Archiv für den Monat: September 2020

Kommen die Konzerte einfach wieder??? Nein!

Was tun?

Wenn man die Salzburger Festspiele oder ähnliche Vorzeige-Events betrachtet, könnte man ja anderer Ansicht sein. Aber das kulturelle Leben eines Landes besteht nun einmal aus den zahllosen kleineren Veranstaltungen, die völlig unterschiedliche Segmente der Öffentlichkeit bedienen und gar nicht darauf zielen, jemals ein Millionenpublikum zu erreichen. Ja, es sind vielleicht die entscheidenden Segmente der Bevölkerung unseres Landes, die damit zu tun haben. Man muss – abgesehen vom Elternhaus – nur an die unerhörte Ausstrahlung der Musikschulen denken, in denen unser Nachwuchs zum ersten Mal erfährt, was ein Konzert ist. Aufmerksames Darbieten und Hören von Musik. Insofern ist alles brisant, was man aus den besonderen Szenen außerhalb der Medien erfährt, und man kann sich keineswegs damit trösten, dass „Hochkultur“ sich von selbst behaupten wird und im Falle einer Existenzbedrohung rechtzeitig mit Hilfsmaßnahmen rechnen kann. Sie lebt und stirbt auf dem Boden der Stille. Mit Hochkultur ist hier nichts Elitäres gemeint, sondern das Ergebnis professioneller künstlerischer Arbeit, die in der Ausübung und in der Wahrnehmung einer sorgfältigen Pflege bedarf.

Unter diesem Aspekt ist ein Zeitungsartikel wie der, aus dem ich hier ausführlich zitieren möchte, von größtem Wert, so dezent er beim Lesen wirkt; es ist ein Fanal, ein Notruf, der nicht weniger sensationell wirken dürfte als die Schlagzeilen über Corona und Klima. Eine Hiobsbotschaft, die im Moment weniger lebensbedrohlich scheint, aber die Menschheit ebenso akut betrifft: Wo Kultur stirbt, grassiert die Dummheit.

Da wird in der Süddeutschen Zeitung eine Konzert-Managerin befragt, die unsere (!) Lage aus dem Alltag kennt. So kann man sagen, auch wenn die Antwort aus einer Landeshauptstadt kommt, wo die Situation vielleicht weniger katastrophal ist als in Giessen, Gummersbach oder Gelsenkirchen. Alexandra Schreyer betreibt die Bell’Arte Konzertdirektion in München. Die erste Frage lautet:

„Die Theater öffnen wieder, die Oper gibt Vorstellungen, in den Konzertsälen wird wieder gespielt. Sind das nicht tolle Nachrichten?“ Antwort: „Das sind vor allem die Wirklichkeit verzerrenden Nachrichten. Es handelt sich um öffentliche oder halböffentliche Institutionen und Rundfunkanstalten, die unter den derzeitigen Bedingungen Kultur veranstalten. Wir Privatveranstalter müssen da schon genauer rechnen, und dabei kommt heraus, dass wir nicht vor halb leeren Sälen spielen können.

Nächste Frage: Viele Konzerte werden nun zweimal hintereinander gegeben, so dass doppelt so viele Besucher kommen können. [Eigentlich eine reichlich naive Frage: Doppeltes Honorar für die Künstler plus Erhöhung der laufenden Kosten?]

Antwort: Auch das rechnet sich nicht. Dafür dürfen zu wenige Menschen in den Saal, und wir können auch nicht die Künstler zwingen, für eine Gage zweimal aufzutreten. Das ist eine große Belastung für die Künstler, und einige sagen mir auch ganz direkt, dass sie nicht vor halb leeren Sälen spielen und dazu noch in lauter maskierte Gesichter schauen können. Musik ist keine einseitige Angelegenheit, da muss eine Kommunikation stattfinden. Zwischen Künstlern und Publikum, aber auch innerhalb des Publikums, beim gemeinsamen Essen danach.

[Jetzt wird es spannend. Ich höre im Geiste despektierliche Bemerkungen, von notwendigen Opfern für die Kunst und starrem Festhalten an hoheitlichen Privilegien. Ich wappne mich schon zur Verteidigung des sicheren Umfeldes der Kunst, das – im Gegensatz zu Notlagen – die Entfaltung ermöglicht oder zumindest begünstigt. Und dann kommt eine Antwort, die so richtig ist, dass es mir, einfach weil davon die Rede davon ist, die Tränen in die Augen treibt. Aber wie oft habe ich solche Konzerte erlebt, in denen die atemlose Gegenwart eines intensiv hörenden Publikums untrennbar zum Gesamterlebnis gehörte! Und man wusste, wo im Saal befreundete Menschen sitzen und das Erlebnis teilen. Und dass man sich nachher darüber austauschen wird.]

Frage: Kommen die Leute denn nicht wegen der Musik?

Antwort: Nicht nur. Die wenigsten kommen allein. Familiäre Bindungen werden da gepflegt, so ein Konzertabend ist sehr viel mehr als das Anhören von Musik. Und wie soll man den Leuten erklären, dass zwar eine „Wirtshaus-Wiesn“ mögich ist, aber nicht einmal ein Getränk im Gasteig? Für die Konzertbesucher ist das schlimm. Das Gemeinschaftserlebnis eines friedlichen, inspirierenden Konzertabends ist nicht mehr möglich. Das soziale Umfeld auch von älteren Leuten bricht zusammen. Das ist alles viel schlimmer, als sich das Politiker gemeinhin vorstellen. Wenn sie die Menschen nach einem Konzert weinen sehen, nicht nur wegen der Musik, denn verstehen sie, dass es da um ein sehr analoges menschliches Grundbedürfnis geht, um menschliche Nähe, um Gesellschaft und Vereinzelung.

/ Das klingt fast so, als wäre das Konzertleben wichtiger als die Lufthansa (gute Provokation!) / 

Darüber könnte man auch angesichts der Klimakrise mal nachdenken. Ob Kultur nicht mehr für die Vernetzung und den Zusammenhalt einer friedlichen Gesellschaft beiträgt, ob sie nicht mehr ist als das Sahnehäubchen einer Wohlstandsgesellschaft. Ob ein Konzert nicht mehr zur Stabilisierung der Zivilisation und unserer Demokratie beiträgt als ein Geschäftsflug nach New York oder ein Partyflug nach Ibiza. Rein wirtschaftlich muss man sehen, dass die Veranstaltungsbranche der fünftgrößte Wirtschaftszweig ist in Deutschland.

Quelle Süddeutsche Zeitung 30. September 2020 Seite 9 „Ein Konzertabend ist sehr viel mehr als das Anhören von Musik“ Die Coronamaßnahmen zerstören derzeit die Kulturszene. Die Münchner Konzertveranstalterin Alexandra Schreyer beschreibt die verzweifelte Lage / Interview: Helmut Mauró

Man sollte das Interview online ohne Bezahlschranke abrufen können. Ich zitiere nur noch die wenig optimistisch stimmenden letzten Sätze der Agentin:

Die Orchester drohen auseinanderzufallen, die Künstler kommen nicht mehr zum Publikum und dieses zerstiebt ebenfalls. Die Verwerfungen sind international, die schlimmsten Auswirkungen werden uns erst nächstes Jahr erreichen. Wenn man nicht rechtzeitig reagiert, wird sich der private Sektor des Kulturlebens erst nach Jahren wieder halbwegs erholt haben.

*    *    *

Was Sir Simon Rattle anlässlich eines Konzertes ohne Publikum am 4. Juni 2020 Im BR über die Situation der Orchester und – über die Zukunft der Flug-Touren gesagt hat:

BR-KLASSIK: Sir Simon, Sie dirigieren hier im BR ein Konzert ohne Publikum. Mit welchen Gefühlen gehen Sie an dieses Konzert heran, und wie haben Sie die Proben erlebt?

Simon Rattle: Vor allem mit sehr viel Freude. Es ist der erste Fuß, den ich wieder ins Wasser setze – seit dem Lockdown dirigiere ich nun zum ersten Mal. Ich habe nur ein, zwei Mal am Klavier musiziert. Schon die Ankunft der Streicher hier im Funkhaus am ersten Probentag war wirklich berührend. Wir fühlten uns alle irgendwie erlöst, wie bei einem Festessen nach einer Hungersnot.

(…)

BR-KLASSIK: Gibt es Dinge im Musikbetrieb, die sich Ihrer Meinung nach jetzt grundlegend verändern?

Simon Rattle: Ich glaube, dass sich vieles stark verändern wird. Ich nehme an, dass intensives Touren um die Welt in den nächsten fünf Jahren so nicht mehr möglich sein wird. Das London Symphony Orchestra sollte nächstes Jahr unglaubliche 99 Tage auf Tour sein. Und da habe ich die nationalen Gastkonzerte noch nicht mitgezählt. Das ist auf keinen Fall aufrechtzuerhalten, auch wenn das Orchester eigentlich nur so überleben kann. Langfristig erwarte ich nicht, dass Orchester weiterhin rund um den Globus fliegen werden.

Quelle: Hier

Also – was tun?

Berthold Seliger zur aktuellen Situation der Kulturpolitik 12. Oktober 2020

 Abzurufen HIER

I. Verschiedene Formen der Ungleichheit innerhalb der Konzert- und Kulturszene
II. Wann werden Tourneen wieder stattfinden können? Wie ist die Situation der Konzertveranstalter*innen, Agenturen und Kulturarbeiter*innen?
III. Zur Analyse und Kritik der Kultur-Fördermaßnahmen unter besonderer Berücksichtigung der Maßnahmen der Bundesregierung
IV. Was tun? Plädoyer für einen Neustart Konzerte – Draußen / Drinnen

Erster Teil vorweg: HIER

Ziegen und Pferde

Begegnungen

 

 

Der Mensch…

ist keine Lösung.

 

Es geht auch ganz gut

von Tier zu Tier

beseelte Nähe

und klare Ferne

Fotos: ER & JR

Nachtrag:

Das Meckern der Ziege habe ich zwar aufgenommen, bin aber technich nicht in der Lage, es einzufügen. Daher der folgende „Bonustrack“: die häufig (in Schwärmen) zu beobachtende Alpendohle (extern):

https://www.deutsche-vogelstimmen.de/alpendohle/

Bloße Meinungen

Was einem ohne Begründung durch den Kopf geht

(ergänzende oder kontrastierende Fotos eingefügt)

Sympathie?

Zum Beispiel, dass die Kultursendung des ZDF eine von A – Z kontraproduktive, diskulturelle Sendung ist. Aspekte, die man zu Schmiedings Zeiten etwas überanstrengt fand, etwas sympathisch, aber auch etwas künstlich auf Niveau getrimmt. Und heute die schiere hochtiefkulturelle Verlegenheit, eine Wagner-Sängerin als Entdeckung präsentieren, aber sich nicht trauen, eine einzige Zeile Walküre voll auszukosten. Dann Wolfgang Niedecken, weil sie glauben, was in Köln eine Rolle spielt und nach Pop klingt, müsste auch vor großem Publikum funktionieren. Und dann nicht einmal versuchen, eine einzige seiner kölschen Strophen per Untertitel inhaltlich zu übermitteln, nur sein fortwährendes Gelaber über Klima, Kinder und Enkelkinder, man müsse nun die Verantwortung übernehmen, dass man denen eine solche Welt hinterlässt. Stimmt! Sowas kann man endlos produzieren, beliebig, sinnlos, – Köln wird überschätzt. Niedecken wird überschätzt, seit er sich einmal im Fernsehen mit dem überschätzten Heinrich Böll unterhalten durfte.

Dokumentarfilm: „Ich bin Greta“ – Die Klimaaktivistin kommt ins Kino / „XES“ Ein Comic über Sexsucht – Von der Einsamkeit des Süchtigen / Vernichtung der Indianer – Ein Chief aus Kanada spricht Klartext / Gast: Luisa Neubauer; Live: BAP /

Man könnte endlos meckern und schimpfen, was einem da zugemutet wird. Sogar Luisa Neubauer, porzellanig-schön wie eh und je, spricht ungeschickt und papieren brisante Inhalte. Wie die ganze Sendung: unzulänglich präsentiert, ungenau, und inwiefern Greta persönlich? weniger gescheitelt? also nur wie sie wirklich ist? Sie ist – wie könnte es anders sein: anders. Aber will das jemand wissen, wenn der Arsch brennt, und nicht nur das ferne Australien, oder Californien. Und diese unbedarfte Moderatorin, Katty, natürlich nicht Kathi. Ist mit Niedecken per du. Köln ! Was hat sie eigentlich gelernt. Französisch. Um auch in dieser schönen Sprache notfalls den gleichen Unsinn zu produzieren, den sie schon auf Deutsch von sich gibt? Sie hat nichts gelernt, wie Freund Jo, immer nur Medien, irgendwas mit Medien, solche Leute kommen meist aus Karlsruhe, und dann haben sie bei Viva moderiert, und dann bei EinsLive, zur Not einen Medienpreis für Volksnähe eingeheimst, und dann darf man mal Igor Levit auspressen, der auch nichts zu sagen hat, oder Lang Lang in Arnstadt, weil er nun auch mal die Goldberg-Variationen auf den Markt hat werfen wollen. Nein, das weiß er ja medienwirksam auch, nein, um Glenn Gould kommt keiner herum, denkt ja fast jeder, ich zum Beispiel nicht. Und diese schreckliche Lang-Lang-Demut im heiligen Bach-Ambiente, Kultur aber soll doch eher leicht sein, daher das ewig-kindliche Grinsen und Gänsehautgerede. Ich will’s nicht mehr hören.

