen. Noch weiter unten macht der Blick auf dem Sockel, der diese gewaltige Statue des Zeus und seiner Parasiten trägt, noch mehr Szenen aus: Helios besteigt seinen Wagen, Hermes tritt hervor, gefolgt von Hestia, Eros empfängt Aphrodite, während sie dem Meer entsteigt und Peitho sie bekränzt. Auch Apollon und Artemis fehlen nicht, Amphitrite und Poseidon, und Selene auf einem Pferd. Zeus, dieser thronende und von Geschöpfen überkrustete Gigant, spiegelte sich auf einem schwarz polierten Steinfußboden wider, wo reichlich Öl für die Behandlung des Elfenbeins floß.

Keine andere Statue wirde von den Griechen so sehr bewundert, sogar von Zeus selbst, der einen Blitz seiner Zustimmung auf den schwarzen Fußboden schleuderte, als Phidias dieses Werk vollendet hatte und den Gott um ein Zeichen bat. Der goldelfenbeinerne Zeus aus Olympia wurde bei einem Palastbrand in Byzanz im fünften Jahrhundert zerstört. Uns bleiben die Münzen aus Elis, die ihn darstellen, und die Worte einiger bewundernder Besucher wie Kallimachos und Pausanias. Paulus Emilius sagte, Phidias habe dem Zeus die Gestalt Homers verliehen.

Die neuzeitlichen Menschen sind angesichts der Beschreibungen immer verunsichert und ratlos gewesen. Zuviel Farbe, zuviel orientalischer Prunk, womöglich eine Geschmacksverirrung. Sollten Phidias bei seiner ehrgeizigsten Unternehmung alle die Eigenschaften abhanden gekommen sein, die wir an den Friesen des Parthenon so bewundern? Der Fehler der modernen Menschen liegt darin, daß sie den Zeus des Phidias in derselben Weise als eine Statue betrachten wie den Hermes des Praxiteles. Aber er war etwas ganz anderes. Der Zeus des Phidias schimmerte abgeschottet in der Cella des Tempels und hatte möglicherweise eher etwas von einem Dolmen, einem Betilo, einem vom Himmel gefallenen Stein, an dem sich die anderen Götter und Helden festklammerten, um leben zu können. Über das Gold und das Elfenbein ergoß sich die Regsamkeit einer Ameisenkolonie. Zeus diente lediglich als Stütze für Tiere und Lilien, für Bogen und Gewänder, für alte, immer aufs neue wiederholte Szenen. Aber Zeus war nicht nur der unbeweglich thronende Wächter: Zeus war jede dieser Szenen, dieser durcheinandergebrachten und neu zusammengefügten Taten, die seinen Körper und seinen Thron in feinsten Schaudern zum Kräuseln brachten. Phidias hatte ganz unbeabsichtigt bewiesen, daß Zeus nicht allein leben kann: ganz unbeabsichtigt hatte er das Wesen des Polytheismus dargestellt.

Olympia steht für das Glück der Griechen, die sich aufs Unglück wohl verstanden. Auf der Peloponnes ist das üppige Grün von halluzinatorischer Leuchtkraft. Je seltener, um so intensiver, fast ein Äußerstes. Rings um Olympia vereinen sich alle Arten von Grün, so wie sich vorzeiten die Athleten sämtlicher Städte, in denen Griechisch gesprochen wurde, dort vereinten: von der herben Phosphoreszenz der Pinien von Aleppo bis hin zur dunklen Klarheit der Zypressen, den glänzenden Bändern der Zitronenbäume, den Urgewächsen des Schilfs, und dies alles vor dem Hintergrund sanfter Hügelkämme, die der Daumen Poseidons durch Erdbeben gestaltet hatte. Dieser Ort ist das Geschenk eines Mannes, der zu einem Fluß wurde: Alpheios. [Karte betrachten!] Nachdem er sich zwischen den kahlen, sengenden Bergrücken Arkadiens einen Durchbruch geöffnet und die Felsen des Lykaions gehetzt hat, des Gebirges der Wölfe und Menschenfresser, auf dessen Höhen die Sonne niemals Schatten wirft, tritt der Alpheios am Ende überraschend aus den Schluchten von Karytaena hervor und ergießt sich in ein gewundenes Tal, das dem Zeus ebenso teuer ist, wie ihm das archaische Lykaion verhaßt gewesen war. Die Griechen pflegten die Natur eher unbenannt zu lassen, aber Pausanias preist den Alpheios gleich dreimal: »Der wasserreichste unter den Flüssen und sehr angenehm anzusehen«; »ein wunderbarer Fluß für die Liebe«, wegen seines Ursprungs; und schließlich war er für Zeus »der anmutigste aller Flüsse«.

