Archiv für den Monat: November 2019

Neues von Rainer Prüss

Schöne Aussichten

Es passt nicht ganz zusammen, aber das ist keine Schuld des Urhebers, sondern die meines Blog-Systems. Außerdem möchte ich nicht vergessen machen, dass die Bilder, von denen natürlich jedes ein Großes und Ganzes ist, den Heften aus Papier entnommen sind; man muss und darf darin blättern, man hat sie nicht in den Digitalfingern, sondern in den Händen, die auch beim Handwerk real mitwirken, wie bei der Handhabung der Musikinstrumente. Es ist zum Staunen!

 

 

Auf dem Computerbildschirm setzen sie sich halt nebeneinander und ergänzen sich, im Handy folgen sie nacheinander und geben ästhetisch sonderbar zu denken, mir gefällt das auch. Noch schöner, wenn das Heft aufgeklappt den Nachttisch schmückt und zur beschaulichen letzthinnigen Betrachtung einlädt.

Für alle Bilder und Texte gilt ©Rainer Pruess, wie schon vor zwei Jahren, ein herzlicher Dank für die Erlaubnis, dies wiederzugeben und gebührend darauf aufmerksam zu machen. Siehe also auch hier. Mich interessiert noch ganz besonders ein Denkzettel über die großen brückenschlagenden  Festivals, mit denen wir ja seit den 90er Jahren (Rudolstadt) oder sogar seit Mitte der 70er Jahre verbunden sind (WDR Folk- oder Weltmusik-Festival) in Köln, Bonn, Aachen und eben ein einziges Mal – zur Begrüßung nach der Wende – in Rudolstadt.

 

Es sind nicht nur Brücken. Zuweilen darüberhinaus auch Denkmäler des Eigensinns und der Selbstherrlichkeit. Unversehens auch nützliche Instrumente zur Relativierung der Brückenwärter.

Schumann im Schatten üben!

Streichquartett op.41,2 Zweite Geige

Was heißt „im Schatten“? – dem Schicksal der zweiten Geige ins Auge schauen, also: meist im Schatten des Geschehens, trotzdem das Ein-Üben, die Sicherheit als weltbewegend betrachten.

Neuer Ansatz, nebenbei als Rekapitulation: dies und das.

II. Andante, quasi Variazioni .=69 (5:49) III. Scherzo. Presto .=76 – Trio. L’istesso tempo (13:02)

Die folgende Zweite-Geige-Stimme erscheint im wiedergegebenen Andante bei 7:08. In der vorigen Probe ging alles „passabel“, aber doch zuweilen mit dem Gefühl zu schwimmen. Der Spieler muss absolut im Bilde sein, genau wissen, welchen Punkt er beiträgt; ohne Eifer, beim Üben nahezu vibratofrei, einfach nur sauber und genau, schlackenfrei, nirgendwo im Ton gepresst. Intonation erste Zeile wie H-dur, mit Ohren für den Zusammenklang. Unhörbarer Bogenwechsel wenn eine durchgehende Bindung eingezeichnet ist. Den Geist aufgeben. Espressivo nicht so wörtlich nehmen, nur die cresc./dim.-Nadeln präzise wiedergeben. Nicht über die Aufnahme meckern; es muss auch passen, wenn dir was nicht passt. Sf heißt nicht Druck, sondern punktueller schneller Bogenverbrauch.

Das Scherzo lebt vom Rhythmus, den es nach Bedarf unterläuft oder ausrichtet. Mentale Übung vorausschicken mit künstlichen Akzenten, damit die vorgetäuschten sich nicht äußerlich durchsetzen, man muss sich ihrer ganz sicher sein, um sie dann ignorieren zu können. Einfacher gesagt: die andere Stimme hören! (Nicht missdeuten!) Man könnte (als Zuhörer) bedauern, dass nach der Übung das Vexierspiel verlorengeht, aber es ist nicht so schade drum, eine Spur bleibt, und es stehen ja extra keine (falschen) Akzente bei Schumann, der schwebende Eindruck genügt, ab Takt 5 fängt er uns sowieso ein: durch die kleinteilige Phrasierung und die Folge der Achtelsetzung in den Unterstimmen. Es ist übrigens ein Problem nur im Presto-Tempo, nicht beim Langsamüben. Im Eifer des Gefechts kann auch die 1. Geige den Beginn der gehaltenen Begleittöne auf Zählzeit 6 für den Taktanfang halten und sich fälschlich anpassen. Aber das gilt wirklich nur für die erste Übephase… Ohne Tempo = halbes Vergnügen.

1.Violine hören:

Scherzo (Partitur-Ausschnitt)

Ich übe mit einem Metronom, das nur noch schnelle Vierergruppen schlagen kann, was mir durchaus willkommen ist. Mit Viertel = 40 beginnend,  das heißt: die 6 Achtel eines Taktes werden als 2 mal 3 Achtel verteilt auf 4 Schläge; es muss einem nur geläufig sein, wie eine Triole auf 2 Schläge passt. Und so funktioniert dann auch der Übergang vom Scherzo-Hauptteil zum Trio perfekt durchgezählt: die 4 Unterteilungen des Sechsachtel-Taktes ergeben nun die 4 Achtel des Zweiviertel-Taktes. Auch wenn ich es nicht mehr nötig habe, in diesem – hoffentlich – recht schnellen Tempo („Presto“ am Anfang, „L’istesso tempo“ im Trio) lässt sich das atemlose Nachschlagen noch gut üben mit den gedachten Silben (nicht lachen!) „um-ta um-ta um-ta …“ das „ta“ bin ich, falls ich nicht in Sechzehnteln daherflitze, und irgendwann geht die 2. Geige für einen Moment mit der herrlichen Cello-Phrase in Oktaven, ach, niemand weiß, wie gut mir das tut.

  3. Zeile, zweites sforzato!

(Fortsetzung folgt, Probe am 3.12. ab 10.30 in Refrath, 14.00 h zuhaus, – es ist nicht zu fassen: alles was mir Sorgen machte, ist gelungen, auf einem neuen Niveau. Als sei ich  zu meinem Nutzen vorübergehend Kind geworden. Das muss ich genauer analysieren; aber genau in diesem Moment erlischt ja das Bedürfnis, den Vorgang zu analysieren. Später könnte ich behaupten, es habe mir im Blut gelegen.)

Im indischen Ozean der Musik

Musikwissenschaft vor 800 Jahren 

Vom Sangit Ratnakar des Sarangadeva (1175–1247)

JR: Der folgende Text stammt aus der Druckvorlage für ein Buch, das der Autor und Indien-Spezialist Peter Pannke im Jahre 2006 unter dem folgenden Titel veröffentlicht hat: „Sänger müssen zweimal sterben / Eine Reise ins unerhörte Indien“ Piper Verlag München 2006. Das dort etwas kürzere Kapitel findet man auf den Seiten 35-37. Hier also die ursprüngliche (ungekürzte) Fassung mit freundlicher Erlaubnis des Autors.

*     *     *

(Folgt: Originaltext von ©Peter Pannke)

Ich bog von einer der langen Alleen ab auf das Gelände des Music College, dessen runder Bau einen offenen Innenhof umschließt. Aus den Übungsräumen, deren Türen auf den Hof mündeten, drangen metallische Anschläge auf den Saiten einer Sitar und vielstimmige Rezitationen von Tablasilben. Mein Blick fiel auf ein Bild Saraswatis, der vierhändigen Göttin der Musik und der Gelehrsamkeit, das über der Eingangstür hing. In der ersten ihrer vier Hände liegt eine Vina, mit der zweiten greift sie in die Saiten, die beiden anderen Hände halten ein Buch und eine Mala. „Siehst du die beiden Kürbisse?“ fragte mich ein Student, als er sah, daß ich das Bild aufmerksam betrachtete. Er deutete auf die beiden Klangkörper des Instruments. „Damit hält sie sich im Ozean der Klänge über Wasser, sonst würde sie untergehen!“

Neugierig gesellte ich mich zu der kleinen Gruppe von Studentinnen und Studenten, die die Klasse von Premlata Sharma ansteuerten, der Dekanin der Musikabteilung, die musikwissenschaftliche Texte las. Die Lektüre fand in einem anderen Gebäude statt; vielleicht störte sie das Getöse, das aus den Übungsräumen drang. Sie wurde „Behenji“ genannt, mit der respektvollen Anrede für „Schwester“; ich wußte nicht, daß sie eine der profundesten Kennerinnen indischer musikwissenschaftlicher Texte war. Premlata Sharma hatte nicht geheiratet, sie war Schülerin des großen Omkarnath Thakur gewesen, des Sängers, der das Music College gegründet hatte. Manchmal lud sie uns in ihr kleines Haus auf dem Campus ein, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter lebte. Vor der Tür grasten Kühe; wenn sie aus dem College nach Hause kam, begnügte sie sich mit dem Leben einer indischen Hausfrau.

Der Text, in den wir uns in den nächsten Monaten vertieften, hieß Sangit Ratnakar, der „Ozean der Musik“. Ohne Premlata Sharma wären wir in diesem Meer von Worten untergegangen; wie alle alten indischen Lehrbücher ist der „Ozean der Musik“ in Versen abgefaßt, die dazu bestimmt sind, auswendig gelernt zu werden, um im Gedächtnis abrufbar zu sein. Die altertümliche, hochspezialisierte Sprache, in der sie geschrieben sind, ist oft so verkürzt, daß wochenlange Diskussionen notwendig waren, um sie auch nur annäherungsweise zu verstehen.

Der „Ozean der Musik“, dessen englische Übersetzung Premlata Sharma vorbereitete, wurde im 13. Jahrhundert von dem aus Kaschmir stammenden Brahmanen Sarangadeva verfaßt. Er setzt am Beginn der Schöpfung an, um sich dann immer weiter in die komplexesten Verästelungen des Musiksystems zu vertiefen. Das erste Kapitel beginnt mit einer Huldigung an Shiva, der sich im Klang, Nada, verkörpert.