Dumont Kunstführer s.a. hier

Foto: E.Reichow

Aufbruch zum Völser Weiher. Ohne Eile, das darf Stunden dauern, das schönstmögliche Panorama, wie heißen noch die letzten Spitzen des Schlern-Massivs? „Die 2.413 m hohe Santnerspitze und die 2.394 m hohe Euringerspitze“. Vorgelagert bis zum Waldsaum in der Tiefe diese unglaublichen, abgründigen Rundungen, die weichen und weiten Mulden und Wölbungen in sattem Grün, wenige Kühe in der Tiefe des Raumes verteilt. Wie in einem vielfach verbogenen Amphitheater.

Liegen sie tatsächlich  wie Violinschlüssel hingestreckt, oder hat Musil nur das Wort und das Zeichen übermitteln wollen, das ich nun nie mehr  von den Almen lösen kann. Grigia. Die Portugiesin – war schon schwieriger – und Tonka, bei der Wiederbegegnung wie schon 1965 etwas ärgerlich. Mein Fehler, es als Darstellung der problematischen Überlegenheit des männlichen Protagonisten zu lesen. Warum diese hohe, halb theoretisch-rationale, halb expressionistische Sprache, ohne als Psychoanalyse zu funktionieren. Draußen auf den Bänken diese Quo-vadis-Sprüche, sie wollen uns nachdenklich machen, ungebeten. Mit Gauguin und Nachfolgedenkern. Woher kommen wir, wohin gehen wir. Wer sind wir. Ein großer Maler zweifellos, irgendwie altägyptisch. Ausgerechnet der fragt sich das, im damals nicht so recht funktionierenden Paradies Tahiti.

Woher kommen wir?

Und hier in rostigem Blech noch ein Seneca-Spruch. Wie tief das alles, angesichts der gewaltigen Natur, die man nicht verleugnen kann. Im Dumont-Kunstbuch gestern früh der großartige Bericht über die gotischen Fresken in Burg Runkelstein, intensive Beschwörungen des höfisch-ritterlichen Lebens, Maximilian I. der letzte Ritter hat es schon restaurieren lassen, fand es wertvoll. Was, wenn man dies weiterhin überall propagiert hätte, über die Jahrhunderte hinweg – Tristan und Isolde – statt der schrecklichen Märtyrer-Geschichten in all den alten Kirchen? Die Drohung mit Fegefeuer, Abschneiden von Körperteilen, die allgegenwärtige Todesangst, das Sterbenmüssen und Menschenquälen als vorbeugende Maßnahme allüberall praktiziert, um jeden gefügig zu halten. Nicht Minne und stolze Sitte. Hier in diesen Bergen ist die Sagenwelt meiner Kindheit zuhaus, Zwerg Laurin, Meister Hildebrand, Dietrich von Bern, Bern soll Verona bedeuten, der böse Erzbischof von Trient, auch in Musils „Portugiesin“ gemeint? Im Restaurant am Völser Weiher die Reproduktionen (vonwegen!!! Ignaz Stolz! siehe Textfoto oben aus Kunstführer) der heldischen Ölschinken des 19. Jahrhunderts, Hildebrand und Dietrich beim Hinmorden der Zwerge, deren Rosengarten sie zerstört haben, per Pferd der Raub einer Frau, deren Namen (Isenhilde? recherchiert: sie hieß SIMILDE) ich nie gehört hatte. Hier gibt es genau die Spaghetti al pesto, die ich vom Vorjahr in Erinnerung habe, mit satt ausreichend Öl. Am Nebentisch zwei Frauen, jung und mittelalt, keine Engstfreundinnen, wie wir erst dachten, sondern eher Mutter und Tochter, sie zischeln abwechselnd, dass in der Politik nur noch Homos und Lesben zu Amt und Würden kämen, schon der abfällige Ausdruck Greta Thunfisch hätte uns vorwarnen müssen, die weiß nix über lebensnotwendiges CO2, die lächerliche Genderisierung allenthalben, dann der Vergleich der beiden Demonstrationen in Berlin, das Unrecht in der Berichterstattung, obwohl die Klima-Typen alle unmaskiert und viel zu dicht beieinander usw., Corona sowieso alles Fake, wie man an SARS beweisen kann. Niemand habe das in den Medien moniert, die sind ja auch durchweg unterwandert! Aber all dies kam von Tisch zu Tisch vielleicht nicht so geballt rüber wie in meiner Rückerinnerung. Ganz viele Fakten, die wir nie gehört hatten, wir Ahnungslosen, und hier sozusagen aus erster Augenzeugenquelle, die beiden kommen aus Ost-Berlin. Ich fange an, mir was zu notieren, und sie helfen mir auf die Sprünge. Man hilft mir gern. Die Damen sind auch derart beschlagen, zudem enorm mitteilungsfreudig. Und sehr aufgeschlossen, fast freundlich zugewandt. Sie haben Corona-Angst, Test-Angst, Zwangsteste, vor allem, dass die Grenzen bald zu sind, „nein, meine DNA geb ich doch nicht her“. Slowenien war zu, die Tschechei, jetzt Luxembourg. Jetzt Tirol, das macht doch hier im Süden nicht halt! Die jüngere zeigt mir im Smartphone Dokumente der Bundesregierung, Heiko Maas hat das noch mit ausgearbeitet und dann hat man es aus dem Blickfeld verschwinden lassen, denn wir sind alle auf dem Weg in die absolute Gedankenkontrolle. Die wichtigsten Fakten werden schon gelöscht. „Was, das haben Sie nicht mitbekommen?“ Ich staune über das Detailwissen, sage aber probeweise das warnende Wort „Verschwörungstheorie“, ohne es anklagend zu meinen, nur als Versuchsballon, keine beleidigte Reaktion, ja, überhaupt keine, was etwas auffällig ist. Als ob sie das schon kennen. Das Wort Atlantikpakt. Claus Kleber! Ja, da stimme ich zu, – dessen unangenehme Berichterstattung, wie er bebend vor kaum verhaltener Erregung seine Nachrichten übermittelt. Ich sage „Kassandra“. Das mögen sie nicht, vielleicht weil es femininum ist. Oder zu positiv. Ich habe auch Bill Gates gesagt. Nein, sagen sie, Bhakti hat uns die Augen geöffnet, ja mit B-H am Anfang, Virologe, indonesischer Name. Servus-TV am 9. September, kann man bestimmt noch abrufen. Vor allem Thorsten Schulte, „fremdbestimmt“, grundlegendes Buch. Wer hat am Zweiten Weltkrieg verdient? Und jetzt? Alle einschlägigen Fakten im Internet werden automatisch gelöscht. Aber keiner will davon gewusst haben.

Völser Weiher

Faktencheck zuhaus. Jedes Stichwort gibt auf Anhieb die entscheidende Information frei: in allen Punkten sehr umstritten. Es dämmert uns, – lupenreine AfD-Nähe, aber absolut getarnt und abgedichtet. Wir haben nicht erkannt, dass wir darüber doch schon allerhand Berichte gehört haben. Da ging es um die Löschung volksverhetzender Beiträge in Facebook.

Zur speziellen Meinungsbildung:

Wer ist Sucharit Bhakdi: hier. Und in Servus TV (50 Minuten) hier. Atlantikbrücke hier . Thorsten Schulte („Fremdbestimmt“) hier. 2012 Risikoanalyse Pandemie durch Virus 17/12051 hier (Seite 5 und Seite 88)

Netzwerk Durchsetzungsgesetz hier. Oder auch hier (Heiko Maas).

Fazit: Achtung AfD-Nähe Weiteres über die Hintergründe hier bei LANZ.
Neutraler Ausklang

Nicht ohne beachtliches Fegefeuer

*    *    *

Eine Wiederholung (als Übung, aus dieser Thematik rauszukommen): HIER (26.11.2019)

Eine spätere Lehrstunde über Verschwörungstheorien bei LANZ: Hier (erstellt 1.10.2020)

Mensch und Menge

Demokratisches aus der Zeitung

Im wirklichen Leben sieht man zum Beispiel einem kleinen Jungen zu, der immer wieder die von ihm aus Erdreich geformten Klößchen zählt, die Menge imponiert ihm. Eine Urlauberin nachahmend, zählt er laut: … 27, 28, 29, 91, 92, 93, 94 … eine eigenwillige Folge, am Ende hat er sie alle, wohl 136 an der Zahl, mit seiner Schubkarre in Sicherheit gebracht. Gleicht er nicht dem Prometheus, der Menschen aus Lehm formt? Wenig später wandern sie alle den Pfad des Lebens hinauf…

Bitte erraten Sie, zu welchem Thema die folgenden, wie ich meine, allgemeingültigen Sätze möglicherweise passen. (Aber schauen Sie nicht heimlich in die Quellenangabe!)

ZITAT

In Wirklichkeit nützt es in der außerordentlichen Notlage nichts, die Mehrheitsmeinung zu kennen – wie es denn über die Geltung von Normen weder etwas aussagt noch an sie rührt, wenn man sie zum Gegenstand einer demoskopischen Befragung macht. Die Moral der freiheitlichen Gesellschaft ist aus guten Gründen nicht festgelegt und bleibt im Einzelfall konflikthaft, sie ist in manchen Lagen eindeutig, in anderen nur hinter einer Pluralität von Diskursen zu erahnen. Dagegen eine authentische und deswegen verbindliche Posititon zu unterstellen, den wahren Willen der Gesellschaft, simuliert eine Außen- oder Beobachterposition, die es nicht gibt, höchstens auf dem unironischen Theater.

Quelle DIE ZEIT 17. September 2020 Seite 57 / Thomas E. Schmidt: Der Wahr-Sager Was macht den sagenhaften Erfolg des Schriftstellers Ferdinand von Schirach aus?

Es ist also der, bei dessen Bühnenstücken, die mit einer ungelösten Problemstellung enden, schließlich noch eine eine Publikumsbefragung erfolgt. Was ist von einem solchen Ergebnis zu erhalten? Falls ich eine feste Meinung gefasst und kundgetan habe, möchte ich gewiss nicht überstimmt und ins Unrecht gesetzt werden. Oder aber ich bin erleichtert, dass die Meinung, die mir zwangsläufig schien, auch weiterhin in Frage gestellt bleiben darf. Gut, mir war es interessant, etwas Detailliertes über die Technik des Schriftstellers zu erfahren. Dann aber auch wieder das Abrücken von seinem Verfahren:

Augenscheinlich möchte aber der Autor kein Guru werden, so wenig, wie er die exaltierte Inszenierung eines Michel Houellebecq nötig hat. Eine feine Distanz trennt ihn auch von seinen Lesern. Die zürnen über die Leitartikel, er sitzt im Café und feilt an einem Satz. Sie stopfen sich mit Nahrungsergänzungsmitteln voll, er raucht. Ein stolzer und kluger Herr ist das, ein Wiederkehrer aus Zeiten, als das Dichten noch geholfen hat und Kultur etwas galt. Das ist es, was heute den Respekt macht: kein Böhmermann sein, sondern ein Thielemann.

Bleibt das Talmihafte daran. (…)

Wie bitte? Was meint der Kritiker? Vielleicht das, was mir in Talkshows eher als eine etwas tüddelig-suchende Ernsthaftigkeit erschien? Ehrenwert, weil er nicht wie andere Diskutanten aufs verkünderhaft klar Übermittelbare setzte? Nein, wohl nicht. Es geht hier um das Geschriebene, das ich nicht kenne.

Seine Bücher schwächeln, weil sie so heillos unterliterarisch sind. Von Schirach erzählt vom Wahren, aber nicht vom Wahrscheinlichen, will sagen, da bleibt bei aller Detailtreue und Beobachtungslust ein bohrender Mangel an Psychologie, an Lebenskomplexität, die wiederum Fantasie und eine bestimmte Darstellungskraft benötigt, wenn sie zur Wirkung kommen soll.

Stattdessen: hohe Emotionalisierung und Zuspitzung auf die vom Leser freizulegende Botschaft. Literatur macht die Welt noch komplizierter, als sie ohnehin ist, sie spielt mit allerlei Ambivalenzen und zwingt dazu, die auch auszuhalten. Von Schirachs Bücher hingegen streben aus der Mehrdeutigkeit heraus, sie rufen zur Entscheidung auf und wollen auf den Punkt der Klarheit kommen – hinter dem die Wirrnisse der gesellschaftlichen Auseinandersetzung anfangen. Kein Bedürfnis ist zu erkennen, aus dieser hochkulturellen Simulation die Luft zu lassen.