Aber wer war Alpheios? Ein Jäger. Er erblickte die Göttin der Jagd, Artemis, verliebte sich in sie und […]

Ende des ZITATES

Quelle Roberto Calasso: Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia / Insel Verlag Frankfurt am Main, zweite Auflage 1991 (Seite 182f) Aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn

So erzählt der Dichter Roberto Calasso, selbst ein unendlicher Strom von Geschichten. Wenn man einmal die Antenne ausgefahren hat für dieses Verfahren, Wirklichkeit zu schaffen und zu empfangen, wird sich davon nicht mehr losreißen können. Heute hat man gegenüber den 90er Jahren, als ich den Wert des Buches noch nicht erkannt habe, den Vorteil, dass man mit google-Hilfe den Hintergrund noch unendlich ausfächern kann. Man ahnt, wie sich einst Schiller, Hölderlin und die klassischen Zeitgenossen durch  Johann Joachim Winckelmanns Begeisterung für die Antike anstecken ließen und wieso sie hoffen konnten, dass ihr Lesepublikum alle Anspielungen verstehen würden: oder es lernen wollten. Nicht anders als wir, die als Spätlinge der Renaissance und der zweiten oder dritten Aufklärung wahrnehmen, wie sich die Ausstrahlung des christlichen Himmels mit seinen 1000 Geschichten und Weisheiten dramatisch verfinstert. Die alten Götter machen die Runde…

Und wenn sie aus Indien kommen? Um so willkommener. Calassio stünde uns bei mit Ra und Ta und letztlich: „Ka“!

Angenehm findet Holbein […], dass der Autor – anders als in seinem Buch ‚Hochzeit von Kadmos und Harmonia‘ von 1990 – hier auf den „didaktischen Zeigefinger und Wir-Ton“ verzichtet. Auch die Bilder in diesem Band gefallen ihm. (30.6.2000)

Zum Thema „Schillers Griechenland“ – und wie immer lesenswert Rüdiger Safranski:

Quelle Rüdiger Safranski: Goethe & Schiller Geschichte einer Freundschaft / Hanser Verlag München 2009

Länge: 4:52 – bitte danach Stopptaste betätigen, bevor der nächste Titel zuschlägt!

1 Minute nachsitzen: Peloponnes = (die) Insel des Pelops

Langenscheidt 1953

Über Pelops und die Pelopiden a.a.O. (Calasso) Seite 189 bis 210

Gesualdo wiedererweckt

Modelle der Moderne (Peter Eötvös folgend)

Eine sehr andere Musik, ein neues Hören, ein guter Rat: Ganz gründlich vorbereiten (Links!), dann einfach wirken lassen…

Gesualdo „Ardita Zanzaretta“ Text und Übersetzung hier

 Composer: Carlo Gesualdo {Gesualdo di/da Venosa} (8 March 1566 — 8 September 1613) – Performers: Ensemble „Métamorphoses“ – Conductor: Maurice Bourbon – Year of recording: 1996

Ardita zanzaretta
Morde colei che il mio cor strugge e tiene
In così crude pene;
Fugge poi, e rivola
In quel bel seno che il mio cor invola,
Indi la prende e stringe e le dà morte
Per sua felice sorte.
Ti morderò ancor io, 
dolce amato ben mio, 
e se mi prendi e stringi, ahi, verrò meno 
provando in quel bel sen dolce veleno.

die Quelle: (Zeitangabe vor) Nr.13

00:00:00 – 01. Se la mia morte brami 00:03:34 – 02. Beltà, poi che t’assenti 00:06:55 – 03. Tu piangi, o Filli mia 00:10:04 – 04. Resta di darmi noia 00:13:12 – 05. Chiaro risplender suole 00:17:41 – 06. „Io parto“ e non più dissi 00:20:47 – 07. Mille volte il dì moro 00;23:57 – 08. O dolce mio tesoro 00:26:43 – 09. Deh, come invan sospiro 00:29:25 – 10. Io pur respiro in così gran dolore 00:32:20 – 11. Alme d’amor rubelle 00:34:17 – 12. Càndido e verde fiore 00:36:32 – 13. Ardita Zanzaretta 00:39:46 – 14. Ardo per te, mio bene 00:43:08 – 15. Ancide sol la morte 00:45:33 – 16. Quel „no“ crudel que la mia speme ancise 00:47:53 – 17. Moro, lasso, al mio duolo 00:51:28 – 18. Volan quasi farfalle 00:54:23 – 19. Al mio gioir il ciel si fa sereno 00:56:54 – 20. Tu segui, o bella Clori 00:59:15 – 21. Ancor che per amarti 01:02:34 – 22. Già piansi nel dolore 01:05:07 – 23. Quando ridente e bella