Im zweiten der sieben Kapitel entfaltet Sarangadeva in Hunderten von Versen mit großer Gründlichkeit die beiden Aspekte dieses Klangs: Den ewigen, unhörbaren Anahata Nada und den hörbaren Ahata Nada, der durch die Berührung zweier Körper entsteht. Der Schöpfungsgeschichte der Welt folgt die Schöpfungsgeschichte des menschlichen Körpers, der dazu geschaffen ist, den unhörbaren Nada hörbar zu machen: Das Herabsteigen der selbstbewußten Intelligenz des Jiva aus dem höchsten aller Elemente, dem Akash, dem Stoff des Denkens und der Musik, der im antiken Europa Äther genannt wurde, hinunter in das untergeordnete Element der Luft. Dort verdichtet er sich zu Wolken, die im Schein der Sonne das Element des Wassers aufsaugen und die Intelligenz des ätherischen Geistes auf Pflanzen, Bäume und Sträucher herabregnen lassen; Vegetation verwandelt sich in das Element der Erde, in Nahrung, die vom Menschen aufgenommen und in Samen verwandelt wird. In den Liebestempel einer jungen Frau versprengt, tritt der wässrige Samen, wenn die Zeit reif ist, in den Uterus ein und wird zum Fötus. Jeder einzelne Element der Schwangerschaft wird beschrieben: Das Zusammenwirken der verschiedenen, genauestens in allen ihren Eigenschaften beschriebenen Körpersubstanzen bei der Bildung der Organe; ihre Zuordnung zu den männlichen und weiblichen Attributen; die verschiedenen Typen von Schwangerschaften und Frauen; die Gründe für mögliche Fehlbildungen eines Embryos und Anzeichen für glückliche Geburten.

„Im siebten Monat verbirgt der Embryo die Höhlen seiner Ohren zwischen den Schenkeln, während sich die Intelligenz des ihm innewohnenden Jiva an die Schrecken früherer Geburten erinnert und, sich selbst genügend, die Möglichkeiten seiner Befreiung kontempliert,“ schreibt Sarangadeva, stets den höchsten Zweck der Musik im Auge haltend. Genauestens erläutert er die Passage des Fötus durch die Vagina. Daß der Säugling instinktiv an der Brust saugt, gilt ihm als Beweis der Unsterblichkeit der Seele, die dieses Begehren aus früheren Leben mitgebracht hat. Dann analysiert er den Körper des Säuglings, Blut, Knochen und Mark, aus denen die Charaktereigenschaften entstehen: Begierde und Abneigung, Freude und Schmerz. Er fährt fort mit der Entwicklung der Organe der Wahrnehmung und der Gliedmaßen: Zunge, Hände, Füße, Anus und Geschlechtsorgane dienen körperlichen Handlungen, Geist und Intellekt dagegen sortieren Freude und Schmerz. Den Organen ordnet er die fünf Elemente zu: Hören steht an höchster Stelle. Es wird von den Atembewegungen beeinflußt, doch Prana, gewöhnlich als Atem übersetzt, das seine Wurzel unterhalb des Nabels hat und durch Mund und Nasenlöcher fließt, wird nicht als Bewegung der Luft verstanden, sondern als die der ätherhaften Substanz, aus der Musik entsteht.

Die Schilderung der Organe und der Unterorgane schließt sich an, die der sieben Häute und der sieben Membranen, der Venen, Arterien, Muskeln und der Kanäle, durch die die Körpersäfte ließen, „so wie eine Lotusblume durch Fasern aus schlammigem Wasser wächst“. Schleim, Fett, Exkremente, Galle und Samen werden erwähnt, die verschiedenen Drüsen, schließlich das Herz, das geformt ist wie ein umgekehrter Lotos, der Sitz der göttlichen Intelligenz. Wenn es dunkel ist, schläft der Atman, der Geist, wenn Licht ihn trifft, erwacht er. „Die Lotosblume öffnet sich“, sagt Sarangadeva.

Er beschreibt die körperlichen Nervenzentren, die Stränge, die sie verbinden; die dreihundertundsechzig Knochen, ihre Zusammenfassung in vierzehn Gruppen; die Gelenke, die Sehnen und Muskeln, ihre genaue Zahl in jedem einzelnen Gliedmaß. Er zählt die Venen und Arterien auf, die Blutgefäße, die Lymphdrüsen, beschreibt ihre Aufgaben. Dreieinhalb Millionen Haare wachsen auf dem Körper des Menschen, sagt Sarangadeva, dreihundertttausend zählt er auf Bart und Kopf, die kombinierte Zahl der Blutgefäße, Nervenkanäle, der Venen und Arterien und der Haare des Körpers gibt er mit 546.750.000 an.

Dann kommt er zur Beschreibung der sieben Chakras, der psycho-physischen Zentren, die als Lotosblüten dargestellt werden: Ihre Position im Körper, ihre Eigenschaften, die durch die einzelnen Blätter der Lotosblüten bestimmt sind, ihre Zahl, Farbe und Position. Jedes einzelne Blütenblatt wird beschrieben, jedes einzelne ist einem anderen Buchstaben zugeordnet und hat eine spezifische Funktion. Die Chakren münden im tausendblättrigen Lotos der Scheitelkrone, der sich nach der Geburt zu schließen scheint, doch unzählige Ströme von Nektar durchströmen es, die den ganzen Körper nähren. Konzentration auf das erste, achte, elfte und zwölfte Blütenblatt, so sagt Sarangadeva, führt zum Erfolg musikalischer Praxis, während die auf das vierte, sechste und zehnte Blatt jedes musikalische Talent zerstört.

„Das ist der Körper,“ schließt Sarangadeva das erste Kapitels des „Ozeans der Musik“: „Ein Haufen von Unrat, umgeben von unreinem Schmutz aller Art – und doch benutzen ihn intelligente Menschen als ein Mittel zum Erlangen von Vergnügen und als Instrument der Befreiung. Die Zuwendung zur manifesten Seite der Wirklichkeit, Saguna, führt zu weltlichem Vergnügen, die Meditation des unmanifesten, Nirguna, führt zur Erlösung.“

Im dritten Kapitel weist er den Weg – durch die Verehrung Brahmas als Klang: Nada Brahma. Er erläutert das Konzept mit ähnlicher Eindringlichkeit wie die Psycho-Physik des menschlichen Körpers im vorhergehenden. Brahman, das absolute, kosmische, transzendentale Prinzip, der Schoß allen Seins, ist das vielleicht am wenigsten faßbare Konzept der indischen Tradition. Obwohl es in den religiösen und philosophischen Schriften, die im Lauf der Jahrtausende zu weitläufigen Bibliotheken angewachsen sind, nicht an Versuchen mangelt, es zu fassen, entzieht es sich jeder klaren Definition. Über viele Jahrhunderte hinweg haben sich indische Philosophen, Grammatiker und Tantriker mit diesem Konzept auseinandergesetzt und es in unzähligen Variationen beschrieben. Das Problem ist das Überbrücken des Abgrunds, der sich zwischen der Bedeutung der heiligen Formel und der allumfassenden, absoluten Realität auftut. Es ist ein Mysterium, ein Rätsel, das sich nie ganz lösen läßt, weil die Bedeutungen zwischen dem Schöpfungsprozeß und einem völlig abstrakten, transzendenten Prinzip changieren. Die dynamische Kraft des Begriffs durchzieht nicht nur die religiöse und philosophische Literatur, sondern auch die Musik- und Sprachwissenschaft. „Das, was sich nicht durch Sprache ausdrücken läßt, sondern das, durch das Sprache ausgedrückt wird – das erkenne als Brahman,“ heißt es in der Ketopanishad [Kata-Upanishad s. hier], „nicht das, was die Leute als Brahman verehren.“ Der Indologe Jan Gonda spricht von der „Unmöglichkeit der ‚Rekonstruktion‘ eines Prozesses semantischer Entwicklung.“

Wenn man das Konzept Nada Brahma, – so stimmen die historischen Kommentatoren überein, die R.K.Shringy und Premlata Sharma für ihre Übersetzung heranzogen -, ins Englische übertragen wolle, müsse man die beiden Wörter nicht nur unter grammatikalischen Gesichtspunkten betrachten, sondern auch unter logischen: Brahma und Nada sind identisch, sie stellen die essentielle, undifferenzierte Realität dar, aus der heraus sich Klänge, Gedanken, Wörter und Materie manifestieren; wenn man diesen Klang hören könnte, würde es eine Trennung in ein hörendes Subjekt und ein Objekt geben, das gehört wird – doch das wäre nicht der allumfassende Brahma. Noch viel weniger bedeutet Nada Brahma „die Welt ist Klang“. Brahma ist nicht die Welt, sondern die allumfassende, absolute Realität, die sich jeder Beschreibung entzieht. Nada ist nicht Klang, sondern gleichbedeutend mit dem Vac, dem Equivalent zum lateinischen Vox oder dem griechischen Logos, dem höchsten Wort, der Quelle der Schöpfung.

JR: Soweit das etwas umfangreichere Skript des Kapitels, dessen kürzere Version im Buch von Peter Pannke auf den Seiten 35 bis 37 zu finden ist. Dort wiederum gibt es einen Zusatz, den ich an dieser Stelle ebenfalls anfügen möchte:

Und doch gibt es einen Weg, sich dem Unhörbaren zu nähern. Man müsse sich die Ohren mit den Daumen verschließen, um es wahrzunehmen, sagen die Upanishaden, dann höre man das Geräusch des Nada im Herzen. Siebenfach ist dessen Ähnlichkeit: Es klingt wie strömendes Wasser, das Läuten von Glocken, das Schlagen auf einen Topf, das Surren eines Rads, das Gequake von Fröschen, das Rauschen des Regens oder das Gemurmel von Stimmen in einem geschlossenen Gewölbe.

*     *     *

Ich danke Peter Pannke für die Erlaubnis, die Originalversion seines Textes in diesem Blog wiederzugeben; sie ist in der Vollständigkeit nicht in das folgende (empfehlenswerte) Buch eingegangen, das immerhin über 300 Seiten umfasst. 