Ich bin heilfroh dergleichen zu lesen und bin so frei, es auf die Kunst überhaupt zu beziehen. Ich brauche eigentlich die abschließenden Sätze nicht mehr, um aktiviert zu bleiben. Oder doch diese noch:

Ferdinand von Schirach ist jene intellektuelle Autorität, die sich ein übrig gebliebenes deutsches Bildungsbürgertum aufgerichtet hat, das an der medialen Wirklichkeitsdarstellung und am selbstzufriedenen  Kulturbetrieb müde wird. Jenseits dessen liegt das goldene Wort, das theatralische Nach- und Tiefdenken. Ob die Müdigkeit zu Recht besteht, gut oder schlecht ist, wird keine Abstimmung entscheiden. (…)

Der Zeitpunkt zu fragen: wer ist Thomas E. Schmidt? Ein Philosoph und Journalist (da das manchmal auch zusammengeht), siehe hier, seine Thesen zum Theater (1995 !) interessierten mich, daher noch dieser Link: Corona und Theater (Michael Isenberg 2020) hier.

*    *    *

Ein anderer Artikel hat sich in der Nachwirkung bei mir an den oben zitierten angeschlossen, und ich bin gespannt, ob sich am Ende ein sinnvoller Zusammenhang ergibt. Eine Folge hat sich bereits ergeben, der zitierte Aufsatz von Jürgen Habermas, von dem insinuiert wird, man brauche den Text nur „hervorzuholen“, ist bereits via Buchhandlung Jahn auf dem Weg zu mir nach Hause, eingeschlossen übrigens in ein Buch von Charles Taylor: „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung „.

ZITAT

Moderne Verfassungen, heißt es in einem Aufsatz von Jürgen Habermas, verdankten sich „der vernunftrechtlichen Idee, dass sich Bürger aus eigenem Entschluss zu einer Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen zusammenschließen.“ Doch so populär, wie diese Idee nach wie vor ist, so groß scheint gegenwärtig auch das Ungenügen zu sein, das sie seit geraumer Zeit auslöst. Dieses Ungenügen ist offenbar nicht darauf zurückzuführen, dass manche Bürger, wie in früheren Tagen, eine grundsätzlich andere gesellschaftliche Ordnung im Sinn hätten. Vielmehr wollen sie in anderer Weise an der bestehenden Ordnung teilhaben, als es bisher der Fall ist.

Den jeweiligen „Aktoren“ gehe es darum, eine prinzipiell verbürgte „Ebenbürtigkeit ihrer Kulturen“ einzuklagen, meint Habermas. Deshalb träten sie nicht als „individuelle Rechtspersonen“, sondern als Kollektive auf. Zu ihnen gehörten die Frauen, ethnische oder kulturelle Minderheiten, die Hinterbliebenen des Kolonialismus. Man könnte die immer vielfältiger werdenden Minderheiten der sexuellen Orientierung hinzufügen sowie zuletzt, zumindest dem eigenen Selbstverständnis nach, nicht wenige Ostdeutsche. Die Liste der potentiellen Kollektive ist unendlich, und so weit auseinander ihre Anliegen im Einzelnen liegen mögen, so sehr ist ihnen doch ein Motiv gemeinsam: die Überzeugung, dass jene angebliche „Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen“ tatsächlich in Täter und Opfer auseinanderfällt. Zwischen ihnen soll kein Argument vermitteln können.

Jürgen Habermas gab seinem Aufsatz 2009 den Titel „Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat“. Es lohnt sich, den Text hervorzuholen, weil sich an ihm einige der zentralen Veränderungen festmachen lassen, die seitdem nicht nur die deutsche Gesellschaft bewegen. Denn was sind „Anerkennungskämpfe“? Auseinandersetzungen um formale Gleichheit, möchte man annehmen. Mit dem Erwerb von Anerkennung, also etwas stets Abstraktem, mag dabei die Hoffnung verbunden sein, auch mit der faktischen Benachteiligung oder gar der gewaltsamen Zurücksetzung möge es irgendwann ein Ende nehmen. Ob dieses Ende dann tatsächlich eintritt, ist allerdings nicht gewiss. Zu Recht weist Jürgen Habermas darauf hin, dass eine nur „teilweise durchgesetzte formale Gleichstellung“ die tatsächliche Benachteiligung um so deutlicher hervortreten lasse. Belege finden sich überall, etwa in der Geschichte der Frauenbewegung.

Gewiss hingegen ist, dass mit dem Verlangen nach Anerkennung die Instanz bestätigt wird, die „vernunftrechtliche Ideen“ in geltendes Recht überträgt, also der Staat.

Quelle Süddeutsche Zeitung 23. September 2020 Seite 9 / Thomas Steinfeld: Vom Ende der Dialoge / Die Protestbewegungen der Gegenwart wollen gleichzeitig Widerstand und herrschende Macht sein, Kläger und Richter. Dabei entstehen Widersprüche, die jede Debatte unmöglich machen

ZITAT aus dem Vorwort des Buches von Taylor, in dem sich der zitierte Essay von Habermas befindet:

Analog dazu hat man in bezug auf die Schwarzen behauptet, die weiße Gesellschaft habe ihnen über viele Generationen hinweg ein erniedrigendes Bild ihrer selbst zurückgespiegelt, ein Bild, das sich manche von ihnen zu eigen gemacht haben. Die Verachtung des eigenen Selbst sei schließlich zu einem der mächtigsten Werkzeuge ihrer Unterdrückung geworden. Die erste Aufgabe bestehe also darin, sich dieser aufgezwungenen, destruktiven Identität zu entledigen. In jüngster Zeit hat man diese These auf autochthone und kolonisierte Völker ausgeweitet. Die Europäer hätten seit 1492 ein Bild auf diese Völker projiziert, das sie als minderwertig und »unzivilisiert« erscheinen lasse, und als Eroberer hätten die Europäer den Unterworfenen dieses Bild oft genug aufgezwungen. In der Gestalt Calibans hat man eine Verkörperung dieses von Verachtung für die Ureinwohner der Neuen Welt erfüllten Porträts erkannt. So gesehen, zeugt Nicht-Anerkennung oder Verkennung des anderen nicht bloß von einem Mangel an gebührendem Respekt. Sie kann auch schmerzhafte Wunden hinterlassen, sie kann ihren Opfern einen lähmenden Selbsthaß aufbürden. An-erkennung ist nicht bloß ein Ausdruck von Höflichkeit, den wir den Menschen schuldig sind. Das Verlangen nach Anerkennung ist vielmehr ein menschliches Grundbedürfnis.

Überrascht es uns, dass bei solchen Abhandlungen Merksätze herauskommen, die heute jeder glaubt aus dem Stegreif formulieren zu können? Das will man nicht hören.

Gerade mit den Leuten, die sagen: „das wird man doch noch sagen dürfen!“, so heißt es, soll man den Dialog suchen. (Aber wenn sie einen schon vorher niederschreien? Soll man lieber etwas sagen oder ebenso schreien und die Leute dann darüber abstimmen lassen?)

Oben bei Thomas E. Schmidt war ja sogar von „einer Pluralität von Diskursen“ die Rede. Die „Leute“ aber wollen nichts von Dialog hören, erst recht nichts von einer Pluralität (außer der eigenen), und deshalb ist es wichtig zu wissen, was eigentlich passiert ist. Und davon handelt Steinfelds Artikel, wie der Titel schon sagt, allerdings nur „Vom Ende der Dialoge“.

Ein Faktum würde ich allerdings undiskutiert lassen: es gehört nicht zur beklagenswerten Einschränkung unserer Freiheit, dass bestimmte verbale Injurien unter Strafe stehen, von unflätigen Beleidigungen bis zur Volksverhetzung, von Diffamierung bis Holocaustleugnung. Damit wird ein Dialog von vornherein ausgeschlossen, genauso, wie man einen ernsthaften Kontaktversuch normalerweise nicht durch einen Messerstich ausdrückt. Allerdings erinnere ich mich, dass geistig zurückgebliebene Jugendliche versuchen, durch rüpelhaftes Benehmen auf sich aufmerksam zu machen. „Sie geben nur Zeichen“. Aber muss ich mich dann eilends zum geschickten Erzieher berufen fühlen? Vielleicht gibt’s dann nur was „auf die Schnauze“. (Nach dem schon sprichwörtlichen „Kuckstu“.) In jedem Fall interessieren mich sorgfältige Analysen des Sachverhalts:

ZITAT

Zumindest ein Teil der gesellschaftlichen Konflikte, die man vor gut zehn Jahren vielleicht unter der Rubrik „Anerkennungskämpfe“ hätte erfassen können, scheint mittlerweise einen anderen Charakter angenommen zu haben- Wenn Demonstranten, die Opfer einer von Staats wegen betriebenen Verschwörung gegen die eigene Bevölkerung zu sein wähnen, mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ die Stufen des Reichstagsgebäudes erklimmen, ist damit kein Verlangen nach Anerkennung verbunden. Sie bitten nicht um Berücksichtigung. Vielmehr geht es ihnen um eine Art Hegemonie. Die Demonstranten inszenieren sich selbst als Souverän, daher die Aggressivität, die Frakturschrift und die Flagge einer untergegangenen Nation, so absurd die Darbietung auch sein mag.

(…) [es folgt hier die Darstellung der geheuchelten Dialogbereitschaft von oben, die es eben auch gibt]

Die Kündigung der „vernunftrechtlichen Idee“ von der „Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen“ mag sich, neben anderem, aus der Enttäuschung speisen, die aus dem notwendigen Scheitern der Dialoge hervorging. Anstatt nun aber im Dialog eine Technik zu erkennen, mit der es sich auf scheinbar milde Weise herrschen lässt, sehen sich die Opferkollektive um den Ertrag ihrer Anstrengungen betrogen. In der Folge stellen sie zwar Ansprüche an den Staat, wollen sich aber weder von der Exekutive noch von der Jurisdiktion etwas sagen lassen. Stattdessen wollen sie als Partei und Souverän zugleich auftreten, als Kläger und Richter, als Widerstand und herrschende Macht (…). (…) Man klagt das Recht ein, ist aber im Grunde stets bereit, sich darüber hinwegzusetzen.

Das beste Beispiel für einen solchen, ebenso offensichtlichen wie nicht zur Kenntnis genommenen inneren Widerspruch ist die nun schon seit Jahren zirkulierende Formel vom „Gesinnungskorridor“, in dem nach Ansicht nationalkonservativer Intellektueller geregelt wird, was in einer demokratischen Öffentlichkeit gesagt werden darf und was nicht. Sie erweckt den Anschein, bestimmte Ansichten unterlägen einer inoffiziellen Zensur. Der Selbstwiderspruch, dass die öffentliche Rede von Redeverboten ebenfalls eine Rede ist (mit dem Unterschied, dass man dabei nicht über Außersprachliches redet, sondern über das Reden selbst), kann dieser Vorstellung nichts anhaben: Denn längst hat die Suche nach Schuldigen das Suchen nach Gründen ersetzt (das ist nicht nur unter Opferkollektiven so, sondern fast überall), weshalb sich Fakten in Interessen und Diskussionen in Tribunale verwandeln. (…)

Gemeinsam ist den Opferkollektiven, dass aus ihnen ein verletztes Bewusstsein von Gerechtigkeit spricht. Dieses Bewusstsein ist mit dem Rechtsbewusstsein nicht zu verwechseln. Denn das Recht ist kodifiziert. Es soll einander widersprechende Interessen abgleichen. Aus der Perspektive des Opfers kann deswegen kein Recht gesprochen werden, weil sie nicht auf den Ausgleich, sondern auf die Durchsetzung zielt, in den vorhandenen Strukturen. Deswegen fallen die Urteile so hart aus. Deshalb will aber auch keine dieser Initiativen mit der gesellschaftlichen Ordnung brechen. Alles soll so sein, wie es war und ist, nur ganz anders und zum eigenen Vorteil.

So endet der Artikel von Thomas Steinfeld „Vom Ende der Dialoge“ in der Süddeutschen Zeitung; leider ist er dort nur hinter einer Bezahlschranke abzurufen, nämlich hier.

Für mich ging es so nicht ganz befriedigend aus, weil nicht weiter in Betracht gezogen wird, dass die Opferkollektive durchaus eine Veränderung der vorhandenen Strukturen erwarten, einen Aufstand oder einen sukzessiven Machtzuwachs aller irgendwie Unzufriedenen. Warum soll man damit rechnen, dass wirklich keine dieser Initiativen mit der gesellschaftlichen Ordnung brechen wird. Sie könnten sich sogar allesamt unter der Fahne eines Populisten versammeln, sofern nur dessen Formeln die internen Differenzen der partikularen Kollektive verdecken.

Wie erwähnt: zuhaus werde ich den Originaltext von Habermas vorfinden und ernsthaft zurate ziehen, der übrigens – wenn ich recht sehe – nicht aus dem Jahr 2009 stammt, sondern schon 1993 mitsamt dem Taylor-Buch bei S.Fischer veröffentlicht worden ist.