Folgendes Video ab Anfang bis 7:00

Der Komponist: HIER

Folgendes Video: bitte ganzer Bildschirm, Dunkelheit im Raum, Konzentration

die Quelle: (Zeitangabe vor) Nr.19

00:00:00 – 01. Se la mia morte brami 00:03:34 – 02. Beltà, poi che t’assenti 00:06:55 – 03. Tu piangi, o Filli mia 00:10:04 – 04. Resta di darmi noia 00:13:12 – 05. Chiaro risplender suole 00:17:41 – 06. „Io parto“ e non più dissi 00:20:47 – 07. Mille volte il dì moro 00;23:57 – 08. O dolce mio tesoro 00:26:43 – 09. Deh, come invan sospiro 00:29:25 – 10. Io pur respiro in così gran dolore 00:32:20 – 11. Alme d’amor rubelle 00:34:17 – 12. Càndido e verde fiore 00:36:32 – 13. Ardita Zanzaretta 00:39:46 – 14. Ardo per te, mio bene 00:43:08 – 15. Ancide sol la morte 00:45:33 – 16. Quel „no“ crudel que la mia speme ancise 00:47:53 – 17. Moro, lasso, al mio duolo 00:51:28 – 18. Volan quasi farfalle 00:54:23 – 19. Al mio gioir il ciel si fa sereno 00:56:54 – 20. Tu segui, o bella Clori 00:59:15 – 21. Ancor che per amarti 01:02:34 – 22. Già piansi nel dolore 01:05:07 – 23. Quando ridente e bella

Al mio gioir il ciel si fa sereno

Il crin fiorito il Sole ai prati inaura

Danzano l’onde in mar al son de l’aura

Cantan gli augei ridenti

Scherzan con l’aria i venti

Così la gioia mia versando il seno

Io d’ogni intorno inondo

E fo, col mio gioir, gioioso il mondo.

Übersetzung siehe HIER

2. HOCHZEITSMADRIGAL, komponiert 1965/76, ist ein Lied an die unbändige Lebensfreude (Text: „Al mio gioir“, „Bei meiner Freude“). Es zeigt vier Abschnitte der Hochzeitszeremonie: Posieren der Gäste und Verwandten für Fotos an der Kirchenpforte – Einzug und Dröhnen der Glocken, mit Posen – Vorbereitung des Brautbetts bei Kerzenlicht, mit Posen – private Dialoge der Neuverheirateten (Text: das mittelalterliche deutsche Liebeslied „Du bist mein, ich bin dein …“), unter den spionierenden Blicken der Verwandten durchs Schlüsselloch, mit Posen.

Fortsetzung oben im Video Drei Madrigalkomödien ab 7:00

3. MORO, LASSO wurde 1963/72 zu Gesualdos 350. Todestag komponiert. Hier wird das Stück, wohl das bekannteste unter allen Madrigalen Gesualdos, aus einer rückwärtigen Perspektive gezeigt, wie für einen Zuschauer von der Seitenbühne aus: zum Läuten der Glocken lassen die Darsteller, hustend, knurrend, sich räuspernd, langsam die Masken lebender Menschen sinken und ihre in Wahrheit toten Gesichter zum Vorschein kommen

die Quelle: (Zeitangabe vor) Nr.17

00:00:00 – 01. Se la mia morte brami 00:03:34 – 02. Beltà, poi che t’assenti 00:06:55 – 03. Tu piangi, o Filli mia 00:10:04 – 04. Resta di darmi noia 00:13:12 – 05. Chiaro risplender suole 00:17:41 – 06. „Io parto“ e non più dissi 00:20:47 – 07. Mille volte il dì moro 00;23:57 – 08. O dolce mio tesoro 00:26:43 – 09. Deh, come invan sospiro 00:29:25 – 10. Io pur respiro in così gran dolore 00:32:20 – 11. Alme d’amor rubelle 00:34:17 – 12. Càndido e verde fiore 00:36:32 – 13. Ardita Zanzaretta 00:39:46 – 14. Ardo per te, mio bene 00:43:08 – 15. Ancide sol la morte 00:45:33 – 16. Quel „no“ crudel que la mia speme ancise 00:47:53 – 17. Moro, lasso, al mio duolo 00:51:28 – 18. Volan quasi farfalle 00:54:23 – 19. Al mio gioir il ciel si fa sereno 00:56:54 – 20. Tu segui, o bella Clori 00:59:15 – 21. Ancor che per amarti 01:02:34 – 22. Già piansi nel dolore 01:05:07 – 23. Quando ridente e bella

Moro, lasso, al mio duolo,

E chi può dar mi vita,

Ahi, che m’ancide e non vuol darmi aita!

O dolorosa sorte,

Chi dar vita mi può,

Ahi, mi dà morte!

Übersetzung siehe HIER

Fortsetzung oben im Video Drei Madrigalkomödien ab 12:22

Und was nun? (Mehr lesen!)