Hier folgt noch ein Link, der den Titel und die Veröffentlichung des beschriebenen Buches Sangit Ratnakara von Sarngadeva betrifft: 

Saṅgīta-Ratnākara of Śārṅgadeva: Sanskrit Text and English Translation with Comments and Notes. Vol. 1: Treatment of Svara. Translated by R. K. Shringy. Supervised by Prem Lata Sharma. Siehe HIER.

Nachtrag 18.12.2019

Peter Pannke ist in Poona unterwegs und schickt folgendes Foto:

 Verkehrsinsel©Pannke

Frauen Bauhaus Philosophie

Film und Info (Es eilt!)

Vor allem wegen der Abrufbarkeit dieses Films „Lotte am Bauhaus“ bis 30. November, also bis kommenden Samstag.

Direkt zu erreichen über den Link HIER !

Fangen Sie einfach an, ihn zu sehen. Sie werden dranbleiben…

Für die informative Zugabe „Bauhausfrauen“ bleibt mehr Zeit:

 .     .     .     .

Der Weg dorthin verläuft hier !

Mein Weg die Treppe hinab in den Übekeller:

Kein Zufallsweg in die Bahnhofsbuchhandlung Solingen:

 . . . mein Zugriff erfolgte dank dreier Namen:

Hannah Arendt und – an erster Stelle – Hypatia, die mir vor kurzem zum ersten Mal in meinem Leben begegnet ist: hier: Skandal des Missbrauchs ihrer Biographie.

Und der dritte Name?

 Köln, am 24. Mai 1964

Ein Buch, das mich damals in meinen Grundfesten (!) erschütterte. (Das wirkt heute weiter bei der Lektüre von Anna Gien.)  Die handschriftliche Anmerkung Watts auf der linken Seite bezog sich auf „meine“ Philosophie jener Tage: Alan Watts: Natur – Mann und Frau  (seit Weihnachten 1962). Das Jahr 1966 brachte einen anderen Wendepunkt, basierend auf einer meiner glücklichsten Nicht-Entscheidungen. Etwas mehr Bauhaus hätte mir gutgetan. Schon die folgende Buchseite hätte mich auf den Weg des Widerspruchs bringen können: das ganze Gerede von Entspannung – ohne jede Ergänzung durch die Seite der Spannung, des Konflikts. 

   Alan Watts, DuMont Köln 1962

Und damit bin ich zugleich in den vorigen Beitrag („Ich stelle mir vor…„) zurückgeswitched, ich meine dort: „Das Innere Hören“. Später habe ich mich über Joachim E. Berendt lustig gemacht, der ebenfalls die ganz große Vergeistigung zu betreiben vorgab und vergaß, was alle Jazzer von ihm wussten. Er war aus einem tiefer gelegenen Zentrum gesteuert und konnte keine Noten. (Das ist erlaubt, aber dann muss man nicht gerade über die größten musikalischen Schriftwerke des Abendlandes daherlabern.)

„Damit das Wort ‚Klang‘ in diesem Zusammenhang vollends klar wird, muss realisiert werden: ‚Klang‘ existiert für das wissenschaftliche Denken durchaus auch als Abstraktum. So empfinden ihn auch die Musiker: Bevor sie ihn spielen, lesen sie ihn in der Partitur. Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren. Erst dann ’speisen‘ sie ihn ein in ihr Instrument. In genau diesem Sinn ’speist‘ das Universum ständig Klänge in jedes einzelne seiner ‚Instrumente‘ – vom Atom, und vom Gen bis zum Planeten und Pulsar.“ (JEB)

Diesen Rollenwechsel des Klanges, des in der Partitur gelesenen, sollten wir nachklingen lassen: „Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren.“ Oder so ähnlich.

Lieber Professor h.c.! Für einen Musiker liegen zwischen diesen Nadas ganze Brahmas. Ich kann ein wenig Partitur lesen, und das heißt: Ich stelle mir den Klang vor. Wenn mir aber jemand erklärt, das s e i bereits der Klang, verzeihen Sie, so möchte ich ihm all meine abgenutzten Lieblingsschallplatten um die Ohren knallen oder ihn zu einem gemalten Mittagessen ins Museum einladen.

Das ist auch schon wieder lange her, 1989, siehe hier. Dem Philosophen Sloterdijk habe ich seinen Pakt mit dem Altmeister der musikalischen Ungenauigkeit nie ganz verzeihen können. Der aber starb leider schon im Jahre 2000, als er in Hamburg die rote Fußgängerampel ignorierte und von einem Auto erfasst wurde. Er war auf dem Weg zu einer Vorstellung seines Buches Es gibt keinen Weg. Nur gehen. Sieben Jahre vorher hatte ich mich zum letzten Mal über ein neues Werk von ihm geärgert, das einzige, das ich nach Nada Brahma noch gelesen habe: Hinübergehen – Das Wunder des Spätwerks. Mozart und Bach spielten darin eine tragende und von musikwissenschaftlicher Fehldeutung getragene Rolle.

Es ist ein Trauerspiel, aber man muss einfach irgendwann damit abschließen, sonst funktioniert es nur noch als Komödie. Nächstes Jahr werden vielleicht Gedenksendungen fällig….

P.S.

Der Indienkenner Peter Pannke machte mich inzwischen auf seine Erfahrungen mit dem listenreichen Indienverwerter aufmerksam, festgehalten in dem Buch „Sänger müssen zweimal sterben / Eine Reise ins unerhörte Indien“ Piper Verlag München 2006. Ich zitiere:

Februar 1981, New Delhi

„Ich müßte mehr über „Nada Brahma“ wissen,“ begann der Brief, den Joachim Ernst Berendt mir im Februar 1981 nach Delhi schrieb. „Es ist ja ein Grundwort indischer Spiritualität, aber woher stammt es?“ fragte er nach. Ich kannte Berendt, seit ich 1974 – gerade aus Indien zurückgekehrt – bei den Plattenaufnahmen für „Hesse Between Music“ Sarangi und Tanpura gespielt hatte. Er war der Produzent. Ich empfahl ihm die Lektüre des „Ozeans der Musik“, dessen englische Übersetzung, besorgt von Premlata Sharma, 1978 erschienen war.

Fünf Jahre später bekam ich wieder Post von Joachim Ernst Berendt. Mittlerweile war „Nada Brahma – Die Welt ist Klang“ erschienen. Sein Buch sei nicht von Indien aus, sondern vom Westen aus geschrieben, teilte er mir mit. „Ich habe es bewußt freigehalten von allem, was die Leser doch nur als Fachinformation empfinden, und was auf ihren Bauch keinen Einfluß hat.“

Ich stelle mir vor . . .

Assoziationen und Insistenzen, ein endloser Weg

Was ich mir vorstelle, sehe, höre oder spüre… Also: es kommt mir zufällig in den Sinn, und eins reiht sich unwillkürlich an das andere, vielleicht beharre ich bei bestimmten Bildern oder Szenen auf Verdichtung beziehungsweise: sie setzen sich durch und betreiben ihre Verfestigung, Konkretisierung, Lebensähnlichkeit. Sie können bedrohlich werden. Als seien sie wirklich. Redensartlich sogar: „wirklicher als die Wirklichkeit“. Übertreibe ich bereits? Ist es so, dass man, sobald man sich verschriftlicht, es deutlicher darstellt, als es im Augenblick des Geschehens schien. Ich übertreibe, um wahrgenommen zu werden. Aber doch nicht vor mir selbst?! Werde ich nicht selbst als erster bemerken, dass die Niederschrift im gleichen Augenblick ihren Sinn verfehlt? Statt mich selbst unter die Lupe zu nehmen, versuche ich mich in Szene zu setzen, ist es so? Ganz besonders in dieser – zu früh einsetzenden – Selbstreflexion. Ich will konkreter werden. (1) Ich schaue intensiv auf ein Notenbild, um mir die Musik vorzustellen. Und zwar so intensiv wie möglich: als säße dort ein Streichquartett, das intensiv probt. Nein, lieber ein Bild, eine visuelle Beschwörung: ich will meinen Vater sehen, der 1958 gestorben ist, aber ich will ihn einige Jahre früher in seinem Zimmer sehen, Eckhaus Paulusstraße Bielefeld mit Blick auf die Pauluskirche, ich will durch die Wohnung im zweiten Stock gehen, dritte Tür hinten links, in dem der Flügel steht, ich höre, dass darauf gespielt wird. Nein, es gelingt nicht, wenn ich mir meinen Vater als Person vorstellen will, kommen immer Bilder, die schon existieren, Fotos, die ich als konkretes Standbild vor Augen habe, es lebt nicht. Der Ansatz ist falsch. Anders als alles, was ich mir vorgestellt habe, bevor ich mich heute an der Computer setzte. Nachts, als ich wach wurde, hatte ich mir alles deutlicher vorgestellt, aber eben ganz anders. (2) Ich beginne mit Experimenten. Vor allem, nichts soll ins Wesenlose zerfließen, wie endlos auch immer der Strom von Bildern und Assoziationen dahinzieht, ich muss insistieren, vermutlich. (3) Es hatte gestern Abend damit begonnen, dass ich Proust vornahm, den Einzelband Combray, ich wollte wissen, ob es stimmt, dass seine sprachlichen Meditationen (die wirklichen scheinbar nachgebildet, die aber selbst vielleicht nachträglich gebildet bzw. konstruiert sind)  immer darauf zielen, dass sich das ins Auge gefasste Ding „aufklappt“ und ein Inneres preisgibt. Zum Beispiel die Kirchtürme. Wahrscheinlich werde ich die betreffenden Seiten abschreiben. Mich stört das Mechanistische dieser mystisch gedachten Vorstellung. Diesen fremden Text werde ich farblich abheben, so weiß ein „Fremdleser“ unmittelbar, wo es verbindlich wird. Immerhin habe ich vor dem Einschlafen noch die Textstelle gefunden, die ich in Erinnerung hatte. Ach, ich werde in mein Elaborat Zahlen einfügen, wo auch immer, Hauptsache der Reihe nach, so dass jeder Satz wieder auffindbar ist. So dass ich jederzeit anknüpfen kann. Also: zurück zu (1). Es genügt, sich einen starken Dreiklang vorzustellen, natürlich C-dur, später darf es der Klang b – e – a (der Anfang von „Moses und Aron“), gefolgt von c – gis – h. Nein, der C-dur-Dreiklang, sagen wir mit drei Trompeten. (4) Und zwar so stark, dass es in den Ohren schmerzt. Ich nehme Beethoven, das Finalthema der Fünften, aber nur die drei Töne des Dreiklangs, die dort nacheinander tönen, genau die Klangfarbe, die drei Töne GLEICHZEITIG und zwar schmerzend laut, wie die Posaunen von Jericho (in der Vorstellung geht das!). So real wie möglich. Leichter gehts doch gar nicht! Wenn man einigermaßen jung ist, kann man auch etwas … nehmen, etwas, das auf eine dumme Weise nach Realität schreit. Könnte sein, dass mans so besser begreift, welchen Grad es haben muss. Ist das der rechte Weg? (5) Wieviel betrübender noch als zuvor schien es mir seit jenem Tage auf meinen Spaziergängen in die Gegend von Guermantes, daß ich keine Begabung fürs Schreiben besaß und darauf verzichten mußte, je ein berühmter Schriftsteller zu werden. Das Bedauern, das ich darüber empfand, während ich allein und abseits träumte, machte mich so niedergeschlagen, daß mein Geist, damit ich es weniger fühlte, von sich aus in einer Art von Zurückweichen vor dem Schmerz ganz und gar vermied, bei dem Gedanken an Verse, Romane oder an eine Dichterzukunft zu verweilen, auf die ich offenbar aus Mangel an Talent nicht würde rechnen können. So nun, völlig außerhalb von jeder literarischen Absicht und ohne einen Gedanken daran, fühlte ich meine Aufmerksamkeit gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch eines Weges, und zwar gewährten sie mit dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, daß sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch anderes verborgen, das sie nicht zu suchen aufforderten und das ich trotz aller Bemühungen nicht zu entdecken vermochte.