Fotos: E.Reichow

Nachbemerkung Solingen 5. Oktober 2020

In der Tat, das Taylor-Buch ist jetzt in meiner Hand, und ich habe größere Lust, es zu lesen, statt der Frage des Erscheinungsjahres mit oder ohne den Habermas-Essay zu recherchieren. Da stimmt jedenfalls etwas nicht: dass es 1983 erstmals auf deutsch erschienen sein soll, während die amerikanische Originalausgabe bei Princeton University Press 1992 veröffentlicht worden sein soll. Keines der zitierten Werke, die in den Anmerkungen zu Taylor oder Habermas aufgeführt sind, ist später als 1993 entstanden. In wissenschaftlichen Publikationen sehe ich folgende Quellenangabe:  C. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas. Hg.: Amy Gutman. Frankfurt a. M. 1997. (Wahrscheinlich handelt es sich um die gebundene Ausgabe vor dem 2009 veröffentlichten Suhrkamp Taschenbuch.)

Hier ist die Titelseite mit den entsprechenden Angaben:

Weiteres zu diesem Buch s.a. hier und hier

Tiere und Todesarten

Was ich gerade wie vor 55 Jahren gelesen habe

ZITAT

Um halb vier Uhr des Morgens war es schon ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen. Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den einer dämmrigen erhabenen Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden. Überhaupt gab es viel Abwechslung.

(…)

Unter einem Strauch am anderen Bachufer brannte ein Feuer, das man über das neue Ereignis vergessen hatte, während es bis dahin sehr wichtig gewesen war; als einziger Zuseher stand daneben jetzt nur noch eine junge Birke. An dieser Birke war mit einem in der Luft hängenden Bein noch das schwarze Schwein gebunden; das Feuer, die Birke und das Schwein sind jetzt allein. Dieses Schwein hatte schon geschrien, als es ein einzelner bloß am Strick führte und ihm gut zusprach, doch weiter zu kommen. Dann schrie es lauter, als es zwei andre Männer erfreut auf sich zurennen sah. Erbärmlich, als es bei den Ohren gepackt und ohne Federlesens vorwärtsgezerrt wurde. Es stemmte sich mit den vier Beinen dagegen, aber der Schmerz in den Ohren zog es in kurzen Sprüngen vorwärts. Am anderen Ende der Brücke hatte schon einer nach der Hacke gegriffen und schlug es mit der Schneide gegen die Stirn. Von diesem Augenblick an ging alles viel mehr in Ruhe. Beide Vorderbeine brachen gleichzeitig ein, und das Schweinchen schrie erst wieder, als ihm das Messer schon in der Kehle stak; das war ein gellendes, zuckendes Trompeten, aber es sank gleich zu einem Röcheln zusammen, das nur noch wie ein pathetisches Schnarchen war. Das alles bemerkte Homo zum ersten Mal in seinem Leben.

Wenn es Abend geworden war, kamen alle im kleinen Pfarrhof zusammen, wo sie ein Zimmer als Kasino gemietet hatten. (…)

Eine Stunde nach Beginn lag in dem Pfarrzimmer eine Wolke von Traurigkeit und Tanz. Das Grammophon räderte hindurch wie ein vergoldeter Blechkasten über eine weiche, von wundervollen Sternen besäte Wiese. Sie sprachen nichts mehr miteinander, sondern sie sprachen. Was hätten sie sich sagen sollen, ein Privatgelehrter, ein Unternehmer, ein ehemaliger Strafanstaltsinspektor, ein Bergingenieur, ein pensionierter Major? Sie sprachen in Zeichen – mochten das trotzdem auch Worte sein: des Unbehagens, des relativen Behagens, der Sehnsucht – , eine Tiersprache.

(…)

Da wurde es sogar still, und der Major ließ Tosca spielen und sagte, während das Grammophon zum Loslegen ausholte, melancholisch: „Ich habe einmal die Geraldine Farrar heiraten wollen.“ Dann kam ihre Stimme aus dem Trichter in das Zimmer und stieg in einen Lift, diese von den betrunkenen Männern angestaunte Frauenstimme, und schon fuhr der Lift mit ihr wie rasend in die Höhe, kam an kein Ziel, senkte sich wieder, federte in der Luft. Ihre Röcke blähten sich vor Bewegung, dieses Auf und Nieder, dieses eine Weile lang angepreßt Stilliegen an einem Ton, und wieder sich Heben und Sinken, und bei alldem dieses Verströmen, und immer doch noch von einer neuen Zuckung Gefaßtwerden, und wieder Ausströmen: war Wollust. Homo fühlte, es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr unterscheiden kann – ah, es war gar nicht mehr Wollust, es war Abenteuersucht -, nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem Himmel niederfahrendes Messer, ein Würgeengel, Engelswahnsinn, der Krieg? Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhingen, war vor ihm eine Fliege heruntergefallen und lag vergiftet am Rücken, mitten in einer jener Lachen, zu denen in den kaum merklichen Falten des Wachstuchs das Licht der Petroleumlampen zusammenfloß; sie waren so vorfrühlingstraurig, als ob nach Regen ein starker Wind gefegt hätte. Die Fliege machte ein paar immer schwächer werdende Anstrengungen, um sich aufzurichten, und eine zweite Fliege, die am Tischtuch äste, lief von Zeit zu Zeit hin, um sich zu überzeugen, wie es stünde. Auch Homo sah ihr genau zu, denn die Fliegen waren hier eine große Plage. Als aber der Tod kam, faltete die Sterbende ihre sechs Beinchen ganz spitz zusammen und hielt sie so in die Höhe, dann starb sie in ihrem blassen Lichtfleck am Wachstuch wie in einem Friedhof von Stille, der nicht in Zentimetermaßen und nicht für Ohren, aber doch vorhanden war. Jemand erzählte gerade: „Das soll einer einmal wirklich ausgerechnet haben, daß das ganze Haus Rothschild nicht so viel Geld habe, um eine Fahrkarte dritter Klasse bis zum Mond zu bezahlen.“ Homo sagte leise vor sich hin: „Töten, und doch Gott spüren, und doch töten?“ und er schnellte mit dem Zeigefinger dem ihm gegenübersitzemden Major die Fliege gerade ins Gesicht, was wieder einen Zwischenfall ergab, der bis zum nächsten Abend vorhielt.

Quelle Robert Musil: Grigia / aus: Drei Frauen / rororo Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1952 (1964) Zitat Seite 19ff

Fotos: JR

Viele der Bilder und Szenen habe ich nie vergessen, – die Fliege, die am Tischtuch äste – , das Buch hatte ich damals intensiv (mit Kugelschreiber) gelesen, auch die Auswahl am Ende und das Nachwort von Adolf Frisé. Dass man Rindern ein „Antlitz“ zuspricht! Kühe „wie Violinschlüssel“ kannte ich schon aus Deschners „Kunst, Kitsch und Konvention“ (1965), die Musil-Lektüre überhaupt war für einige Jahre maßgeblich. Was ich nicht kannte: die Stimme der Sängerin Geraldine Farrar, – und was ich bis heute nicht entschlüsselt habe: „Malgen“. Anlass der Re-Lektüre: die neue Reise nach Südtirol (Völs). Musils Schauplatz war das Fersen[a]tal mit den alten venezianischen Goldbergwerken, die wieder erschlossen werden sollten. Er kannte sich dort aus, zumal er im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront stationiert war. Dort will ich mich nicht auskennen. Musils wunderbare Erzählung „Die Amsel“ habe ich in den 80er Jahren ausführlich in eine WDR-Sendung einbezogen. Wie die Amsel sang, – was für eine Beschreibung! -, und wie sie sagte: „Ich bin deine Mutter.“ Oh, das passte in dieses Jahr der Abschiede.

Doch zurück zu Musils Kriegserfahrung, die sich auch in der „Amsel“-Erzählung niedergeschlagen hat (Stichwort Fliegerpfeil). Man weiß kaum etwas über diese Zeit des Wahnsinns in dieser herrlichen Landschaft. In der Vorhalle derPfarrkirche Völs gibt es eine seltsame Ehrung der Kriegstoten:

von Ignaz Stolz (1921) – man lese auch die Lebensläufe seiner Brüder und den Wikipedia-Artikel über den Gebirgskrieg 1915-1918 hier. Man ist kuriert.

Das Foto des rororo-Covers darf so dunkel bleiben wie meine Erinnerung an die eigene frühe Zeit. Mir fehlte zum Beispiel noch jede Orienterfahrung… Und das Tor zur Gegenwart. An meinem gemaserten Holztisch, dort oben links neben dem Balkon, hinter dem kleinen Fenster.

Solissimo

Ein Versuch mit Bachs Adagio in C-dur

Thomas Zehetmair oder Hilary Hahn? Es ist nicht zu fassen, wie schön sie spielt, – ohne etwas zu „machen“, es spielt sich einfach von selbst. Was wird sie tun in diesem letzten Takt der Faksimile-Abbildung, wenn zum ersten Mal die Zweiunddreißigstel auftauchen, und dieser verminderte Akkord? Schlägt hier der Blitz ein, wie einst bei Zehetmair?

Ich dachte an ein mächtiges Glockengeläut, an die Sanctus-Rufe der H-moll-Messe, und auch an die dräuende Wellenbewegung der Streicher zu Beginn der Johannes-Passion, obwohl das ja in Moll steht und die Oboen dazu wahrlich zum Himmel schreien. Aber hier hört man auch nichts von strahlendem C-dur, hier türmen sich die Wolken stufenweise empor, majestätisch zweifellos, und im vierten Takt kommt mit großem Klagegestus das Leiden ins Spiel, (übrigens sehr nahe dem Takt 13 im Grave der Sonata II), – wie schön ist das alles, wenn eine Solissimo-Geige, klein wie sie ist, daraus nichts Weltbewegendes macht. Es erschüttert ohne jeden Kraftaufwand.

Wir haben in der Notenwiedergabe nur eine erste Formsuggestion geben wollen. (Achtung: in Takt 22 fehlen die von Bach sehr deutlich geschriebenen b-Vorzeichen vor den Sechzehnteln!)

 Die Welt gerät ins Schwingen

 Der Mittelpunkt G entfalt seine Kraft

 Trugschluss, Coda & Überleitung

Ist das ein Ansatz? Ich vermute, die Begeisterung, die Sympathie für eine bestimmte Interpretation bringt nichts Maßgebliches. Mich interessiert das Werk, nicht eine individuelle Interpretation. Der Anlass, verschiedene Interpretationen zu vergleichen, hätte erst recht kein Ranking zum Ziel. Allerdings begann die Herausforderung mit der neuen CD von Thomas Zehetmair. Ich hatte sie im Ohr, als ich eben behauptete, Hilary Hahn macht nichts, obwohl viel geschieht: pp zu Beginn, ein sehr feines Vibrato, und ein  gelinder dynamischer Zuwachs bis Takt 5, in Takt 6 wieder zum Level 1, und diese neue Zeile in Zweitaktgruppen gegliedert, nach dem Muster der Takte 4 und 5, Konzentration auf die G-Kadenz in Takt 11, deren letzter Ton schon subito p, der Sprung „von oben“ in den „Cis“-Takt 11 sehr sanft, ein mahnender Einschub mit sehr sorgfältig bogenförmig gestalteter Kadenzwendung über den Taktstrich 13/14 hinweg. Takt 15 als Neubeginn, dynamisch an Takt 1 anknüpfend. Der Ton G hat eine besondere Bedeutung (abgesehen von seiner natürlichen Dominantfunktion), behaupte ich jedenfalls in aller Un-Vorsicht, – es ist der Ton des Heiligen Geistes: das dem Pfingst-Choral „Komm, heiliger Geist“ nachgestaltete Fugenthema beginnt mit diesem Ton (meidet den Grundton), und der letzte Takt der Fuge hebt ihn besonders hervor mit der Gestalt des Akkordes C-E-c-g : die leere Quinte darf im Raum weiterschweben. Einzigartig!