Es ist mir schon recht, dass mein Scanner die Gesualdo-Seiten aus dem ersten Band des Mammutwerkes von Frieder Reininghaus (u.a.) nicht in aller Schärfe wiedergibt, meine Absicht ist nicht, den Kauf dieser Fundgrube profunder Musikwissenschaft zu erübrigen. Um so mehr fällt ins Auge, dass der Inhalt sich leicht wie eine gute Tageszeitung fassen lässt, und ich muss deshalb auch noch die nächste Doppelseite folgen lassen, die zeigt, dass auch die Bebilderung zur Lebendigkeit beiträgt, selbst wenn es um einen grausigen Tod geht, den man bei Gesualdo ja immer auf der Lauer wähnt. Dabei gehen mir vor allem einige anrührende Zeilen durch den Kopf:

Er konnte nie alleine schlafen, ohne jemand, der ihn umarmte und ihm den Rücken wärmte. Zu diesem Zwecke hatte er einen gewissen Castelvietro aus Modena, der sehr zärtlich zu ihm war und immer bei ihm schlie, wenn die Fürstin fort war.

Am 8. September 1613 starb Gesualdo unter nicht genau bekannten Umständen – wenn nicht durch die Intrige seiner Schwiegertochter oder an Folge einer der  Prügelorgien, dann vermutlich an Asthma.

Autor: Alexander Ziane, Mitherausgeber des Werkes.

Ein Charakteristikum dieser singulären Musikgeschichte ist, dass man wahrhaftig nicht aufhören kann, von Kapitel zu Kapitel weiterzuwandern. Und ich schwöre, den Clou der Story vom Eigenlob der edlen Frau Musica halte ich geheim (er befindet sich im letzten Teil des nachfolgenden Kapitels, das von Albrecht Braun und Frieder Reininghaus selbst stammt). „Weil die lieben Engelein selber Musicanten sein“? Von wegen!

 

Näheres? (Sogar eine Preisangabe:) Hier.

Nachts am Schreibtisch

Visionen? Nein, Bilder! Und Bilder im Bild!

An der Glastür des Arbeitszimmers: Bilder von Jürgen Giersch (über dem japanischen Farbholzschnitt) das Aquarell „Pferderennen an der Nordsee“ und „Dolomiten: Hütte am Langkofel“.

Siehe auch HIER und weiter.

Oder eine Musik, die ich höre, ohne sie physisch hören zu müssen. Also vor dem inneren Ohr. Man kann auch Bilder dabei betrachten (sie verändert sich). Im externen Fenster. Oder indem man den Musikern, der Musikerin, den Gesichtern, den Bögen, den Fingern bei der intensiven Arbeit, bei dem bloßen Spiel zusieht.

MUSIK

Oder: Eine andere Welt? (Extern.)

Ausführende: Martynas Levickis – accordion, director Mikroorkéstra Chamber Ensemble | St. Catherine’s Church Vilnius 04.01.2019

Jenufa neu!

Die neue ZEIT

da steht es: Seite 48 „Scheiße, was für eine Sackgasse“, nein, ich meine gegen Schluss: „Was in und zwischen ihnen [den Hauptpersonen der „Jenufa“] vorgeht und in dieser Intensität nur die Oper vermitteln kann, das ist eigentlich auch nur in der Oper zu verkraften, als gemeinsames Erleben und Erlebnis. Das teilen sich nun zwar die Künstler (jederzeit on demand abrufbar), wir aber bleiben in unserer asymmetrischen Einsamkeit allein.“

Quelle DIE ZEIT 18. Februar 2021 »Scheiße, was für eine Sackgasse« Zwischen dem „Freischütz“ in München und „Jenufa“ in Berlin: Der Versuch, sich ganz allein zwei Opernpremieren im Livestream anzugucken / Von Volker Hagedorn

Im Livestream? „on demand“? Ja! bis 15. März.

https://www.3sat.de/kultur/musik/jenufa-oper-in-drei-akten-102.html HIER

*    *    *

Weiteres? Freischütz München HIER (bis 17. März 2021 11.55 Uhr)

Bach von Takt zu Takt

Aber: wo bleibt die Form?

Zu den Einzeichnungen: das Notenexemplar wurde ursprünglich von einer Cellistin gespielt, jetzt übe ich es auf der Bratsche, daher die entsprechenden (farbigen) Fingersätze. Nur beim Üben glaube ich es zu verstehen, und zwar anders als es in der Analyse avisiert ist, die ich seit August 1969 kenne. Sie bezieht sich wohlgemerkt auf die Courante, während ich mich zunächst auf die Allemande konzentrieren will. (Mit dem Prélude habe ich mich schon früher beschäftigt, siehe hier.)