(6) Man kann sich eine Sache derart plastisch vorstellen, dass man sie geradezu mit der Wirklichkeit verwechseln könnte, ja, darob in Panik zu geraten fürchtet; man denke lebhaft an ein fernes Enkelkind im Urlaub an der Nordsee, wie es sich fröhlich und wagemutig am Badestrand in die brechenden Wellen wirft, und schon entsteht fast unvermittelt ein Sog (der Phantasie), der dem kleinen Körper die Orientierung raubt und ihn ins Meer hinauszieht. Panik.

Zuweilen, wenn ich mir auf der Fahrt nach Süden den Dolomitenblick und den Bauernhof vorstelle, den ich kenne, etwa da drüben die letzten Sonnenstrahlen auf dem weißen Kirchlein von Laien, scheint mir das Glück so überdeutlich, dass ich auch in Gegenrichtung fahren könnte, mir suggerierend, all dies läge gerade wieder hinter mir und ich könne, gesättigt von soviel Urlaub, erholt an den Schreibtisch zurückkehren. (7) Die früheste Zeit des „Kopfkinos“, das ich entdeckte noch ehe ich in der Schule war oder irgendeinen Film gesehen hatte, veranlasste eine Verhaltensweise, die meine Oma in Angst und Schrecken versetzte: der Junge legte sich am helllichten Tage auf die Couch mit dem Gesicht zur Wand und behauptet, er sei gar nicht krank! Er erfand sich Geschichten, die imaginär – vor seinem inneren Auge – „real“ abliefen. Neulich erzählte Frank T., er habe einen Kollegen gehabt, der sich die einzelnen Zusammenklänge eines Saxophon-Duos so intensiv vorzustellen vermochte, dass er sogar die Differenztöne wahrnehmen konnte. Soll ich das glauben? Physische Eigenschaften realer Töne im irrealen Raum? Hat er sie gehört oder imaginiert?

Ideale Klangvorstellung. Idealton – für Geiger auch verhängnisvoll. Fetisch Klang – die Religion der Streicher, sagte Kolisch. Entspannung ist kein Wert an sich. Beim Stabhochsprung oder beim Hundertmeterlauf. Was ist mit der Innenspannung einer Melodie?

(8) Da ich genau fühlte, daß es in ihnen war, blieb ich unbeweglich stehen, um sie anzuschauen, einzuatmen, um den Versuch zu machen, mit meinem Denken über das Bild oder über den Duft noch hinauszugelangen. Wenn ich dann meinen Großvater einholen und meinen Weg fortsetzen mußte, suchte ich sie wiederzufinden, indem ich meine Augen schloß; ich konzentrierte mich völlig darauf, genau die Linie des Daches, den exakten Farbton des Steines wiederzufinden, die, ohne daß ich begreifen konnte warum, mit etwas angefüllt zu sein schienen und bereit sich zu öffnen, um mir auszuliefern, wovon sie selbst nur die Hülle waren. Gewiß waren es nicht Eindrücke dieser Art, die mir die verlorene Hoffnung wiedergeben konnten, eines Tages Schriftsteller und Dichter zu werden, denn sie waren immer an einen bestimmten Gegenstand ohne allen geistigen Gehalt und ohne Beziehung zu einer abstrakten Wahrheit geknüpft. Aber wenigstens vermittelten sie mir ein fragloses Vergnügen, eine Illusion von Fruchtbarkeit, und lenkten mich dadurch von meinem Kummer, jenem Gefühl der Ohnmacht ab, von dem ich immer befallen worden war, wenn ich nach einem philosophischen Gegenstand für ein großes literarisches Werk gesucht hatte. Aber die Arbeit meines Bewußtseins war so angreifend – eine Arbeit, die diese Eindrücke von Formen, Düften oder Farben mir auferlegten – nämlich zu erfassen, was sich hinter ihnen verbarg, daß ich bald anfing, vor mir selbst Entschuldigungen zu finden, um mich dieser Anstrengung zu entziehen und mich nicht damit länger ermüden zu müssen. Zum Glück riefen meine Eltern nach mir; ich fühlte, daß ich im Augenblick nicht über die nötige Ruhe verfügte, um mit Nutzen weiterzuforschen, daß es besser sei, nicht mehr daran zu denken, bis ich zu Hause wäre, und mich nicht zuvor zwecklos abzuquälen. Ich beschäftigte mich dann also nicht mehr mit jenem Unbekannten, das sich in einer Form oder einem Duft verbarg, trug es aber unter der Hülle von Bildern mit mir fort, unter denen ich es lebendig vorfinden würde wie die Fische, die ich an den Tagen, wo man mich fischen ließ, in meinem Korbe unter einer Schicht von Kräutern kühl und frisch mit nach Hause brachte. War ich erst daheim, so dachte ich an anderes, und so häufte sich in meinem Geist (wie in meinem Zimmer die Blumen, die ich auf meinen Spaziergängen gepflückt hatte, oder die Dinge, die mir geschenkt worden waren) mancherlei an: ein Stein, auf dem ein Lichtreflex spielte, ein Dach, ein Glockenton, ein Blätterduft, viele verschiedene Bilder, unter denen seit langem schon die einst geahnte Wirklichkeit weggestorben war, die zu entdecken meine Willenskraft damals nicht ausgereicht hatte.

(9) Ein paar Jahre lang habe ich geglaubt (gehofft), dass der Glaube etwas Reales bewirken könne, nicht unbedingt Berge versetzen, aber etwas so Lächerliches wie eine laut tickende Uhr zum Stillstand bringen, – das dürfte doch eine Kleinigkeit sein. Nicht der Glaube, sondern die schiere Kraft der Imagination. Ich schäme mich heute, wenn ich darüber nachdenke, was alles ich für möglich gehalten habe, während ich doch  gleichzeitig „echte“ philosophische Bücher las. Ich hielt das für zwei Welten, die sich nicht ausschließen. Es war dieselbe Zeit, als z.B. der unbekannte Sloterdijk irgendwo in Indien Erleuchtung suchte. Irgendwo? Bei Osho.

(10) Selbstverständlich haben wir – gerade als Musiker – immer auch mit Unsichtbarem zu tun. Nicht schlecht, sich etwas vorzustellen, um damit operieren zu können. Es reicht nicht, vom INNEREN HÖREN zu sprechen und zu meinen, darüber könne nichts weiter gesagt werden oder es könne nicht direkt angesprochen werden. Wenn ich mir intensiv eine sprudelnde Quelle im Waldesdunkel vorstelle, – könnte es sein, dass ich bald ein gewisses Örtchen aufsuchen muss. Ist das nicht eine großartigere psychophysische Leistung als das gedankliche Abschalten eines tickenden Weckers?