Zurück zum Adagio: Was hat es mit dem Einwurf des Taktes 12 auf sich? Es ist zweifellos die Figur einer Interruptio, – der Abschluss der Kadenz wird verweigert, stattdessen erfolgt eine Interjektion, ein Weheruf. Bach hat ihn in einer Kantate folgendermaßen realisiert:

 Kantate BWV 102

An anderer Stelle ist von „Erd und Abgrund“ die Rede (Motette „Jesu meine Freude“):

Es war dieser Takt 12 in Thomas Zehetmairs C-dur-Adagio, der mich einst elektrisierte. Unerhört! Und völlig einleuchtend. Das war 1982. Schon vorher hatte mich Gidon Kremers Bach-Interpretation von der exemplarischen Aufnahme Szeryngs gelöst. Hier aber kam einer, der die Affekte der Bachschen Musiksprache mit Vitalität, ja mit einer gewissen Wildheit umsetzte, an dieser Stelle mit einem subito forte, das man allenfalls nur dem Bach-Sohn Emanuel zugetraut hätte… aber hinter dieser Interpretation des 20jährigen Geigers aus Salzburg, so hatte ich gelesen, stand niemand anders als Nikolaus Harnoncourt, sein Mentor in Wien. In der neuen Aufnahme – nach 38 Jahren – hat ihm der einfache emotionale Gestus nicht genügt, er nimmt den Ton b stark und den Ton cis noch stärker, und anderes wieder anders, ich würde sagen: mich stört nicht die Heftigkeit, sondern der häufige Absturz ins Unhörbare. Er hat sich offenbar bei allem etwas gedacht , und er zeigt es: die Kunst der unterschiedlichen Akkordbrechungen, die im weichen Arpeggio vorgenommene zarte Aufreihung der Einzeltöne, oder die erstaunliche Kompaktkonsonanz des Dreifachklanges, ohne ihn zu quetschen. Ab Takt 23 könnte man Akkord für Akkord analysieren und jeder ist anders, jeder ein bogentechnisches Wunder. Er zeigt uns darüberhinaus, dass bei zwei aneinandergebundenen, gleichlangen Tönen der erste als starker Ton, der angehängte aber wie eine unbetonte Silbe nachfolgt, in Ordnung, allerdings übertreibt er auch hier: oft hört man den Ton überhaupt nicht mehr, gewiss, wir ergänzen ihn intuitiv, entbehren ihn aber nichtsdestoweniger. Und – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die Zeile, die mit Takt 30 beginnt, lässt eine schönklingende Sexte mit den Tönen a und fis hören, das angehängte Sechzehntel a aber geht vollständig verloren (es fehlt uns!), und dann veranlasst die Bordunwirkung der leeren G-Saite über 10 einzelne Viertel hinweg den Künstler offenbar, hier nun wieder jeden Einzelakkord für sich zu betonen, – ich will angesichts seiner Leistung nicht von mir reden, aber ich würde auf den Genuss seiner Klangtrophäen inklusive Darmsaiten-Qualität lieber verzichten. Ja, denke ich endlich, ich habe alles gut verstanden, und da wartet dann schließlich noch der Leuchtturm am Ende des Teils B, der diesseitig starke G-dur-Akkord Takt 34 auf Zählzeit 1. Und zum Ausgleich beginnt Teil C  mit einem Nichts von Halteton wie aus dem Jenseits. Nein, ich brauche eigentlich doch Töne, keine Phantome.

Letztlich muss ich inzwischen meine vorläufige Gliederung des Adagios korrigieren, denn die dritte Zeile des ersten Teils wird ja wieder aufgegriffen: der Kadenztakt 11 entspricht dem Kadenztakt 39, dem Einwurf von Takt 12 entsprechen die drei Takte 40, 41 und 42, und die Takte 43-44 sind eine Abwandlung der Takte 13-14.

Das heißt: wir haben eine kleine Reprise, die unauffällig wie ein Abgesang in Takt 34 beginnt und (von Zehetmair wieder vorsorglich markiert) die Stelle von „Erd und Abgrund“ (Takt 40) auf drei Takte dehnt, die Abschluss-Kadenztakte in die Tiefe legt (Takt 43/44). Sodann folgen noch drei Takte modulatorische Überleitung, – das Tor zur Fuge.

*    *    *

Sollte ich beschreiben, wie Christian Tetzlaff diesen Satz spielt, würde ich vielleicht sehr verkürzt sagen „so ähnlich wie Hilary Hahn“, den Takt „Erd und Abgrund“ nimmt er fast zärtlich (obwohl er ganz sicher die frühe Aufnahme von Zehetmair kennt). Auch er hat die Bachschen Solissimo-Werke zweimal aufgenommen, und er tut es in der frühen Aufnahme (Virgin 1994) ebenso wie in der jüngeren (Hänssler 2005). Vielleicht würde ich seine Akkordtechnik untersuchen, er verwendet als einziger so ausgiebig die Rückwärtsbrechung, sehr geschickt aber doch auffällig etwa ab Takt 22. Heute versteht man nicht mehr, warum Georg Kulenkampff (allerdings nur auf die Fugen bezogen) das Rückarpeggieren prinzipiell monierte, weil es den Fugenimpuls störe und „die Darstellung mit einer nicht von innen, sondern nur von außen kommenden Unruhe“ erfülle. Das war 1952 („Geigerische Betrachtungen“ Seite 55) , und seit damals hat die auf Bachs Werke bezogene Violintechnik unglaubliche Fortschritte gemacht. So kann gerade diese Arpeggio-Technik bei Tetzlaff als weiche Verzierung gelten und die nach der Kadenz in Takt 13 erstmalig auftauchenden Terzparallelen in Takt 22 gebührend ausstatten. Während z.B. die wunderbar geigende Isabelle Faust auf das Ausspielen der ersten Terz in Takt 22 und 23 verzichtet, um das obere Quart- bzw. Quintintervall in Ruhe auszukosten. Wenn ich micht nicht irre, entschließt siensich in diesem Satz nur ein einziges Mal zu einem Arpeggio in Gegenrichtung, und zwar in Takt 41 bzw. sie nimmt die beiden oberen Töne des Akkords vorweg und konzentriert sich danach allein auf den Basston A, von dem aus die folgende Sechzehntelgirlande weiterführt.

Übrigens nimmt sie den „Erd und Abgrund“-Takt deutlich im Ansatz stärker, um dann erst nachzugeben zugunsten der gedämpften G-moll-Kadenz. (Bemerkenswert, dass sie vorher die Achtel der Sextparallelen in Takt 11 „zu schnell“ spielt, vielleicht als Vorahnung, dass diese Kadenz noch zu keinem guten Ausgang kommt.)

Ich kritisiere die Meistergeigerin nicht: wenn man die ganze Sonata BWV 1005 mit Isabelle Faust hört, kann man nur staunen, was für ein gewaltiges Werk, was für ein Wunderbau das ist, und dass alles stimmt: von der Majestät des ersten Satzes bis zur atemberaubenden Geschwindigkeit des letzten. Es gibt kein Problem, und man ist glücklich, dass Bach solche Werke für die Geige geschaffen hat (und nicht – oder nur  ganz andere – für die Orgel). Es gibt nichts Größeres, nicht einmal eine zweite Konzertfuge von Bach in dieser Länge!

Nun wird einem die Größe dieses Werkes auch aufgehen, wenn es von einem der technisch versiertesten, zudem temperamentvollsten Geiger, Gil Shaham, realisiert wird; dessen Interpretation (BR Klassik) scheint jedoch vom Zufall gelenkt: das Adagio deutlich zu schnell, dafür mit Riesen-Ritardandi zwischendurch, die Fuge viel zu lustig und dadurch selbst in technischer Hinsicht nicht überzeugend; viele Akkorde wirken ziemlich rabiat, und das braucht der „Heilige Geist“ der Fuge beileibe nicht, wenn man auch sagt, er wehe, wo er will.

*    *    *

Das Adagio der C-dur-Sonata in der Ausgabe von Sol Babitz (1972)

Ich komme auf diese Ausgabe zurück, weil sie das Verständnis der Form unterstützt, indem unsere hypothetischen Sinnabschnitte nun auch auf Zeilenanfänge fallen – und zwar  nicht nur Takt 16, sondern auch Takt 34; darüberhinaus stehen auch die Parallelstellen Takt 11 und Takt 39 am Zeilenanfang, so dass ins Auge fällt, weshalb wir dem dritten Teil (ab Takt 34) Reprisencharakter zugestanden haben. (Wenn auch nicht so offensichtlich wie im Adagio der Sonata I – dort ab Takt 14 – und im Grave der Sonata II – ebenfalls ab Takt 14.)

Nebenbei: es sind Fehler drin, z.B. Takt 10 letzte Sechzehntel sind gleichmäßig, nicht punktiert (zwar ist dort radiert worden, aber ohne eine den Rhythmus betreffende Folgeaktion). Takt 11 letzte Note steht bei Bach als Achtel notiert und sollte auch so gespielt werden, auch wenn es im Paralleltakt 39 anders aussieht; so parallel ist er nun auch wieder nicht.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich an dieser Stelle, dass es die merkwürdige, sehr kunstvolle Clavierfassung BWV 968 des Violin-Adagios gibt, von der man nicht weiß, wer sie angefertigt hat. Für mich ist es sozusagen ein anderes Werk, mit dem ich mich nicht anfreunden mag. Es ist durch Kunst banalisiert. Ich kann aber nicht ausschließen, dass es mich begeistert hätte, wenn es die originale Violinfassung nicht gäbe. Man findet es leicht bei IMSLP (Petrucci), ich zeige nur eine Hälfte und lege sie auf die Seite…

*    *    *

Man könnte es überflüssig finden, wenn ich mich besonders von dem zweiten Teil des Adagios herausgefordert fühle (mit der ungestellten Frage: was ist das geheime Formgesetz, dass diese taktweisen harmonischen Fortschreitungen antreibt?). Ich weiche vorübergehend aus und gebe die klare Übersicht über die Anlage der nachfolgenden Fuge und zwar so, wie sie Hans Vogt in seinem Buch über „Johann Sebastian Bachs Kammermusik“ skizziert hat. Ich würde vielleicht nur eines ändern: nämlich die Teile durchgehend nummerieren, würde auch keinen scheinbar weniger gewichtigen als „Divertimento“ bezeichnen, also von I bis VII (natürlich würde ich nicht vergessen, an die 7 Gnaden des Heiligen Geistes zu erinnern, dies aber als nicht beweisbares Gespinst auf sich beruhen lassen).

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Voraussetzungen, Analysen, Einzelwerke / Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981 / ISBN 3-15-010298-7

Skizze zur Form des Mittelteils

Seitenblick (morgens um 9 Uhr)

Der Schlern im Frühnebel, Blick von Obervöls nach Osten, 20.09.2020

Bach Mittelteil des Adagios BWV 1005, Takt 15 bis 34 („il filo“)

Tagesarbeit mit Bach

Der Schlern am Abend

Man wird es nicht glauben: aber die obige Notation ist ein Ergebnis stundenlangen Nachdenkens und immer neuer Ansätze und Deutungen. Mit dem Stichwort „il filo“ erinnere ich mich an Mozarts Schaffensprozess, der aus dem ersten Entwurf konsequent einen „Faden“ entwickelte, und nur dieser musste dastehen, wenn er ein Werk als „komponiert“ betrachtete (siehe auch hier, gegen Ende). Bach muss keineswegs ähnlich vorgegangen sein, aber mir schien eine solche „Kurzschrift“ hypothetisch sinnvoll, wenn ich ein komplexes oder für mich undurchsichtiges Werk zu erfassen suche. Ich verknappe also den Notentext auf das, was ich als Erinnerungswert unbedingt brauche, um die Intentionen eines Verlaufes zu verstehen. In diesem Fall reagierte ich mit ungläubigem Staunen, als sich immer deutlicher herausschälte, dass der Mittelteil des Adagios sich folgendermaßen in Taktgruppen gliedert: 3 + 4 + 5 + 4 + 3.  So entstand die obige schriftliche Gestalt, die allerdings noch zu verifizieren ist.

Aus den frühen Studien Christoph Bergners zu den Präludien des Wohltemperierten Klaviers habe ich gelernt, wie Bach zuweilen absichtlich den allzu glatten Proportionen ausweicht, sie geradezu im Arbeitsprozess untergräbt durch „Dehnungen“ oder Verkürzungen. Mein erster Versuch galt dann dem Praeludium der Cello-Suite II, dessen Form ich in einem erhellenden Schriftbild darstellen wollte, statt mir mit Worten wie „improvisationsähnlich“ auszuhelfen, siehe hier.

Im Fall des vorliegenden Adagios muss ich „meine“ Gliederung Gruppe für Gruppe begründen können. Ich begann – mit immer neuen Versuchen – herauszuhören, ob eine Phrase, ein Motiv, eine Notenfolge für sich steht oder weiterstrebt, oder ob bereits ein reflexives Abklingen einsetzt. Was in diesem Fall manchmal schwierig zu entscheiden ist, weil der Eindruck eines gleichmäßigen Schwingens dominiert. Das was man als Interpret daraus macht, kann künstlich projiziert sein, z.B. wenn Hilary Hahn in dem Takt 38 – der allerdings hier noch nicht zur Debatte stand – auf der gehaltenen Sexte h/g ein ausgeprägtes Crescendo bringt, das zur C-dur-Kadenz hinzielt, aber doch sehr un-Bachisch wirkt. Dass dieser eine Sextklang länger gehalten wird als jeder andere, hat mit der bedeutungsvollen „Süße“ der ganzen Wendung zu tun, die eben den G-dur-Höhepunkt „im Herzen bewegt“.

Adagio Mittelteil (Takt 15 bis 34) Rh = rhythm. Figur punktiertes Achtel plus Sechzehntel, jeweils 2- bis 3mal hintereinander. B=Bass etc.: tatsächlich ist das Adagio dreistimmig gedacht, trotz der vierstimmigen Akkorde; ganz deutlich in den „Soli“ Takt 40-42.