Quelle Diether de la Motte

Über die Courante und nachfolgende Sätze

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Reclam Stuttgart 1981, Seite 191 f

(dies ist nur ein Anfang, der mich verpflichten soll…)

Zunächst herausgegriffen ein Kadenzphänomen:

dasselbe leicht melodisiert:

Vorweg also nur dieses kleine Beispiel, G-dur – G7 – C-dur – D-dur – G-dur, es dient einer oberflächlichen Rückerinnerung an ein Phänomen der klassischen Kadenz, die aber schon viel früher erfunden wurde: um deutlicher ihren Zweck zu erfüllen, über die Dominante zur Tonika zurückzukehren, nimmt sie einen kleinen Umweg, – sie geht nicht einfach über die Subdominante (IV), sondern stärkt diese, indem die vorhergehende Tonika mit Hilfe einer kleinen Septime in einen Dominantseptakkord verwandelt wird (Zwischendominante), der „verschärft“ zur Subdominante strebt, auf die dann die „echte“ Dominante (eventuell ebenfalls ergänzt zum Dominantseptakkord) zwingend folgen kann. – Bei Mozart kennt man das, wenn ein Gedanke gegen Ende des Satzes „abschiednehmend“ wiederkehrt, so im Mittelsatz der „Sonata facile“, wo allerdings auch noch der Ton F mit dem kühneren (tonartfremden) F-dur-Akkord bedacht wird, der vielleicht sogar noch die Chromatik des nächsten Taktes aufrührt.

Für eine Nebenbemerkung ist meine Beschreibung etwas lang geraten; wer es gut versteht, wird sich nicht ärgern. Eigentlich wäre auch, bevor ich fortfahre, noch eine Bemerkung zum „Neapolitaner“ fällig, der in Bachs Allemande in Takt 22 (zu a-moll) auftaucht, ebenfalls in der Courante in Takt 25 (zu e-moll). Aber zunächst ist Zeit, das vorher beschriebene Phänomen dingfest zu machen: wo Bach also einen schon eingeführten Leiteton wieder zurücknimmt, um ihn nachher doch wieder und zwar richtig zu etablieren. Z.B. in der Allemande –  Cis in Takt 10, C in Takt 11 und 12, Cis in Takt 13, C in Takt 14, Cis in Takt 15 und 16. Inkonsequent, nicht wahr? (Im Gegenteil: folgerichtig!)

Mir hilft es, wenn ich die Entfaltung der Bachschen Melodik, auch innerhalb eines scheinbar vorgegebenen Schemas, ganz ähnlich zu erfassen suche wie in einem arabischen Taqsim oder einem indischen Alap. Ausgehend von einem klaren tonalen Zentrum, lasse ich mich von jedem einzelnen Schritt überzeugen, durchwandere peripherisch angelegte Nachbarbereiche und spüre, wie sich ein Netz bildet, ein stetig wachsendes Kraftfeld, das den einzelnen sinnlichen Momenten eine übergreifende Bedeutung zu verleihen scheint.

Der Anfang ist ein deutlicher Impetus, das Auftaktsechzehntel mit nachfolgendem Grund-Akkord, dessen Anziehungskraft jeweils unterschwellig verstärkt wird, indem ein Anklang regelmäßig wiederkehrt: Takt 4, Takt 9 und Takt 15. Auch wenn das Tor nach D-dur geöffnet wurde, und die erste Hälfte des Satzes wiederholt wird, wieder mit den eingestreuten Zeichen Takt 4, Takt 9 und Takt 15. Und nach einer Weile dann aufs neue in der zweiten Hälfte des Satzes, – Vorankündigung in der Mitte des Taktes 29 und die Erfüllung bei der Ankunft im Takt 32, wo dieser G-dur-Akkord, auseinandergezogen über zwei Oktaven, den ganzen Takt füllt, nach dem Muster des D-dur-Taktes 16.

Unvergessen, wie schon vor Ende des ersten Teils der Horizont des ganzen tonalen Geländes ins Bewusstsein gerückt wird: mit der langen, den gesamten Raum aufwärts durchmessenden Linie des Taktes 13 und der allmählichen, zunächst auf die Wiederholung gerichteten Auflösung der Spannung. Doppelstrich. Später im zweiten Teil: die Emphase der hohen Töne ab Takt 25, die Sequenzenkette von Takt 26 bis 29, die einrahmenden Dominantseptakkorde mit G-Bordun am Anfang der Takte 25 und 29, die fast gewaltsame Sequenzenkette ab Mitte Takt 29 bis Mitte Takt 31.

Noch einmal von vorn: Was sind die Details dieser unaufhaltsamen Wanderfahrt?

Am Anfang war die Harmonie des Tones G, der einen Dreiklang in sich birgt, G-H-D, bzw. arpeggiert in der Reihenfolge G-D-H, so dass der letzte Ton durch den Auftakt und die Alleinstellung eine Initiative zugewiesen bekommt; es ist die Quelle, aus dem sich alles, was an melodischem Fluss entsteht, erklären lassen wird. Der Anfangsimpuls betrifft also die Terz.