(11) Wenn Cerone (1609) sagt: „Der vollendete Sänger singt mehr mit den Ohren als mit dem Munde“, ein anderer Meister sagt „Die Ohren sind die Lehrmeister der wahren Gesangskunst!“ – und alle anderen in diesen Kanon einstimmen, „so liegt der große Irrtum nur darin, daß sie nicht wußten, wie stark bei der Übung der reinen Nachahmung nicht nur das Ohr und natürlich nebenher das Auge, sondern auch vor allem der Muskelsinn beteiligt ist.“ So die Gesangspädagogin Franziska Martienssen. Das Problem: „der bewußten Beobachtung von Muskelempfindungen [ist] von vornherein eine Schranke gesetzt; denn viele von ihnen führen eben völlig irre und müssen darum der gewollten Nichtbeachtung unterliegen.“ Und weiter: Muskelempfindungen im Kehlkopf äußern sich in Schmerzgefühlen und zeugen von falscher Spannung (oder pathologischen Veränderungen). Der Sänger wird bei richtigem Singen im ganzen Kehlkopfapparat gar keine aktiven Muskelempfindungen haben.“ [Seite 19]

(12) Und hier beginnt der sensationelle Aspekt der Sache – sage ich, um Sie zum Weiterlesen zu zwingen – die Lenkung dieser empfindungsfreien Muskeln geschieht durch Vorstellungen, die von Worten oder Bildern getragen werden, die unter Umständen gar nicht besonders „passen“. ZITAT: Wohl aber können zwei [gesungene] Töne gleicher Tonhöhe das erstemal von oben, das zweitemal vom Unterleib aus  vorgestellt sein, und beide mal dem Schüler als gut und richtig zum Bewußtsein kommen. Das „Von-oben-Nehmen“ enthält das eben besprochene Bild des Setzens der Töne, und außerdem ein sehr deutliches Hervorheben der oberen Resonanz, so daß der Ton sofort im Ansatz durch Vibrationen als Organempfindung des Kopfes bewußt wird. Das „Von-unten-Ansetzen“ aber richtet die Aufmerksamkeit in erster Linie auf das Gefühl des Körperklanges und auf die Gesamteinstellung; der Atemapparat ist gespannt, der Weg aber ist locker: nun fliegt der Ton durch einen leisen Impuls des Zwerchfelles in die Höhe. Die Empfindungen des lockeren offenen Raumes im Halse, „als könnte eine Faust in den Magen greifen“, gibt die Vorstellung, als käme der Ton von dort, wo dieser innere Raum des Instrumentes anfängt: aus der tiefsten Tiefe, eben „aus dem Unterleib“, wie Caruso es bezeichnete. Mit den Worten: „den Magen ausleeren beim Singen“ pflegte der berühmte King Clark seinen Schülern etwas Ähnliches zu sagen. „Sich in den Kopf übergeben“ ist die gleiche, noch präziser gefaßte Forderung, deren Drastik allerdings nur durch den Eifer beim Unterricht zu entschuldigen ist. Die alten Italiener gingen dagegen wieder von oben nach unten: bera la voce – „trinke die Stimme“. Auch diese letzte Vorschrift ist für die Weite und Lockerheit des Tonweges ausgezeichnet. (Dagegen etwa vom „Essen“ der Töne zu sprechen, wäre falsch, wegen der viel zu starken Beteiligung der Schlundmuskulatur.) All solche Begriffe nun, so wenig schön und ästhetisch sie teilweise anmuten, können bei richtiger Dosierung  ungeheuer wertvoll für die Ausbildung sein. Man kann in vielen Fällen sagen: je natürlicher und drastischer, desto besser! – als heiteres Gegengewicht gegen die vom Schüler wie vom Lehrer geforderte feinste Sensibilität. (S.100)

(13) Eines Tages jedoch – als wir unseren Spaziergang weit über die gewohnte Zeit ausgedehnt hatten und so glücklich waren, am späten Nachmittag auf halbem Heimweg Doktor Percepied zu begegnen, der in seinem Wagen gemütlich des Weges kam, uns erkannte und zu sich einsteigen ließ – hatte ich einen Eindruck dieser Art, bei dem ich nicht nachgab, bis ich tiefer in ihn eingedrungen war. Man hatte mich zum Kutscher auf den Bock sitzen lassen, und wir fuhren wie der Wind, weil der Doktor vor der Heimkehr noch in Martinville-le-Sec noch einen Patienten besuchen mußte, vor dessen Tür wir auf ihn warten sollten. An einer Wegbiegung hatte ich auf einmal jenes besondere Lustgefühl, das keinem anderen glich, beim Anblick der beiden Kirchtürme von Martinville, auf denen der Widerschein der sinkenden Sonne lag und die infolge der Wagenbewegung und der Windung der Straße den Platz zu wechseln schienen; es kam dann noch der von Vieuxvicq hinzu, der, von den beiden anderen durch einen Hügel und ein Tal getrennt, etwas höher in der Ferne liegt und ihnen dennoch ganz nahe benachbart schien.

Beim Feststellen und Einprägen der Form ihrer Spitze, der Verschiebung ihrer Linien, der Oberflächen, auf denen die Sonne lag, fühlte ich, daß ich noch nicht am Ende meiner Eindrücke war, daß etwas sich noch hinter dieser Bewegung, dieser Helligkeit befand, etwas, das sie zu enthalten und zugleich zu verbergen schien. Die Kirchtüme wirkten so fern, und es sah aus, als ob wir uns ihnen nur wenig näherten, so daß ich ganz erstaunt war, als wir gleich darauf vor der Kirche von Martinville hielten. Ich wußte nicht, weshalb es mich glücklich gemacht hatte, sie am Horizont zu erblicken, und der Zwang, nach dem Grunde zu forschen, lastete quälend auf mir; ich hatte Lust, die Erinnerung an die sich verschiebenden Linien in meinem Kopfe aufzubewahren und im Augenblick nicht mehr daran zu denken. Hätte ich es getan, so wären wahrscheinlich die beiden Türme zu den zahllosen Bäumen, Dächern, Düften und Klängen hinübergewallt, die mir vor andern aufgefallen waren wegen der unbestimmten Lust, die ihre Wahrnehmung mir verschaffte, der ich jedoch nicht nachgegangen war. Ich stieg vom Wagen und sprach mit meinen Eltern, während wir auf den Doktor warteten. Dann fuhren wir weiter, ich nahm meinen Platz auf dem Bock wieder ein, ich wendete den Kopf, um die Türme noch einmal anzuschauen, die ich etwas später an einer Biegung des Weges noch einletztes Mal sah. Da der Kutscher, der nicht zum Reden aufgelegt schien, auf meine Bemühungen kaum eine Antwort gab, blieb mir nichts anderes übrig als mangels anderer Gesellschaft mich ganz meiner eigenen zu überlassen und zu versuchen, mir meine Kirchtürme nochmals vorzustellen. Bald darauf war es, als ob ihre Umrißlinien und besonnten Flächen wie eine Schale sich öffneten und etwas, was mit in ihnen verborgen geblieben war, nunmehr erkennen ließen; es kam mir ein Gedanke, der einen Augenblick zuvor noch nicht in meinem Bewußtsein war und der sich in meinem Hirn zu Worten gestaltete, und die Lust, die mir soeben der Anblick der Türme bereitet hatte, war so gesteigert dadurch, daß ich, von einer Art von Rausch erfaßt, an nichts anderes dachte. In diesem Augenblick – wir waren schon weit von Martinville entfernt – erkannte ich sie von neuem, diesmal ganz schwarz, denn die Sonne war untergegangen. Durch eine Wendung des Weges wurden sie mir für Sekunden entzogen, dann zeigten sie sich ein letztes Mal, dann sah ich sie nicht mehr. (Seite 178) 

14) Ich sollte erwähnen, dass ich einen quasi-religiösen Schlüssel zu Prousts Werk dem großen Essay von Ernst Robert Curtius verdanke: in seinem großen Werk „Französischer Geist im Zwanzigsten Jahrhundert“ (Francke Verlag Bern und München Zweite Auflage 1952 Seite 274 bis 355), darin insbesondere das Kapitel „Kontemplation“, aber auch „Intuition und Ausdruck“. Und viel später fand ich in Safranskis Schopenhauer-Buch die Quelle, die vielleicht auch für Proust maßgeblich war, entdeckt 2008. Ich gebe die betreffenden Seiten wieder, weil mir die Zeit fehlt, sie abzuschreiben, dort soll es auch weitergehen:

Quelle Rüdiger Safranski: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie / Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 4.Auflage 2006

15) Ohne mir zu sagen, daß das, was hinter den Türmen von Martinville verborgen war, einem wohlgelungenen Satz entsprechen mußte, da es mir ja in Gestalt von Worten, die mir Freude machten, aufgegangen war, bat ich den Doktor um Bleistift und Papier, und trotz der Stöße des Wagens verfaßte ich, um mein Bewußtsein zu entlasten und aus Begeisterung das folgende kleine Stück Prosa, das ich später wiederfand und hier nur wenig abgeändert habe:

‚Einsam über der Ebene und wie auf weiter Fläche verloren stiegen die beiden Türme von Martinville zum Himmel empor. Bald sahen wir ihrer drei: mit einer kühnen Wendung sich ihnen gegenüberstellend hatte ein Säumiger, der Kirchturm von Vieuxvicq, sich zu ihnen gesellt. Die Minuten vergingen, wir fuhren schnell, und dennoch lagen die drei Türme immer in der Ferne vor uns wie drei Vögel, die unbeweglich, in der Sonne sichtbar, auf der Ebene hockten. Dann trennte der Turm von Vieuxvicq sich ab, er rückte weiter fort, und die Türme von Martinville blieben allein, bestrahlt vom Licht des Sonnenuntergangs, den ich selbst in dieser Entfernung auf ihren abfallenden Flanken spielen und lächeln sah. Wir hatten lange gebraucht, um ihnen näher zu kommen, so daß ich mir vorstellte, wieviel Zeit es noch dauern würde, bis wir sie erreichten, als auf einmal der Wagen nach einer kurzen Wendung uns unmittelbar an ihren Fuß geführt hatte; sie ragten so plötzlich vor uns auf, daß wir mit einem Ruck halten mußten, um nicht ans Portal zu stoßen. Wir setzten unseren Weg wieder fort; wir hatten Martinville schon ein Weilchen verlassen, und das Dorf, das uns erst noch sekundenlang das Geleit gab, verschwand, als allein am Horizonte stehend und Zeugen unserer Flucht die beiden Türme und der von Vieuxvicq uns noch ein Lebewohl zuwinkten mit ihren leuchtenden Spitzen. Manchmal trat einer von ihnen zurück, damit die anderen uns noch einmal sehen könnten; aber nun wendete sich der Weg nach einer anderen Richtung, sie kreisten noch einmal im Abendlicht wie drei goldene Zapfen und entzogen sich dann meinem Blick. Ein wenig später aber, als wir schon nahe bei Combray waren und die Sonne untergegangen war, sah ich sie ein letztes Mal in sehr weiter Ferne nur noch wie drei Blumen aufgemalt auf den Himmel über der flachen Horizontlinie der Felder. Sie erinnerten mich an drei junge Mädchen der Sage, die in der Einsamkeit zurückgeblieben waren, als es schon dunkelte; und während wir uns im Galopp entfernten, sah ich sie verschüchtert ihren Weg suchen, nach mehrmaligem ungeschicktem Straucheln die edeln Silhouetten aneinanderdrängen, die eine hinter die andere gleiten und schließlich auf dem noch rosigen Himmel nur mehr eine einzige anmutige, in ihr Schicksal ergebene schwarze Gruppe bilden, um dann in der Nacht zu verschwinden.‘ 

Ich dachte niemals an diese Zeilen zurück, aber damals in dem Augenblick, als ich auf der Ecke des Bockes, wo der Kutscher des Doktors gewöhnlich in einem Korb das auf dem Markt von Martinville eingekaufte Geflügel abstellte, sie beendet hatte, spürte ich, daß sie mich so vollkommen von diesen Kirchtürmen und von dem, was sich hinter ihnen verbarg, zu befreien vermocht hatten, daß ich, als sei ich selber ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, mit schriller Stimme zu singen begann.