3 Takte ab T.12 Bassgang pro Takt G – A – A / Rh taktweise aufwärts von Bass zu Mittelstimme  u Sopran /

4 Takte ab T.18 Bassgang pro Takt A – H – C – B  (erweitert) / taktweise von B zu S zu M zu S, Akkorde in M u S sukzessive verschärft, Dom.sept.akk. in Richtung F-dur

5 Takte ab T. 22 Terzenmotiv F-dur, echtes Motiv über zwei Takte, zugleich Modell für die nächsten zwei Takte d-moll, 1 Zusatztakt Dom.sept.akk. in Richtung C-dur

4 Takte ab T. 27 Sextenmotiv C-dur (mit Neigung F) , Motiv über drei Takte + 1 Takt Dom.sept.akk. in Richtung G-dur

3 Takte ab T. 31 Orgelpunkt G 10mal G-dur (mit Neigung C)  + eine melodische Aufwärtsbewegung bis G-dur-„Abschluss“ (wird im letzten Teil exzeptionell fortgesetzt, Takt 38)

Adagio Letzter Teil (Takt 34 bis 44 erstes Achtel)

Niemand unter allen Interpret/innen spielt nach dem großen G-dur-Akkord – der geigerisch das Einfachste ist, was man als Akkord anbieten kann – weiter, als sei nichts geschehen. Und was kommt – ist auch nur eine Sequenz, eine Sequenz des rhythmischen Motivs, das wir nun -zigmal gehört haben, immerhin zum erstenmal unter einem Dach von zarten Haltetönen, g – f – e / → a, und mündend in eine überirdisch schöne, abgewandelte Form, eine Geste, die nach Deutung verlangt: der höchste Ton des Stückes wird erreicht, der nur ein einziges Mal vorkam, und zwar in Takt 9 innerhalb einer Figur des Leidens, der Seufzer-Figur, die dort in einer Steigerung von Takt 5 über Takt 7 zum dritten Mal vortragen wurde. Hier in Takt 37/38 wird die erlösende Antwort gegeben.

Völs 22.09.2020 um 4:30 h

Es ist mir aufgegangen, dass ein entscheidender Punkt die Verwandlung des Rhythmus ist: aus dem „normal“ punktierten wird in Takt 37 ein „lombardischer“, und zwar demonstrativ: vor dem Sechzehntel-a steht eine Sechzehntelpause und macht aus dem rhythmischen Glied, das auf Zählzeit 1 in dem Takt vielleicht noch jambisch gedacht ist, ein lombardisches. Daher auch die unerhörte Wirkung der (von Hilary Hahn instinktiv mit einem Crescendo versehenen)  „langen“ 1 am Anfang des Taktes 38; sie ergibt mit dem nachfolgenden Achtel (a-moll-Akkord) einen verdoppelten Trochäus, kombiniert gar (auf Zählzeit 3)  mit einem „falschen“ Iambus, besser gesagt: dem lombardischen. Unvergessen ist die rhythmische Verwandlung der Zweiergruppen von Takt 4 zu Takt 5. Ich denke an die Rekapitulation dieses Taktes aus dem Grave der Sonata II, und ich denke an den herrischen Rhythmus der Allemande in Partita I.

Eben war ich aufgewacht (nach vielen vergeblichen Suchaktionen gestern Abend) mit dem Gedanken an ein bestimmtes Bachsches Praeludium, das ich aber nicht ganz aus dem Gedächtis rekapitulieren kann. Was mir jederzeit präsent ist, ist die überirdische Wendung vom Ces-dur-Trugschluss über as-moll zum Sextakkord in Es-dur (mit dem G im Bass). Morgen früh werde ich es über IMSLP aufrufen (im Gedenken an Paul Badura-Skoda, der es in Bach-Interpretation [1990] so intensiv analysiert hat), fotografieren und hier einsetzen:

(es war ein Erinnerungsfehler! WTK I BWV 853 es-moll)

EXKURS

Also Fehlanzeige, was die gesuchte melodische Wendung angeht (C-dur-Adagio Takt 37 zu 38). Um so erstaunlicher für mich, dass wieder – wie dort – der gespreizte Septakkord F-e-a eine Schlüsselfunktion spielt: so hier im es-moll-Praeludium als Ergebnis der Dominant-„Auflösung“ in den Trugschluss (T.28 in 29), Ces-(es)-b-es, und so auch in dem g-moll-Adagio BWV 1001: Takt 3, wo man allerdings die seit bald 300 Jahren übliche Korrektur des dritten „Bass“-Tones in der Bach-Handschrift von E zu Es akzeptieren muss, – worüber ich im Blog schon allerhand Worte verloren habe, seit durch Isabelle Faust die buchstäbliche Lesart mit E wieder Schule gemacht hat.

Übrigens ist es nicht abwegig, diese Schlüsselwendungen zu vergleichen, da – abgesehen von Dur und Moll – wieder der geigerische Grundakkord (leere G- u D-Saite plus 1. Finger auf A-, 2. Finger auf E-Saite) den Ausgangspunkt des Tonsatzes abgibt. In (dorischem) G-moll mit dem Bass-Gang G-F-Es-[D], in G-dur mit den modulierenden Sequenzen E-D-Cis-A / D-C-H-G / C-B-A-G / F – – – E – D – – C.

Zurück zur motivischen Gestalt der Adagio-Takte 26/27 der Sonata C-dur!

Wir gehen also aus von dem eben so genannten „gespreizten Septakkord“, sehen den vom Trochäus zum Jambus umgewandelten Rhythmus, die Sextparallelen und den Sprung vom hohen C (+e) abwärts zum G (+h), welche Tonbuchstaben ich nicht als „heiliger Geist“ lesen möchte, weil die Musiwissenschaft kein Ratespiel ist. Obwohl ich mich frage, ob es letzlich etwas anderes ist, wenn ich in Bachs Werk nach einem ähnlichen, jedoch mit Text verbundenen Motiv suche, das – freundlich (aktiv) von oben nach unten gewandt – glaubwürdiger mit einer veränderten Bedeutung belastet werden kann, die ich freilich in diesem Motiv längst fühle. Und es korrespondiert mit dem Klagemotiv, das wir in Takt 7 als Ziel der scheinbar in sich selbst pendelnden Trochäen erlebt haben…

Im Augenblick geht mir ein einziges Motiv nicht aus dem Kopf, das aus einer Oper (?) von Campra stammt; allerdings springt es nach dem Dreitonanstieg a-h-c zum E hinab. Spitzenwendung später „l’amour, l’amour“. Eindeutig a-moll. (Es muss „Europe galante“ sein, ich denke an unsere Aufnahme mit René Jacobs… nein, siehe Link). – „Zufall“. Was tun? Der Nachweis einer Figur wie der Pathopoeia würde gar nichts bringen. Jeder Komponist kann ein bisschen mit vorgefertigter Chromatik hantieren. Aber erst die Konstellation der Elemente bringt die Wirkung genialer Kunst hervor. Zum Beispiel in der ersten Zeile des Adagios wirkt der Seufzer-Takt erst dadurch großartig, weil ausgerechnet er das prächtig anwachsende Bimbam krönt und die Kraft der gleichmäßigen Bewegung ins Tragische überführt. Und die hier behandelte Lösung der Ereignisse in Takt 38 wirkt dadurch erlösend und ergreifend, weil andere großartige Lösungen schon vorher angeboten wurden, z.B. die mit Terzen (Takt 22) und die mit Sexten (Takt 27).

(Fortsetzung sollte folgen)

Nachtrag am 8. März 2021 Hören und staunen!

Resonanz

Erste Annäherung

Der Text klingt auf den ersten Blick vielleicht kompliziert, andererseits aber gilt es ja gerade die falsche Abkürzung zu vermeiden und nicht zu sagen: mir geht es ums bloße (voraussetzungslose) Hören. Denn das ist keine Tugend. Damit landet man ganz schnell bei leerer Meditationsmusik.

ZITAT

Gewöhnlich knüpfen kultur- und sozialwissenschaftliche Resonanzkonzepte in direkter oder metaphorischer Redeweise an musikalische Vorstellungen an, in denen ein extrem performativ ausgerichteter Musikbegriff zum Tragen kommt und Musik nicht als Gegenstand – weder als abstrakter noch als singulärer – begriffen wird, sondern eine „reine Beziehung“ sein soll; nicht entscheidbar, ob innen oder außen befindlich, im Raum oder im Hörer angesiedelt, vielmehr beides gleichermaßen. Kunst wird als Erfahrung gedacht, die mit dem Ausdruck „Resonanz“ gebündelt werden soll. Resonanz sei eine Erfahrung, die affektiv nicht neutral sei, sondern ein mehr oder minder intensives Erleben beinhalte. Musik als Medium konkreter Inhalte, als Medium definierten Sinns hingegen wird verneint. Definierter Sinn, der immer der Objektivierung bedarf, und Resonanz werden auseinandergehalten. Musik vermittelt demnach keine Inhalte, sie vermittelt leiblich und emotional Grundstimmungen.5 Das Erleben steht im Vordergrund, die Rolle kognitiver Vermittlung für das Erleben wird umgangen. Musik sei das Medium, „das Modi, Transformationern und Intensitäten der Weltbeziehungen unmittelbar, das heißt ohne kognitive Projektion oder Vermittlung, zum Ausdruck zu bringen vermag“6, schreibt Hartmut Rosa. Ein wenig differenzierter sieht dies Christian Grüny. In der Musik erlebte Resonanz hängt für ihn auch von der Vertrautheit mit bestimmten, je nach Musik verschiedenen Regeln ab, etwa denen der Tonalität, der Harmonik etc. Wer nicht über derlei Regeln verfüge, nicht an sie gewöhnt sei, dem mangele es unter Umständen an der Resonanzfähigkeit für die ihnen entsprechende Musik. Gleichwohl konstatiert auch er für die Resonanz ein „Überwiegen des pathischen Moments, von einem primären Bewegtwerden, das deutlich über einen bloßen Anstoß hinausgeht“.7 Von denselben oder zumindest sehr eng verwandten Vorstellungen von Musik geht Sören Kierkegaard bei der metaphorischen Bestimmung des musikalisch Dämonischen aus, freilich mit ganz anderem Resultat.

Quelle Boris Voigt: Metapherntanz auf dem Brocken / Musik & Ästhetik Klett-Cotta Stuttgart Juli 2020 (Seite 38f, in den Anmerkungen 5-7 auffindbare Quellenangaben folgen als Scan, dabei interessiert insbesondere: Christian Grüny: Die Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014)

In diesem Moment kann ich rückkoppeln und mich zugleich hindern, bei einem früheren Ansatz stehenzubleiben: siehe „Wann ist Musik?“ hier. Christian Grüny hat auch Susanne K. Langers großes Werk „Fühlen und Form“ übersetzt und mit einer großen Einleitung versehen. In seinem Werk „Kunst des Übergangs“ widmet er das dritte Kapitel dem Phänomen „Resonanz“ und bezieht sich darin ausführlich auf Ernst Kurth und Viktor Zuckerkandl. Zugleich wird ein kritischer Neuansatz unumgänglich.

Der Aufsatz von Boris Voigt wirkt in diesem Zusammenhang noch willkommener, weil er eine Verbindung zur „Ästhetik des Hässlichen“ nahelegt, die mich in den letzten Tagen aufs neue ernsthaft beschäftigt hat. Um diese Verbindung plausibel zu machen, zitiere ich auch den weiteren Text, der sich dem Negativen zuwendet:

Interessanter noch als die begrifflich problematische Konstitution der Resonanzkonzepte ist ein anderer Umstand. Trotz ihrer weiten Ausdehnung finden in sie bestimmte Phänomene keinen Eingang, die aber erheblich näher an dem sind, was mit dem Ausdruck „Resonanz“ möglicherweise gemeint sein könnte, als viele der von den Verfassern von Resonanzkonzepten betrachteten Gegenstände. Das wären etwa Phänomene wie Jagd, Kampf, Krieg oder Progrom, manche Spielarten des Betrugs wären ebenfalls einzubeziehen. Letztere deshalb, da einige Formen von Betrug erst durch hohe Empathie mit dem Betrugsopfer möglich werden. Die destruktive Seite dessen, worauf der Ausdruck „Resonanz“ angewandt wird, erfährt eine nahezu systematische Ausblendung, abgesehen von dem Zugeständnis, Resonanz sei auch Macht- und Herrschaftsverhältnissen einbezogen.8 Grüny ist insofern eine Ausnahme, als er eingehend den Einsatz von Musik als Folterinstrument erörtert, den er ausdrücklich als „Resonanzfolter“ bezeichnet.9

Quelle Boris Voigt: Metapherntanz auf dem Brocken a.a.O.

Notizen zum späteren Gebrauch

Spiegel! …. Noch eine Rückkopplung: hier !

Musik-Folter Grüny Seite 117 Link nicht auffindbar – aber Text hier

Eminem  „Real Slim Shady“ / David Gray „Babylon“

In der Tat spielt nun auch in dem (innerhalb desselben Heftes Musik & Ästhetik) vorhergehenden Artikel von Pfleiderer und Rosa, der die Resonanz zum Thema hat, das Hässliche – oder sagen wir: das weniger Schöne – eine Rolle, etwa in Schuberts „Leiermann“. Zugegeben: ich habe es nie im Leben so, wie andere Lieder der „Winterreise“ – etwa „Das Wirtshaus“ – separat aufgerufen, um es zu genießen. Ich fand es bedeutend, aber nicht „schön“, nur trostlos. ABER… (es lässt sich gut didaktisch „behandeln“, und zwar auch von Leuten, die sich nicht besonders für Schuberts Schönheit interessieren).