Da werden nun als erstes die nächsten Verwandten erscheinen, unter denen das nahgelegene G sich dank des weiter nachtönenden tiefen Basstones anbietet, und so wird es durch Umspielung einbezogen. Und da auch das D sozusagen noch in der Luft liegt, bildet es den Anfang einer in Gegenrichtung verlaufenden Linie, die erst eine Oktave höher einen logischen Wendepunkt sieht, das hohe D. Ein abfallender Dreiklang D-H-G folgt, samt einer Schleife, die auf das erste Motiv nach dem Anfangsakkord antwortet und eine (fast) neue Fortspinnung nach demselben Muster präsentiert: E – D – C – H. Dieser letzte Ton wird zum Anfang einer aufsteigenden Linie, die jener in Takt 1 nachgebildet ist, jedoch einen Ton tiefer (auf dem C) landet und wiederum die gleiche Schleife anhängt, die sich auf den ersten Urheber der Bewegung in Takt 1 bezieht: A – G – Fis – G, jedoch auch noch eine unscheinbare Variante der Fortspinnung anhängt, um dann aus dem Tonleitermodus auszubrechen durch den Sprung abwärts zum A. Dieser Ton signalisiert zum ersten Mal einen Basiswechsel, indem er dem Basston des Anfangsakkordes G ein A entgegensetzt, dem wiederum Töne folgen, die unschwer als Bestandteile eines Dominantseptakkordes zu erkennen sind, schöne Konsequenz: sie lösen sich fast scherzhaft leichtfüßig in die Zweiergruppen des absteigenden Tonika-Dreiklangs Takt 4 auf. Deren G-Charakteristik findet zwei Takte später eine singuläre, wundersame Bestätigung in ihrem Moll-Echo auf E. Und eine neue Ära hebt an…

Unterbrechung: Takt 4, Takt 6 – wie wäre es, die üblichen Taktmengen auf ihre „formbildenden Tendenzen“ abzuklopfen? Ich erinnere mich an das rätselhaft-schöne Buch, das Berthold mir zum Geburtstag geschenkt hat und das mich weiter begleiten wird. Und höre Musik. (Allemande ab 2:10).

Eberhard Feltz

Pieter Wispelwey Im folgenden Video direjt auf die Allemande gehen, ab 2:10

Oder Sie wählen zunächst das folgende Video:

Wir dagegen, als nicht nur hörende, sondern auch allzeit studierende Menschen, werden mit einiger Sicherheit nicht bereit sein, eine solche Interpretation als einzig mögliche anzusehen: Einstweilen befinden wir uns immer noch in Takt 6, wo wir zunächst den motivischen Neu-Ansatz wahrgenommen haben, der deutlich das neue Zentrum E markiert. Er kommt nicht unvorbereitet, ja letzlich stammt er aus dem primären Impuls:

Es ist leicht gesagt: E-moll gehört halt in die Nähe von G-dur, und das Dis in Takt 5 war das sicherste Signal, dass es in diese Richtung geht, und es wird ja geflissentlich in Takt 6 („parallel“ zu Takt 4) bestätigt. Aber ich möchte lieber melodisch als harmonisch argumentieren. Wir befinden uns also ab Takt 6 auf dem gesicherten Boden von E und seinen nächsthöheren Nachbarn im Raum der kleinen Terz.

Die Dauerpräsenz dieser Töne entgeht einem leicht, weil das eingestreute Cis die Aufmerksamkeit auf sich zieht, zumal es vorläufig zu – keinem Ergebnis führt. Natürlich liegt das hohe D in der Luft, aber es kommt nicht; wir werden auf das Fis am Taktanfang 8 gelenkt, das zudem einen Praller erhält; ein hier direkt im Terzabstand nachfolgendes, unbetontes D bietet keinen Ersatz für den vorenthaltenen Zielton, wesentlicher ist seine beiläufige Funktion innerhalb der neuen Startfigur, die das Motiv aus Mitte Takt 6 aufgreift bzw. abwandelt und weiterführt, zunächst jedoch das „erfolglose“ Cis zurücknimmt: am Ende des Taktes 8 haben wir ein C, das tatsächlich zurück will. Aber wohin? Wir sehen doch schon am Ende des nächsten Taktes wieder das Cis winken, nachdem der Akkord des Taktes 1 beschworen wurde, und selbst der Anfang des Taktes 10, der das Cis als Fanal des Kommenden verwendet, hält das tiefe G in Hörweite, da sind unsere Orientierungsmarken allenthalben sichtbar aufgestellt. In die Höhe wie in die Tiefe weisend.  Dieser Vorgang ist so wichtig, dass wir ihn en passant ab Mitte Takt 6 überfliegen wollen. Es geht taktweise in figuralen Seqenzen aufwärts von E nach Fis, G, A (Takt 8), nach H (Takt 9), Cis, D, E (Takt 10), und dann abwärts in figuralen Sequenzen von Fis, E, D, C ! (Takt 11), weiter nach H, A, G, Fis (Takt 13) und E (Takt 13), ab hier lang durchgezogene  Aufwärtslinie über 2 ½ Oktaven mit Cis ! im A7 und (Takt 14) einem mittleren D incl. C ! im D7, dann Grundakkord G wie allererster Takt hier in Takt 15 und die abschließende Kadenz D-dur im großen Zick-Zack-Kurs (Takt 15 und 16). DOPPELSTRICH // WIEDERHOLUNG.