Quelle PROUST: COMBRAY Die Fischer Bücherei der hundert Bücher März 1962 / aus: Marcel Proust. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1: In Swanns Welt. Übersetzt von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt am Main und Zürich 1953. Titel der französischen Originalausgabe: À la recherche du temps perdu. Vol. I: Du côté de chez Swann.

(Fortsetzung folgt)

Wie katholisch ist Bachs große Messe?

Was fromme Worte bewirken

Das ist Schubert, und nichts befindet sich zwischen den Worten „qui locutus est per prophetas“ und „Confiteor unum baptisma in remissionem peccatorum“. Was das heißen mag, habe ich vorgestern in der Katholischen Kirche Solingen-Ohligs rekapituliert:

Sie lesen, was da steht, drittletzte Zeile, nach „qui locutus est per prophetas“, auf der nächsten Seite das „Confiteor“; genau so stand es im Programmheft zu Bachs großer Messe, über die Kommata könnte man diskutieren – aber da gäbe es doch in jedem Fall noch einen wichtigen Satz?

„Et unam , sanctum, catholicam et apostolicam Ecclesiam“, danach erst folgt das „Confiteor“. Was ist los? der größte Protestant nach Luther, nein, größer als jener, unser einziger, heiliger, fünfter Evangelist Johann Sebastian Bach zeigt sich katholischer als Schubert, der Schöpfer des allerinbrünstigsten „Ave Maria“-Gesangs, den das Abendland kennt?

Schauen wir zur Sicherheit in Bachs Notentext: es handelt sich nicht um eine Verlegenheit, genau an dieser Stelle wird er notenselig, hier sind in dem Satz erstmalig Sechzehntel zu sehen und davon nicht wenige, der Komponist will uns noch eine Spezialbotschaft übermitteln. Ist sein Sohn nicht in Mailand katholisch geworden, und er selbst, hat er die Messe nicht mit Blick auf den katholischen Hof in Dresden fertiggestellt? Aber das hat nichts zu sagen, ich glaube, der Fall liegt anders.

„Catholicam“ ist mit „katholisch“ missverständlich übersetzt. Korrekter wäre das Wort „allgemein“, es war nicht als Anti-Epitheton gegen das Protestantische erfunden, sondern existierte lange vor Luthers Protestaktion, die eigentlich nicht die „allgemeingültige“ Kirche aufspalten, sondern bessern sollte. Das Wort hatte eher mit „holistisch“ (ganzheitlich) zu tun: „kat‘ holikós“ = das Ganze betreffend.

Bach wusste das, und die Sechzehntelfigur, die er verwendet, ist keine bloße Koloratur, sondern könnte gemäß der Lehre von den musikalischen Figuren eine „circulatio“ meinen, die genau diese „umfassende“ Bedeutung des Katholischen aufgreift: zwei Halbkreise, der eine nach oben geöffnet, der andere nach unten.

Man lese auch den Wikipedia-Artikel über das „Symbolum Nicenum“ , der gerade den Übersetzungsteil „die eine, heilige, katholische (allgemeine)[4] und apostolische Kirche mit einer besonderen Anmerkung bedenkt.

Man kann über die Worte endlos disputieren, – was kostete es doch, „filioque“ in den Text einzubauen, wie konnte man es den Arianern am unauffälligsten und am deutlichsten zeigen, was die wahrste Wahrheit ist. Ich bin glücklich, kein Theologe zu sein und mich damit nicht abgeben zu müssen. Es war am vergangenen Samstag vor der Aufführung der H-moll-Messe, in der bis auf den letzten Platz besetzten katholischen Kirche, als der Pastor eine Begrüßung sprach und zwei Sätze einmischte, die irgendwie ökumenisch klangen: schon gab es heftigen Zwischenapplaus. Ach, es sind nicht die Worte, an denen die Zukunft der Kirche mitsamt ihrer großen Kirchenmusik hängt, sondern die unwürdigen Verfehlungen des Fleisches, die alles andere unglaubwürdig machen. Bis auf die Musik.

Bach hat mit diesem Werk, das aus vielen schon fertigen Bestandteilen und deren Ergänzungen geschaffen wurde, am Ende seines Lebens eine unglaubliche integrative Leistung vollbracht. Christoph Wolff schreibt dazu in seinem Bach-Buch aus dem Jahre 2000 folgendes:

Wir wissen, daß Bach sich in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren ausführlicher mit der Messenkomposition befaßte und dabei zahlreiche Werke kopierte, aufführte und studierte, deren Repertoire von Palestrina bis zu Bachs Zeitgenossen reichte. In diesem Zusammenhang führte er etwa die sechsstimmige Missa sine nomine von Palestrina mit hinzugesetzten Cornetti, Posaunen und Basso continuo auf und die Missa sapientiae von Antonio Lotti. Kompositionsstudien mit unmittelbarer Einwirkung auf die h-moll-Messe schlossen ein das „Credo in unum Deum“ BWV 1081 (als Intonation der Messe in F-Dur von Giovanni Battista Bassani eingefügt) und eine kontrapunktisch um zwei Stimmen erweiterte Fassung des „Suscepit Israel“-Satzes BWV 1082 eines Magnificat von Antonio Caldara. In seiner ersten Fassung enthielt das Symbolum Nicenum (Credo-Teil) der h-moll-Messe lediglich acht Sätze, denn das Duett „Et in unum Dominum“ schloß ursprünglich auch den Textabschnitt „et incarnatus est…“ mit ein. Erst nachdem Bach die Arbeit an diesem Duett, wahrscheinlich sogar an der gesamten Partitur des Symbolum beendet hatte, beschloß er, die Textunterlegung des Duetts abzuändern, den „et incarnatus est…“-Abschnitt herauszulösen und für diesen liturgisch wesentlichen Text einen eigenständigen Satz zu schreiben, wie er üblicherweise in der Messentradition hervorgehoben wird. Der Gesamtaufbau entfaltete sich nun in neun Sätzen, das Symbolum erhielt eine zugespitzte Symmetrie: Bach formte die Ausgangslage von + 1 + 2 +1 + Sätzen (Chöre = Fettdruck) um in eine musikalische Architektur von 2 + 1 + 3 + 1 + Sätzen. [Seite 479]

Die Messe bietet das komplette Arsenal der Kompositionskunst in einer Breite und Tiefe, die nicht nur von theoretischem Scharfsinn zeugt, sondern auch von umfassendem Verständnis der Musikgeschichte, vor allem im Gebrauch alter und neuer Stile. Gerade wie sich die altkirchliche theologische Doktrin über die Jahrhunderte hinweg im Messetext überliefert findet, so bewahrt „Die große catholische Messe“ Bachs [Titelangabe im Nachlassverzeichnis von Carl Philipp Emanuel Bach] musikalisch-künstlerisches Credo für die Nachwelt. [Seite 481]

Quelle Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach / S.Fischer Frankfurt am Main 2000

Keine Angst vor dem Konterfei! Dieser Herr hat weder mit Palestrina noch mit Johann Sebastian Bach zu tun. Es geht um Musik, die zu Bachs Zeit als eine sehr alte und ehrwürdige galt und trotzdem für den Gebrauch im „modernen“ Gottesdienst attraktiv klingen sollte, daher die Hinzufügung der Instrumente: cornetti & tromboni plus Generalbass. Cornetti sind aber nicht hornähnlich, es handelt sich um Zinken (Tromboni = Posaunen). Stichworte „stile antico“ und Palestrina

Dasselbe Video im externen Fenster hier (zum leichteren Hin-und Herschalten) 

Palestrinas „Missa sine nomine“ in Bachs Bearbeitung für den praktischen Gebrauch: Ab 2:26 Et Incarnatus 3:05 Crucifixus 5:35 Et in spiritum 6:47 Et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam / 7:05 Confiteor unum baptisma“ [die Wort-Artikulation der anglikanischen Kirche (?) lässt zu wünschen übrig…]

BACH H-moll-Messe als Ganzes im Video die oben im Noten-Scan zitierte Stelle findet man bei 1:13:39 (Anfang ab 1:09:34) Extern: hier.

Das Inhaltsverzeichnis des grundlegenden Buches von Christoph Wolff aus dem Jahre 1968:

Quelle Christoph Wolff: Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs / Studien zu Bachs Spätwerk / Franz Steiner Verlag Wiesbaden 1968

Aus der Wiedergabe der Missa von Palestrina in Wolffs Werk (Anhang). Es handelt sich um den Anfang des „Kyrie“. Das Musik-Video oben dagegen beginnt mit dem Credo, zuerst die Intonation solistisch „Credo in unum Deum“, dann setzt der Chor fort: „patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium.“ Dieses Notenbeispiel dient uns nur als Information über die Bachsche Instrumentation und den Generalbass. (Der ganze Text zum Mitlesen beim Video hier.)