Eben eingetroffen:

 1853 Digitalisat des Originals hier / Man behalte im Sinn, dass wir uns hier in der Zeit befinden, in der Baudelaire seine „Fleurs du Mal“ („Blumen des Bösen“) veröffentlichte.

  

Die Systematik vermittelt bereits eine leise Ahnung, wie konservativ und sittenstreng der Hegelschüler mit den hässlichen Dingen verfahren wird. Die folgenden Seiten zeigen, wie er ein glänzend loses Mundwerk wie das des Dichters Heinrich Heine (gest.1856) unter dem Stichwort „Das Rohe“ abstraft:

Quelle Karl Rosenkranz: „Ästhetik des Häßlichen“ Reclam Universalbibliothek Nr. 19298 Stuttgart 1990, 2015

Lesenswertes Nachwort von Dieter Kliche: Pathologie des Schönen – Die „Ästhetik des Häßlichen“ von Karl Rosenkranz ab Seite 458, auch hier fällt schließlich der Name Baudelaire, der den Umschwung der Ästhetik bezeichnet.

[Rosenkranz] versteht das Häßliche, das „Negativ-Schöne“, als einen Teil der Ästhetik, auf gleiche Weise ihr zugehörig wie zur Biologie die Krankheit, zur Ethik das Böse, zur Rechtswissenschaft das Unrecht und zur Religionswissenschaft die Sünde. (…)

Die lange und sorgsam gehegte ästhetische Werteeinheit des Wahren, Guten und Schönen steckte tief in der Krise, und der späte Heinrich Heine sah mit dem Heraufkommen des Proletariats und von dem drohenden „Gespenst des Kommunismus“ die Schönheit überhaupt in ihrem Bestand bedroht.

Über solche und ähnliche Gründe für die Emanzipation des Häßlichen gegenüber dem Schönen spricht Rosenkranz kaum. Allenfalls im Subtext (…)

[endet mit den Sätzen S. 481f:]

Dem Aufklärer und Hegelianer Karl Rosenkranz lag natürlich daran, diese Zweifel an der Vernünftigkeit der Welt zu entkräften, aber die bohrenden Fragen blieben. Damit wurde es aber auch zweifelhaft, ob das Schöne noch die Macht sein konnte, „welche die Empörung des Häßlichen seiner Herrschaft wieder unterwirft“. Mit dieser neuen, schärferen Negativität des Häßlichen wurde ein neuer Zyklus seiner Geschichte eröffnet, der jenseits von Rosenkranz‘ „Ästhetik des Häßlichen“ beginnt und in Charles Baudelaire seinen ersten poetischen Protagonisten hat. Die „Blumen des Bösen“ von 1857 sind eine neue und neuartige Ästhetik des Häßlichen.

*    *    *

Ich hatte nicht geahnt, dass diese neue Lektüre-Saison mich dazu führen würde, diesem Vertreter einer alten Ästhetik doch ein gewisses historisierendes Verständnis abzugewinnen, das den Umschwung zur „Struktur der modernen Lyrik“ dann um so schärfer erfassen lässt. Noch weniger, dass der grundlegende Artikel über „Musik als Resonanzsphäre“, der dem von Boris Voigt vorausgeht, nach einigen Repetitionen eine immer stärkere Aversion auslöst. Es erinnerte mich an die frühe Begegnung mit Joachim E. Berendt. Wahrscheinlich ist es die Klassikferne, die gerade dort zutage tritt, wo sie überwunden scheint, indem das Performative hervorgekehrt wird. Das könnte mich als ausübenden Künstler erfreuen, andererseits ist es so, dass mich das Werk im emphatischen Sinne mehr interessiert als das, was ein beliebiger Rezipient dabei empfindet. Seine Resonanzerfahrung langweilt mich. Die Gründe dafür müsste ich natürlich ausführlicher darstellen, nehme mir daher vor, das Thema im übernächsten Blog-Artikel noch einmal vorzunehmen, um vorher bei den Bachschen Werken BWV 1001-1006 zu verweilen, von denen jedes ein opus perfectum et absolutum verkörpert, und zugleich eine Darstellung verlangt, die nicht statuarisch wirkt, sondern von Leben sprüht. Eine neue Aufnahme, in sensationeller Perfektion, – bietet sie eine neue Resonanzerfahrung? Das Label ECM könnte darauf hoffen lassen.

Quelle Martin Pfleiderer und Hartmut Rosa: Musik als Resonanzsphäre / Musik & Ästhetik 24,3 / 2020, 5-16 Klett-Cotta Stuttgart Juli 2020

Wie ist unsere Lage?

Was der Philosoph dazu (meint) denkt…

(13:50 „Geht’s um meine Meinung oder …“) Externes Fenster hier

Gesamtdauer: 1:41:53 (Empfohlenes Statement: Soviel Zeit muss sein!)

Hat er schon einmal Quatsch geredet? Ja, über eine Zukunft mit selbstfahrenden Autos. (Ab 1:05) vorweggenommen siehe ausführlich ab 48:00

7:35 Esoterik, Verschwörungstheorien, Religion 12:20 Corona-Leugner 13:05 Politik vor der Bundestagswahl SPD z.B. Olaf Scholz: „jene alten Verhältnisse wieder herstellen, von denen wir vor einem Jahr gesagt haben, so gehts nicht weiter (…) mir macht so jemand Angst“ etc 17:30 Die Grünen wollen auch keine großen strukturellen Veränderungen – Grüne in Machtpositionen (Joschka Fischer) 20:00 Verzicht? Nicht fliegen unter 500 km / keine Kreuzfahrten mehr! / Nicht mehr mit SUVs in Innenstädten rumfahren 20:50 Niko Paech (radikal?) Grüne werden abgestraft, die den Ernst der Lage nicht begreifen 23:30 Arbeitslose vs. Klimawandel 24:00 Was die größten Probleme? Reformierbar? Migrationswelle? Limes bauen. 26:00 der Klimawandel spielt keiner Partei so sehr in die Karten wie der AfD, weil er zu sozialen Verwerfungen führt! 26:50 Thüringen Spiel / Spitze der CDU? Laschet etc  29:00 AKK 30:00 Kevin Kühnert SchwarzGrün

45:00 Rassismus 47:00 Soziale Medien „Heute alle wahnsinnig selbstbewusst, aber nur basierend auf Emotionen“ 54:00 Radfahrer —- Weiter siehe unter „Kommentare“, daraus folgende Tabelle:

1:15:55 Der Sinn des Lebens 1:19:25 Was künstliche Intelligenz nicht kann Ray Kurzweil 1:23:10 Formelle Theorie von Spaß Humor Beethoven (?) Karajan 1:23:50 Kreative KI 1:24:38 Ausrottung der Menschheit durch KI 1:28:20 (KI im) Kapitalismus 1:30:00 Monopolzerschlagung 1:31:35 Roboter- und Finanztransaktionssteuer 1:36:00 int. Ächtung von KI-Forschung 1:37:55 ethische „Kipppunkte“ der KI

Bei einem klugen Mann wie Precht ist immer wieder erstaunlich, wie fremd ihm die Musik  oder die Kunst überhaupt ist. Ich hebe das nur hervor, weil er so viel Vernünftiges sagt, dass manch einer ihn vielleicht auch in ästhetischen Fragen für kompetent halten könnte. Vgl. hier , und im vorliegenden Fall bei 1:23:50 : Auf die Frage „Kann Künstliche Intelligenz neugierig sein, oder kreativ?“ kommt die Antwort:

Ehm, kreativ in geregelten Bahnen. Also Künstliche Intelligenz kann sicherlich wie Beethoven komponieren und wie Rembrandt malen. Das kann sie jetzt schon. Man hat auch mal die ganze Eigenheit des Karajanschen Dirigierens – das ist mal so komplett digitalisiert worden, dass man diese Muster jetzt selber variieren kann, und dann könnte Künstliche Intelligenz wie Karajan dirigieren, könnte – man könnte quasi mit dem Computer die Berliner Philharmoniker – sowas kriegt man hin. Ob das jetzt so kreativ ist, das ist ne andere Sache. Das wäre ja so Beltracchi-artig, Wolfgang Beltracchi also, dieser großartige, faszinierend begabte Kunstfälscher, ne? das was -, das könnte Künstliche Intelligenz wahrscheinlich auch. [folgt Unterscheidung zwischen schwacher und starker KI]

Entscheidend ist vielleicht der Satz: „kreativ in geregelten Bahnen“. Die Musik Beethovens verläuft nicht in „geregelten Bahnen“. Er hat sie auf seine Weise „geregelt“. Aber niemand, der Beethoven kennenlernt, sagen wir: zum ersten Mal studiert, und zwar in chronologischer Reihenfolge, kann voraussagen, wie in etwa das nächstfolgende Opus aussehen wird. Selbst wenn man sich auf die 6 Streichquartette op.18 beschränkte und sie in den KI-Computer eingäbe, käme kein 7. zustande, das man für ein Beethovensches halten könnte. Was nicht heißt, dass man selbst musikalische Menschen nicht mit einem solchen Produkt täuschen könnte… (Ich habe mich einmal mit der Frage der Echtheit eines Brahmswerkes – ein wenig verschlüsselt – auseinandergesetzt. Wer Ohren hat zu hören, findet es in folgendem Text hier . Der Goldhelm ist natürlich eine Anspielung auf Rembrandt.) Und was beweist ein Karajan-Imitat? Nichts mehr als die die Möglichkeit, dass man täuschend echte Imitate herstellen kann. Jeder gute Schauspieler kann das. Ein Laie würde staunen, dass die Berliner Philharmoniker die größten Meisterwerke auch ohne Dirigent spielen könnten, und zwar ziemlich gut. Was auch wieder nicht bedeutet, dass der Dirigent überflüssig ist. Die Musik jedoch, die man im Fernsehen bei Landschaftsfilmen hört (z.B. „Deutschland von oben“) könnte vollständig von der K.I. eines Computers hergestellt worden sein (aus klassischen Versatzstückchen), daher ihre Aufdringlichkeit und offenbare Überflüssigkeit.

Nachtrag 30. September 2020

Betrifft die Autofrage (Umweltspur) in Düsseldorf, die Voraussage hat sich erfüllt:

Woran es nun letztlich lag, dass Geisel abgewählt wurde, will die SPD in Ruhe ausloten. Einiges liegt jedoch auf der Hand. Zum einen war da das eine große Thema, das den SPD-Oberbürgermeister quer durch die Stadtgesellschaft Sympathien gekostet hat: die Umweltspur. Das mag teils unfair sein, denn die Geschwindigkeit, mit der er den Verkehrsversuch durchdrückte, war auch dem drohendem Diesel-Fahrverbot geschuldet. Doch verdorben hat er es sich dennoch mit Wirtschaftsverbänden wie mit Unternehmen und vielen Bürgern, die sich aufs Auto angewiesen und durch die Umweltspur massiv gegängelt fühlten.

Quelle: RPonline28.09.2020 (Nicole Lange)

Betrifft das selbstfahrende Auto (siehe oben Precht ab 48:00), – die Presse weiß noch nicht, wie es heute, 30.September 2020 in der Süddeutschen scheint, Seite 1, „Daten-Autobahn“ von Thomas Fromm:

Was Beethovens virtuelle 10. Sinfonie in Bonn angeht, bleibe ich auf der Spur. Zwischenergebnis: katastrophal.

Nachtrag 12.10.2020

Musik & Ästhetik Oktober 2020 Seite 5 Anmerkung 4 Claus-Steffen Mahnkopf: Beethoven und das Projekt der musikalischen Freiheit.

„Auf den Unsinn, eine Zehnte mittels einer sogenannten Künstlichen Intelligenz kreieren zu wollen, gehe ich nicht ein.“

Nachtrag 18. Oktober 2020

Neue Nachrichten von der Telekom: die Uraufführung der Zehnten von Beethoven findet auf längere Sicht nun doch nicht statt. Wegen Corona………..

Bericht siehe in der NMZ Neue Musikzeitung HIER

Beim Sponsor Telekom selbst HIER

 Screenshot

 Screenshot

Man höre die Beispiele, beachte auch nach Gebühr die Experten. Sogar ein echter  Komponist ist dabei, Walter Werzowa, s.a. hier, er hat 1988 einen Dancefloor-Welt-Hit gelandet. Er versteht also etwas von Erfolg. Wie der heute noch berühmte Beethoven.

Subreption

Was ist „Natur“?

Ich schließe an den vorigen Blog-Artikel an, nur um diesen Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren. Es geht um die Resonanztheorie Hartmut Rosas und vor allem um Kierkegaard, sowie an dieser Stelle auf den im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff der Subreption, eine „fehlerhafte Erschleichung, Unterschiebung oder Verwechslung, in der etwas für etwas anderes ausgegeben wird, als es ist“ (Boris Voigt).