Ist dieser Text als Verbalisierung der musikalischen Vorgänge erträglich? Er soll nicht bilderreich und schön sein, sondern nachhelfen, die Tonabläufe bewusster nachzuvollziehen oder (wenn man sie nur innerlich hört) klarer zu vergegenwärtigen. Und nichts für Zufall oder gar Verlegenheit zu halten.

Zum Beispiel: dass der zweite Teil mit einer leeren Quinte beginnt (die Terz wird sofort nachgeliefert), versteht sich von selbst, denn der vorausgehende Takt war zutiefst dreiklangsgesättigt. Aus dem ersten Teil haben wir auch das Wechselspiel zwischen C und Cis in Erinnerung, und so begegnet uns das C nach dem D-dur-Schluss als alte Bekannte. Am Ende des Taktes. Neu ist, dass in diesem Zusammenhang – am Ende des nächsten Taktes – wiederum als alterierter Ton das F auftaucht, und zwar mit dem Ziel des nächsten Taktbeginns: E – C , dem wiederum der übernächste Taktbeginn Gis – E nachgebildet ist, was jeweils durch tr-Zeichen markiert ist. Vielleicht ist dadurch die Erwartung geweckt, alsbald einen dritten, ähnlichen Vorgang zu erleben, stattdessen „enttäuscht“ uns zu Anfang des folgenden Taktes 21 ein Hochton, den wir bereits für  erledigt gehalten haben, das hohe D, das wir aus den letzen Vierergruppen der Takte 18 und 19 im Ohr haben. Eine zweite „Enttäuschung“ folgt, denn das mit tr-Zeichen hervorgehobene Gis in der Mitte des Taktes 21 ist dem Taktanfang 20 „zu“ ähnlich, – es sei denn, damit wäre eine Überbietung verbunden, und in der Tat: die Auflösung zu Anfang des Taktes 22 im A-moll-Akkord überwältigt das Ohr als Akkord, der dem G.dur-Akkord des allerersten Taktes ähnlich ist und doch eine völlig neue Qualität realisiert. Das wird 2 Takte lang gefeiert und durch den Einsatz des „Neapolitaners“ in der Kadenz verherrlicht. Wir haben den Ort der größten Grundtonart-Ferne erreicht! Und dessen Wiedergewinnung ist ein hymnischer Vorgang, der nicht weniger als 5 Takte währt, von Takt 24 bis zur Mitte des Taktes 29, wo sich genau der oft erwähnte Akkord befindet, mit dem die Allemande begonnen hat. Grund genug, eine großartige Kadenz anzuhängen, in der die Modulationstöne Cis, F, C, Fis eine pathetische Geste signalisieren, die in der Grundton-Protuberanz des Schlusstaktes ihr Ziel findet, als sei es schon immer dagewesen.

Bevor ich fortfahre, könnte man sich anhand von Wikipedia intensiver mit dem „Neapolitaner“ befassen, lesen Sie bitte hier, – das erste Beispiel steht sogar in der gleichen Tonart wie in Bachs Allemande, Takt 22. Es ist ja die harmonische Wendung, die am ehesten inhaltliche Assoziationen weckt. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es dem bedeutungsvollen Vortrag zugute kommt. Wie überhaupt unsere ganze verbale Interpretation kein anderes Ziel hat als ein sprechendes, in keinem Punkt gleichgültiges Klangergebnis. Und es wäre durchaus angebracht, dem Musiker Hans Vogt, der oft gute Hinweise gibt, in diesem Fall heftig zu widersprechen:

Es folgt eine Allemande, die durch Ebenmaß der Proportionen besticht; alles barocke Ausufern, das gelegentlich Bachs Allemanden kennzeichnet, ist zurückgenommen. Gleiches gilt für die Courante; unbekümmert, gerade präsentiert sich ihr Haupteinfall. Beide Sätze, Allemande und Courante, können solcher Klarheit wegen ziemlich scharf im Tempo gespielt werden.

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Reclam Stuttgart 1981, Seite 191 f

Gleichheit aller Menschen?

Geht doch gar nicht, weil’s nicht stimmt!