Noch ein Hinweis zu Varianten des lateinischen Textes, dessen Gebrauch zuweilen fälschlich Anlass gibt, von vornherein an einen „katholischen“ Hintergrund oder Adressaten des Werkes zu glauben. Eine Seite aus dem verdienstvollen Büchlein zur H-moll-Messe von Walter Blankenburg (1974):

Quelle Walter Blankenburg: Einführung in Bachs h-moll-Messe / Bärenreiter Verlag Kassel 1974 [Seite 14]

Wir möchten das geheimnisvolle Dunkel möglichst selten beschwören. In der Aufführung der Bachschen Missa am 16. November fand ich vor allem begeisternd, wie klar, positiv und hinreißend das ganze Werk im realen (nicht abgedunkelten) Kirchenraum wirkt. Ich werde aus Elliott Gardiners Buch „Musik für die Himmelsburg“ ein paar Stellen heraussuchen, die von Bachs Humor handeln und vom hinreißenden Tanz der Engel… diese Aspekte darf man nicht vergessen. Die Musik soll Feuer aus dem Geist schlagen, sie dient nie der Erzeugung von Depression. Auch nicht das Agnus Dei. (Aber das hat Blankenburg ja auch nicht gemeint.)

Eine vielleicht interessante Diskussion über die Worte „mente cordis sui“ im Magnificat habe ich vor ein paar Jahren wiedergegeben, und zwar hier . Im ersten Moment hatte ich nun Sorge, es würde wieder alles aufs neue in Frage gestellt und vor allem: die wirklichen Fachkenner bräuchten diese Aufklärung gar nicht. Sie wissen es längst, und nur ich stelle die überflüssigen Fragen. „Gloria ejus“ oder „Gloria tua“? Wie schön wäre es, wenn hier endlich eine echt konfrontative Lösung winkte: protestantisch = „ejus“, katholisch = „tua“. Da steht es doch! Gottseidank, altissime!

Und dann steht da bei Blankenburg aber auch noch : „In dem an Festtagen gebrauchten lateinischen Sanctus hieß es allerdings auch nach der lutherischen Form ‚gloria tua‘ „. Hilfe! Ich bitte um ein neues Konzil!

Timor Dei – Die Furcht des Herrn wird mich schlimmstenfalls mein Leben lang begleiten. Sehen Sie, wie es in der ersten Schulzeit begann und Jahrzehnte später wieder hervorkroch. HIER. Aber dafür habe ich schließlich Latein gelernt, um auch dem geistlichen Leben gewachsen zu sein, und zwar lebenslang, genaugenommen, – bis ich den Geist aufgebe.

Wann ist Musik?

Schwer zu lösende Fragen

Es ist eine große Hilfe, die richtigen Fragen zu stellen und nicht die unlösbaren zu forcieren. Wenn mich die Musik selbst zum Nachdenken bringt und ich nicht nachbeten will, was ich als emphatische Aussage dazu angeboten bekomme, genügt es zunächst einmal, alles abzulehnen, was sich im Allgemeinen bewegt und in hundert konkreten Fällen nichts Triftiges sagt. Beispiel einer emphatischen Aussage: „Bachs Kunst der Fuge ist ein Mysterium“, daraus kann ich gar nichts Produktives folgern; als angemessene Reaktion bliebe nur, auf die Knie zu fallen. Auch was Schopenhauer sagt, mag für Wagner noch so viel bedeutet haben, es bleibt wolkig und würde sich erst dann bewähren können, wenn er es auch in Wagners Musik wiedererkannt hätte. Aber er bevorzugte Rossini. Eine Ästhetik, die aus der Neuen Musik kommt, kann ich nicht akzeptieren, wenn sie im Angesicht der Wiener Klassik belanglos wird; wenn sie etwa über die bewegenden Motive der Musik Mozarts oder Beethovens nichts Neues aussagen kann und auch über das alte Wissen nicht mehr differenziert verfügt. Und in einer wirklich neuen Ästhetik der Musik wäre aus meiner Sicht erst dann Vertrauen möglich, wenn darin ein Satz wie der folgende zu finden ist:

Richtet man den Blick auf Musikformen außerhalb der europäischen Tradition oder auch in die historische Vergangenheit dieser Tradition selbst, so werden Verallgemeinerungen zunehmend schwierig.

Christian Grüny sagt dies schon in der Einleitung seines Buches über „Die Kunst des Übergangs“ und fährt fort:

Die historische und interkulturelle Reflexion mag zur Folge haben, daß man die Frage insgesamt für verfehlt erklärt und sich auf die sozusagen historistische Untersuchung beschränkt, was zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten als Musik praktiziert und verstanden wurde – eine aus philosophischer Perspektive unbefriedigende Situation. Es ist eine typisch philosophische Reaktion darauf, die Frage radikal situativ umzuformulieren: Wann ist Musik?

So zu fragen, nimmt die historische Reflexion und auch die Erfahrung der Entgrenzungsbewegungen in den Künsten des 20. Jahrhunderts gleichermaßen beim Wort und geht philosophisch dennoch aufs Ganze. Die Frage geht von einer radikalen Kontextabhängigkeit aus, zugunsten derer jede Wesensbestimmung fallengelassen werden muß. Die Antwort müßte dann letztlich lauten: Musik ist dann, wenn wir etwas als solche hören. „Wir“ kann hier Chiffre für eine gesellschaftliche Institution sein, für eine auf andere, losere Weise bestimmte Praxis oder auch für die bloße Willkür einzelner Hörer.

Mit dieser Definition bin ich vorerst ganz glücklich und lasse mich gern auf alles weitere ein. Oder bescheide mich, nunmehr alles zur Kenntnis zu nehmen, was sich für den Autor aus diesen Praeliminarien ergibt. Und seien es die alternativen Fragen: „Wie ist Musik? Auf welche Weise artikuliert sie sich? Und auf welche Weise wird etwas als Musik erfahren? So zu fragen, nimmt die Musik nicht als Vorliegendes, an das sich Wesensfragen adressieren lassen, läßt sie aber auch nicht situativ immer wieder auf dem Spiel stehen.“ (Grüny S.8f)

Quelle Christian Grüny: Kunst des Übergangs / Philosophische Konstellationen zur Musik. / Velbrück Wissenschaft / Weilerswist 2014 [farbliche Hervorhebungen: JR]

Ich belasse es dabei, nehme die in diesem Zusammenhang genannten Autoren zur Kenntnis – unter ihnen alte Bekannte: Adorno, Dahlhaus, Bergson, Susanne K. Langer, Hegel, Husserl u.a. – und versuche irgendwo anzuknüpfen, um später hierher zurückzukehren. Neu ist für mich Lydia Goehr und ihr schöner Satz: Music is marvellous, but not mysterious. Das folgende Bild kann man durch Anklicken vergrößern, das Video abrufen jedoch nur Hier .

Gesetzt ich hätte es zweimal abgehört und angeschaut: Damit hätte ich für heute genug getan und arbeite im stillen Kämmerlein weiter, bis ein neues Bedürfnis nach Verschriftlichung entsteht…

Nachtrag:

Music has no secrets, and yet its form and meaning elude our most earnest attempts to describe them.

(Roger Scruton)

Ästhetik ist aber keine angewandte Philosophie, sondern philosophisch in sich.

(Theodor W. Adorno)

Vorspiel:

… ein Stück,

das gerade kein Musikstück ist: der Tanzperformance Both sitting duet von Jonathan Burrows und Matteo Fargion. An diesem Stück kann man meines Erachtens Entscheidendes über musikalische Zusammenhänge lernen. [Seite 15]

Die Interaktion zwischen den beiden Akteuren ist als komplexes Geflecht von Parallelen, Wiederholungen, subtilen Verschiebungen, gegenseitigem Aufgreifen von Bewegungen, rhythmischen Anschlüssen und Kontrasten organisiert. Was man vorgeführt bekommt, ist höchst stimmig und in sich überzeugend, unterscheidet sich aber in mehrfacher Hinsicht fundamental von dem, was man als Tanz zu sehen gewohnt ist.  [Seite 19]

(Christian Grüny)

Hier

Siehe auch hier

Hausfrau in Seesen 1905

Das Kochbuch 1877 als Vermächtnis

Neues praktisches Kochbuch / für / die gewöhnliche und feinere Küche / von / Henriette Sander / geb. Düwel, / Wittwe des Posthalters Heinrich Sander in Elze / Verlag Carl Meyer Hannover Hinüberstraße 18 ( 2. Auflage 1877)

Besitzerin: Luise Hörmann in Seesen. Es war wohl ihre Tochter, die später zur Schwiegermutter meiner Tante Ruth Rühling geb. Rw (* 1913) wurde, nämlich: Frieda Rühling geb. Hörmann, dies Buch also hat sie wahrscheinlich von Mutter Luise geerbt. Tante Frieda war zu meiner Zeit berüchtigt als „Nervensäge“. Sie wohnte immer in der Nähe oder im Haus ihres Sohnes Fritz (der mit Tante Ruth verheiratet war), zuerst in Goslar (?), dann in Alfeld (Leine), in Misburg und in Hannover. Auf dem Foto (1953) vor dem neu erworbenen, etwas ärmlich wirkenden Misburger Häuschen (das dann ausgebaut und erweitert wurde), mitten im Wald, „Am alten Saupark“, für mich ein Ferienparadies: links außen Tante Ruth, dann Tante Frieda, schräg hinter ihr der Gatte Friedrich und dahinter der gemeinsame Sohn Fritz. (Wie hätte er denn sonst heißen können?)

 August 1953

Zeitsprung: weitere 50 Jahre zurück. Zum Kochbuch: Gutbürgerliches Ambiente der wilhelminischen Zeit, vor dem ersten Weltkrieg. Wahrscheinlich noch wie bei Fontane. Das Einkochen (Einmachen, Einwecken) spielte eine große Rolle, wie ich es noch aus der Zeit des Fotos – nach dem zweiten Weltkrieg – erinnere: Einmachgläser („Weckgläser“ mit Glasdeckel und Zwischengummi), vorwiegend Obst: Pflaumen, Birnen, Himbeeren, Johannisbeeren. Im Kochbuch geht es aber noch um Steinguttöpfe, wenn man die vorletzte unten wiedergegebene Seite verallgemeinern darf. Siehe auch Wikipedia hier und hier.