Eine weitere Subreption findet sich im Umgang der Romantiker mit der Natur, die ihnen ebenfalls Projektionsfläche des eigenen Inneren ist, ohne dass eine wirkliche Begegnung mit ihr gesucht werden würde. Die äußere Natur ist lediglich Gegenstand der Naturbeherrschung. Das gilt auch für die Musik. Wilhelm Heinrich Wackenroder beispielsweise betrachtet sie nach ihrer Außenseite hin als lebloses, aufs Funktionieren ausgerichtetes Maschinenwerk. Nur nach der Innenseite hin entfaltet die Maschine geheimnisvolle sympathetische Beziehungen. Dieselben Schwierigkeiten begegnen in der Verbindung von Musik und Sozialem. Das Gemeinschaftsideal in der Romantik beruht auf völliger Übereinstimmung des eigenen Inneren mit dem Inneren der anderen. Die soziale Welt gerät zur Projektionsfläche der eigenen Subjektivität. Fügt sie sich nicht dem eigenen Inneren, werden die anderen Menschen zur Belastung. In Wackenroders Erzählung Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger ruft die titelgebende Figur aus: „Ein dreifaches Unglück für die Musik, daß bei dieser Kunst grade so eine Menge Hände nötig sind, damit das Werk nur existiert! Ich sammle und erhebe meine ganze Seele, um ein großes Werk zu Stande zu bringen: – und hundert empfindungslose und leere Köpfe reden mit ein [ … ].“

Letztlich unterliegen weniger die Romantiker selbst in ihrem Denken der Subreption als vielmehr etliche ihrer heutigen Interpreten, etwa wenn der Romantik ein Gegensatz zum instrumentellen Denken unterstellt wird oder die Romantik als ein Streben nach Überwindung der Trennung „vom großen Lebensstrom der Natur“ interpretiert wird oder von einer „Rückführung zur Verbindung mit der Natur“ die Rede ist. Eine solche Romantikinterpretation liegt auch Rosas Resonanzinterpretation zugrunde. Allerdings erkennt er in aller Schärfe das Dilemma, in den die Moderne als historischer Sonderfall prinzipiell verstrickt ist, deren epistemischer Horizont sich nämlich dadurch auszeichnet, dass er „strikt zwischen einer beseelten Kultur und einer stummen Natur unterscheidet“.

Quelle Boris Voigt: Metapherntanz auf dem Brocken / Musik&Ästhetik Klett-Cotta Stuttgart Juli 2020 (Seite 54f im Orig. mit Quellenangaben Charles Taylor, Rosa, Chr.Utz )

Private Nachbemerkung

Kierkegaard: jetzt erst nehme ich ihn ernst, dabei habe ich ihn doch früh entdeckt (im Anschluss an Nietzsche), fand die Themen gut (Mozart „Don Giovanni“), aber die Darstellung langatmig bis langweilig. Mich störte vor allem die komplizierte Christlichkeit. Woran sich nichts änderte, auch als ich den Erstdruck der Dissertation (?) von Adorno besaß. Ich verstand sie nicht, während ich für alles andere von ihm, inclusive Radiovorträge, die ich von der Tonbandaufnahme abschrieb, viel Mühe aufwandte. In den 60er Jahren könnte ich anhand der Anschaffung von Taschenbücher die allmähliche Politisierung verfolgen. Empörung über den Vietnamkrieg. Obwohl ich heute dank Internet an einem Tag mehr z.B. über den wahren Rudi Dutschke erfahren kann als damals in Wochen und Monaten. Ich las ja nicht mal täglich Zeitung. Machte aber die Wendung von Adorno zu Herbert Marcuse mit. Heute in der ZEIT mit 10 Minuten Lektüre dreier vielzeiliger Seiten „Cohn-Bendit“ , – auch ein ganzes Leben. (Er gehört für mich „erinnerungstechnisch“ in die Nähe von Walter Mossmann, der später sogar in unsrer WDR-Matinee auftrat, was mir – nun irgendwie dem establishment zugehörig – schlaflose Nächte verursachte.)

All dies zu erwähnen hat natürlich mit dem Thema dieses Artikels nur noch wenig zu tun, kommt mir aber bei der Resonanztheorie unweigerlich in den Sinn. Wie auch das „Abdriften“ nach Indien, das mich quasi nebenbei prägte, bei mir allerdings aus vielen Gründen nicht zu Pilgerfahrten führte, wie sie in der studentischen Jugend damals Mode wurden (ich war kein Hermann-Hesse-Leser). Jedenfalls steht dies im Hintergrund, wenn ich mich weiter mit dem Resonanzdenken beschäftige. Auch als notwendiges Umwegprogramm.

Und jetzt nur Mut! Und Zeit! Auf Seite 21 zitiert er aus der

„Ästhetik des Häßlichen“ des von ihm [Kierkegaard] hoch geschätzten Rosenkranz, die zehn Jahre nach „Entweder/oder“ erschien…

Mehr darüber in der merkwürdigen Quelle hier. Und neuerdings auch hier.

Die Ästhetik des Hässlichen

Bei der Lektüre erinnert

Man vergisst das nie, wie treffend Robert Gernhardt den Reim ausgebaut hat, der sich seit seiner Entdeckung kaum noch vom Wort „hässlich“ lösen will.

Dich will ich loben: Häßliches,
du hast so was Verläßliches.
Das Schöne schwindet, scheidet, flieht –
fast tut es weh, wenn man es sieht.
Wer Schönes anschaut, spürt die Zeit,
und Zeit meint stets: Bald ist‘s soweit.
Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer.
Das Häßliche erfreut durch Dauer.

Vielleicht hat ihn das Gedicht von August von Platen in ambivalente Stimmung versetzt: es will einen traurig-schön stimmen, und verströmt doch einen Hauch des Misslungenen. Und da verspricht die Komik Heilung. Jeder kennt den Anfang, und dann lässt die Wirkung nach; das beginnt schon in der ersten Strophe mit dem übertriebenen Reimwort „beben“, dann aufgrund linkischer Zeilen wie „zu genügen solchem Triebe“ oder „den Tod aus jeder Blume riechen“, vor allem aber wegen des reimbedingten Ersatzwortes „versiechen“ für „versiegen“.

Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!

Es beginnt schon mit der unnötigen Hervorhebung, dass ich etwas mit Augen angeschaut haben soll, obwohl ich zugebe, dass ich eine schöne Sache auch imaginieren könnte, ohne sie real vor Augen zu haben, so dass erst die Realität des Anblicks eine solch todesnahe Erschütterung auslösen würde. Durchaus plausibel. Aber ich muss mich zwingen, der wirklich greifbaren Herausforderung nachzugehen, die mir bei der Lektüre der Schrift „Nachahmung der Natur“ von Hans Blumenberg kam. Ich wollte einen passenden Gedanken aus der französischen Literatur dingfest machen, der sich kürzlich bei dem Wort „poète maudit“ einstellte (siehe hier gegen Ende beim Rapper Fler). Doch zunächst Hans Blumenberg:

Das 19. Jahrhundert hat die Faktizitätscharaktere der Natur entscheidend verschärft. Was als Natur vor uns steht, ist das Resultat ungerichteter mechanischer Prozesse, der Kondensation wirbelnder Urmaterie, des Wechselspiels zufällig streuender Mutationen mit dem brutalen Faktum des Kampfes ums Dasein. Dieses Resultat mag alles sein – nur ästhetischer Gegenstand wird es nicht sein können. Wie könnte der Zufall die überraschende Evidenz des Schönen hervorbringen? So lässt sich das bis dahin Undenkbare verstehen, dass die Natur hässlich wird, wie es FRANZ MARC berichtet: „Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir in jedem Jahr mehr hässliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst plötzlich die Hässlichkeit der Natur, ihre Unreinheit  voll zum Bewusstsein kam.“ Den ontologischen Hintergrund genauer angesprochen hat der französische Maler RAOUL DUFY, als er auf den Vorwurf, er mache zu kurzen Prozess mit der Natur, erwiderte: „Die Natur, mein Herr, ist eine Hypothese […].“ Im ästhetischen Naturerlebnis drängt sich nun bereits der Vorbehalt der unendlich vielen möglichen Welten auf, denn wir können seit Descartes naturwissenschaftlich nicht mehr mit Gewissheit sagen, welche dieser Möglichkeiten in der Natur verwirklicht ist, sondern nur, mit welcher dieser Möglichkeiten wir funktional zurechtkommen. Diese Natur hat nichts mehr gemein mit dem Naturbegriff der Antike, auf den sich die Mimesis-Idee bezieht: das selbst nicht herstellbare Urbild alles Herstellbaren. Dagegen ist Herstellbarkeit aller Phänomene die universelle Antizipation der experimentellen Naturforschung, und Hypothesen sind Entwürfe von Anweisungen für die Herstellung von Phänomenen. Die Natur ist folgerichtig zum Inbegriff möglicher Produkte der Technik geworden. Der Rest an exemplarischer Verbindlichkeit ist damit aus der Natur ausgetrieben. Für den Techniker konnte die Natur mehr und mehr zum bloßen Substrat werden, dessen gegebene Konstitution der Verwirklichung konstruktiver Zwecke eher im Wege steht als sie fördert. Nur durch die Reduzierung der Natur auf ihren nackten Material- und Energiewert wird eine Sphäre reiner Konstruktion und Synthese möglich. So ergibt sich der auf den ersten Blick paradoxe Sachverhalt, dass in einem Zeitalter höchster Geltung der Wissenschaft von der Natur zugleich deren Gegenstand in seinem Seinsrang für den Menschen nivelliert worden ist.

Quelle Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur / Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen / Reclam Stuttgart 2020 / Seite 50f [im Original sind die Quellen der Zitate angegeben]

Geschrieben hat Blumenberg diese „Studie“ im Jahre 1957, ein paar Jahre später hätte sie gut in meinen Literatur-Kanon gepasst, aber verstanden hätte ich sie wohl nicht. Den rde-Band „Struktur der modernen Lyrik“ habe ich vor 1960 durchgearbeitet, später vermischt mit Eindrücken aus dem ZEN-Buddhismus à la Alan Watts (1961). Hier sind ein paar Seiten der Erinnerung:

 .    .    .    .    . .    .    .    .    .

Quelle Hugo Friedrich: Die Struktur der Modernen Lyrik / Von Baudelaire bis zur Gegenwart / rde Rowohlt Hamburg 1956

Seltsamerweise gab es im Bücherschrank meiner Eltern ein einziges dazu passendes schmales Buch, das vielleicht als Geschenk gedient hat, aber von wem an wen? Vielleicht von meiner Mutter an den nüchternen Altsprachler Artur, seine besitzanzeigende Unterschrift, aber vielleicht war ich der erste, der es gelesen hat, mit entsprechenden Unterstreichungen.

Charles Baudelaire: Kleine Gedichte in Prosa / Neu übertragen und mit einem Nachwort versehen von Dieter Bassermann / Hermann Hübener Verlag Berlin und Buxtehude 1947

 „Gewoge des Träumens“

 Den Burg, Texel, vor zwei Wochen (Foto ER)

Ansonsten zwei frühe Geschenke (wohl von H. M., der schon in Paris studierte): 19.11.1959 Arthur Rimbaud „Poésies“ Paris 1958 / 6.12.1959 Paul Verlaine „Poèmes Saturniens“ & „Premiers Vers“ Paris 1958. Im Rimbaud ein zwischen zwei leere Seiten eingeklebter, kryptischer  Brief, den ich seit damals nicht mehr gesehen habe. Schwer zu entziffern, weil derart verblichen. Aber warum so verborgen? Eine seltsame archäologische Tätigkeit, die auf mich wartet, heute, nach fast 61 Jahren. Psychoanalytischer, oder jedenfalls autobiographischer Stoff eines wenig älteren Freundes. – – – Nein, ich bin froh, dass es sein Brief ist und nicht mein vorausgegangener, den ich wiederlesen sollte. Der klänge mir – wie auch in anderen Fällen schon – mit großer Wahrscheinlichkeit erschreckend naiv. Thema Gottfried Benn, Hugo Friedrich, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé …

 

Seite 2 und Seite 3. Auf Seite 1 beginnt er mit Benn, nicht ahnend, dass ich aufgrund seiner Anregungen längst die Statischen Gedichte aus dem Arche-Verlag erstanden habe.

 

Der Schrift nach zu urteilen stammen die hineingeschriebenen Ansätze einer Interpretation aus späteren Jahren:

Es war eine Zeit unter psychischem Hochdruck (mein Vater starb am 31.8.1959, auch ein emotionales „Engagement“ war flagrant), die Gedichte von Georg Trakl und insbesondere Gottfried Benn waren ein gedanklicher Anker. Siehe auch den Blogartikel „Radio Dezember 1959“ hier. Es ging ja auch – nebenbei – auf mein Abitur zu. Ich nahm die Sportprüfung ernst, lange Waldläufe, ebenso heftige geigerische Übephasen, auch Klavier bei Kunze in Detmold, alles mit Blick auf die Aufnahmeprüfung in Berlin.

   

Die Seite 1 von 6. Und mein damaliges Lieblingsgedicht von Paul Verlaine. So herzzerreißend klagt man über den Verlust der Jugend, wenn sie noch nicht ganz verloren ist.

Seltsam, ich hatte diesen Blogbeitrag mit ganz anderer Intention begonnen… die Erinnerungen haben mich überrannt.