So antwortet der Stammtisch. Jeder Mensch ist anders (sieht man doch), und der Philosoph und Naturwissenschaftler Leibniz hat sogar behauptet: kein Blatt am Baum gleiche dem andern.

Oder reden wir nur von Chancengleichheit, als einer Forderung? Jeder Mensch, ungeachtet all der unterschiedlichen Gebrechen oder Begabungen, soll die gleichen Rechte haben wie jeder andere. Man spricht nicht mehr von Rassen, aber das gültige Wort „Kulturen“ ist  wertfrei.

Oder – wenn es um das Individuum geht, reden wir nur von seiner Würde (bitteschön!) oder seinem Recht auf Anerkennung (na klar, du bist ein feiner Kerl, sagt Horst Lichter nach kurzem Augenschein).

Im Ernst, wie kann man darüber reden, ohne sich vorsichtshalber drüber lustig zu machen? Gibt es einen verpflichtenden Diskurs, ein Grundbuch der gegenseitigen Hochschätzung?

Hier ist es:

Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung / suhrkamp taschenbuch wissenschaft / Frankfurt am Main 2009 / ausgehend von der amerikanischen Originalausgabe mit dem Titel Multiculturalism and »The Politics of Recognition« / Princeton University Press 1992

ZITAT

So ist uns der Diskurs der Anerkennung in doppelter Weise geläufig geworden: erstens in der Sphäre der persönlichen Beziehungen, wo wir die Ausbildung von Identität und Selbst als einen Prozess begreifen, der sich in einem fortdauernden Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen vollzieht; zweitens in der öffentlichen Sphäre, wo die Politik der gleichheitlichen Anerkennung eine zunehmend wichtigere Rolle spielt. Bestimmte feministische Theorien haben die Verbindungen zwischen diesen beiden Sphären zu erschließen versucht. (Seite 24)

*    *    *

(Seite 29)

Die zwei politischen Konzeptionen, die beide auf der Idee der Gleichachtung beruhen, geraten nun miteinander in Konflikt.

Einerseits fordert das Prinzip der Gleichachtung ein »differenzblindes« Verhalten. Die Auffassung, dass alle Menschen gleich zu achten seien, konzentriert sich vor allem auf das, was bei allen gleich ist.

Andererseits sollen wir das Besondere anerkennen und sogar fördern. Die erste Konzeption wirft der zweiten vor, sie verstoße gegen den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung. Die zweite wirft der ersten vor, sie negiere die Identität, indem sie den Menschen eine homogene, ihnen nicht gemäße Form aufzwinge. Das wäre schon schlimm genug, wenn diese Form neutral wäre – und nicht die Form von jemand Bestimmtem. Aber die Beschwerde geht meist noch weiter. Es wird behauptet, der angeblich neutrale Komplex »differenz-blinder« Prinzipien, der von der Politik der allgemeinen Menschenwürde verfochten wird, spiegele in Wirklichkeit eine ganz bestimmte hegemonialer Kultur. Allein die minoritären oder unterdrückten Kulturen würden gezwungen, eine ihnen fremde Form zu übernehmen. Folglich sei die angeblich faire, »differenz-blinde« Gesellschaft nicht nur unmenschlich (weil sie Identitäre unterdrückt), sondern auch auf eine subtile, ihr selbst nicht bewusste Weise in hohem Grade diskriminierend. [Anmerkung 19: in diesem Band Seite 84, in meiner Abschrift als Kopie angehängt]

Der zuletzt genannte Einwand ist der härteste und bestürzendste von allen. Der Liberalismus der allgemeinen Menschenwürde muss offenbar voraussetzen, dass es einige universelle, »differenz-blinde« Prinzipien gibt. Auch wenn wir sie möglicherweise noch nicht definiert haben, bleibt dieses Projekt aktuell und wichtig. Es mögen unterschiedliche Theorien entwickelt und diskutiert werden – und es sind eine ganze Anzahl solcher Theorien in neuerer Zeit vorgeschlagen worden – aber sie alle sind sich einig in der Annahme, dass eine dieser Theorien die richtige sei.

Der Vorwurf, den die Politik der Differenz in ihrer radikalsten Version erhebt, lautet, dass die »blinden« Liberalismen selbst Spiegelungen ganz bestimmter, besonderer Kulturen sind. Und besorgniserregend ist dabei vor allem der Gedanke, dass diese Befangenheit nicht bloß eine kontingente Schwäche aller bisher vorgeschlagenen Theorien ist, dass vielmehr die Idee des Liberalismus selbst bereits ein Widerspruch in sich ist, ein Partikularismus unter der Maske des Universellen.

[Beleg zur eben erwähnten Anmerkung 19:]

Autor: Steven C. Rockefeller

(dies ist nur ein Anfang, der mich verpflichten soll…)