          

Frommer Rätselspruch bei der Schenkung? Listige, auf den Hausherrn bezogene Doppeldeutigkeit? Ein Scherz liegt nahe. (Aber doch nicht mit dem jüngsten Gericht?!)

Um die krasse Gegenwart nicht zu vergessen: es gibt keinen anderen Grund als den Zufall, dass dieses Kochbuch sich gerade heute zum Scannen anbot, denn gestern Abend haben wir eine H-moll-Messe gehört, die es wert wäre, den ganzen nachfolgenden Tag nur dieser Musik zu widmen. Seit wann kenne ich sie? Sie stand im Notenschrank meines Vaters (auf dem Foto neben Onkel Fritz bzw. als dritte Person von rechts), und Bach wurde gerade mein Lieblingskomponist.

  

Eine hervorragende Aufführung, aus einem Guss, gute Tempi. Mir fiel auf, in welchem Maß der Ablauf aller Einzelteile sich dramaturgisch zu einem Ganzen fügt, – wenn ein guter Dirigent es darauf anlegt. Und ihm wunderbare Solisten zur Seite stehen: die überschwängliche Solovioline, die sanfte Flöte, die sich erbarmende Oboe, das getreue Horn, ja, ein Corno di caccia, – früher eine Angstpartie, und immer noch spürt man die Nähe des Abgrundes, „tu solus dominus“: es ist kein Instrument der Herrschaft, sondern der Verinnerlichung, und genau so soll es sein, die fremd tönende Septim, der Versuch eines Trillers, jeder einzelne, errungene Ton. Ich habe die Glücksmomente von Aufführungen im Ohr, bei denen ich vor Jahrzehnten im Orchester saß: Walter Lexutt, Andrew Joy… Auf das Horn-Solo warte ich. – Die Solosänger(innen) waren mir fast zu präsent im Raum, sie sind Textträger, aber nicht wichtiger als die Instrumente. Und ohne die überzeugende Leistung der Chöre schmälern zu wollen, wird mir klar, dass ich von Knabenstimmen geprägt bin und deren kristallenen Anteil herbeiphantasiere, – meine Schuld. Denn diese Mischung dreier Chöre grenzt an ein Wunder des homogenen Klangs. Eine Meisterleistung des Dirigenten. (Nebenbei ist es ein Vergnügen, ihn bei der „Arbeit“ zu beobachten; die Bewegungen sind funktionell, und sie „passen“ zur Musik.) Das fabelhafte Orchester – siehe unten – soll nicht als Kollektiv untergehen, jeder einzelne lobenswert – die Facetten des Klangs kamen mir vertraut vor, wie aus fernen Zeiten…

l’arte del mondo Einstudierung Werner Ehrhardt

Was bleibt?

  

Da ist diese Ungeheuerlichkeit des „Et expecto“ und der dramatische Umschwung mit den aufspringenden D-dur-Dreiklängen, aber vor allem die maßvolle, abschließende Bitte „Dona nobis pacem“, die musikalisch mit dem Dank „Gratias agimus“ vom Anfang identisch ist. Das bleibt als Essenz der ganzen Messe. Vielleicht in einem umfassend diesseitigen Sinne.

Oder vielleicht nur für mich? Während andere es als großes Glaubensangebot verstehen. Darüber darf man schweigen.

Ich beende diesen Eintrag so privat, wie er begonnen hat, aber nicht im Umkreis von Tante Frieda. Da ich eben die Besetzungsliste durchgegangen bin, die mich wehmütig berührte, darf ich eine andere aus dem Jahre 1985 anhängen; sie befand sich in meinem Bach-Buch von Malcolm Boyd, das ich damals gerade neu war. Für diese Jahre bin ich dankbar.

Musica Antiqua Köln 24. Mai 1985

Mitleid und Freiheit

Von Kindern, Tieren und Pflanzen

Südtirol 2019 (Foto JR)

Ich gebe zu, dass es eine Provokation ist, diese Begriffe zusammenzudenken. Aber man darf sich nicht von Vorstellungen eines falschen Friedens ablenken lassen. Es geht um den Widerstand gegen Denkgewohnheiten.

 

Dieses Bild hing im Schlafzimmer meiner Großeltern an der Wand, bis zuletzt, und die beiden Kühe im Stall hatten es gut; das Heu, das sie im Winter bekamen, war handverlesen und gelüftet, aber die Gemeinschaft eines Bären oder Löwen wurde ihnen nicht zugemutet, und mein Großvater hatte kaum Sympathie für den palmwedelnden Kind-Engel. Anders als meine Oma hätte er die Stelle in Jesaja 11 nicht mehr gefunden, vielleicht nicht einmal das Heilige Buch, aus dem das Zitat stammt. In seinem Leben hatte es eine Kehrtwende gegeben. Alles was er brauchte, stand nun in biologisch-dynamischen Ratgebern, maßgeblich war ansonsten – auch für mich in frühen Jahren – ein zerschlissenes Werk mit dem unschlagbaren Titel: „Realienbuch“. Was ich beiden verdanke, – dem Buch wie dem Opa -, war eine unsentimentale Empathie für Tiere.

Daher war ich wohl auch 10 Jahre später so empfänglich für bestimmte Lektüren, die sich mit den Realien der lebendigen, körperlichen Welt abgaben. Das begann in „meinem“ Bezugssystem mit Albert Schweitzer (Bach, Musik, Medizin, Afrika, Tiere, Leben), und verlegte sich dann auf Schopenhauer und Nietzsche, ob ich sie nun verstand oder nicht.

Quelle Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral / III. Begründung der Ethik § 19

Man kann getrost ignorieren, was der Autor da – zeitbedingt (1840) – mit dem Wort „foetor Iudaicus“ markieren will: er ist einer der ersten in der Reihe der Philosophen, die sich aller Lebewesen annimmt, die schutzbedürftig sind, auch der Tiere, einer Tradition, an deren Ende heute Peter Singer oder Richard David Precht stehen.

Der direkte Link zum Beitrag der ttt-Sendung folgt HIER

ZITAT Precht ab 1:51 Im 18. Jahrhundert war Botanik das große Thema, weil das eine Möglichkeit war, über Sex zu reden. Also die Befruchtung und Bestäubung der Pflanzen usw. war ein Vehikel, um einen Sexualdiskurs in gebildeten bürgerlichen und adligen Kreisen zu führen. [andere Stimme] Darwin zum Beispiel habe seine Vorstellung von der Evolution im Kapitalismus des viktorianischen Zeitalters entnommen. [Precht] Ich glaube, dass allein die physische Präsenz einer Bibliothek ein anderes Verhältnis zur Bildung vermittelt als nur das schiere Wissen, dass man es nachschlagen kann, wenn es als sinnliches Objekt nicht mehr vorhanden ist. 2:27

Der interessante Gedanke zum Sexualdiskurs wird nicht weitergeführt (Schnitt?). Man kann dies bei Foucault nachlesen, siehe „Sexualität und Wahrheit“  Kapitel I Wir Viktorianer II Die Repressionshypothese, darin 1. Die Anreizung zu Diskursen.

ZITAT ab 3:24 Diese Fische sind viel intelligenter als sie sein müssen. Und sie sind ja nicht deswegen intelligent geworden, weil es die Evolution ihnen abverlangt hat, so intelligent zu werden. Und das ist beim Menschen genau das gleiche, also es gibt ja immer diese Vorstellung, der Mensch wäre in Anpassung an die Umwelt so intelligent geworden, wie er heute ist. Aber alles was wir heute machen, also Symphonien komponieren oder Infinitesimalrechnungen sind keine Anpassung an irgendwelche Umwelten. Das einzige, was uns heute abverlangt wird, ist nur Anpassung an kulturelle Umwelten, aber auch das setzt keine Spitzenleistung voraus, da muss man einfach nur halbwegs sehen, dass man mittelintelligent ist und mit jedem klarkommt. Also so würden sich viele Dinge überhaupt nicht erklären lassen. Sondern in der Evolution setzt sich alles das durch, was keinen tödlichen Nachteil hatte. 4:02 [über Kraken!]

Was wollte ich noch mit der Überschrift…? Manche Menschen weichen aus auf die Tiere, sie lieben Katze und Hund, weil diese manipulierbar sind und Ersatz bieten für die allzu komplexen Verbindungen unter Menschen. Eins habe ich mit Precht gemeinsam: es gab eine Zeit, in der ich Zoodirektor werden wollte (seltsamerweise kam ich nie auf die Idee, mich mit dem Beruf des Tierwärters zu bescheiden). Als weitere Möglichkeit sah ich den Beruf des Försters (Herr über ein riesiges Waldgebiet, aber ohne den Gebrauch einer Flinte). Bei meiner Konfirmation war ich ziemlich strenggläubig, Albert Schweitzer schien mir als Vorbild geeignet, und bei ihm las ich, dass man zugleich Nietzsche lesen „darf“.

ALBERT SCHWEITZER: Ehrfurcht vor dem Leben (und Begrenzung)

 Differenzierung nach Komplexität?

Quelle Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken / Richard Meiner in Hamburg 1954 (1931)

FRIEDRICH NIETZSCHE (Morgenröte): Ist es nur Sentimentalität?

 

Quelle Friedrich Nietzsche: Morgenröte / Gedanken über die moralischen Vorurteile / Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1952

DOSTOJEWSKI-Lektüre (1959/60): Ich gebe die Eintrittskarte zurück

      

      

Quelle F.M. Dostojewskij: Die Brüder Karamasoff / Aus dem Russischen von E.K. Rahsin / Deutsche Buch-Gemeinschaft Berlin Darmstadt, Wien  (Piper 1925) 1958

Was ist geblieben? Sympathie (Empathie) für das Tier, verkörpert nicht nur in Singvögeln. Skepsis gegenüber Menschen und Ideologien.

 

Texel 2015: Halbwilden Tieren vertrauend (nicht zur Nachahmung empfohlen)

Jürgen Giersch, der Maler (s.a. hier), beschwört Nietzsches Umarmung der vom Kutscher misshandelten Tiere, ein erschütterndes Bild:  die Welt ist aus den Fugen, die ins Licht führende Röhre erinnert an den Aufstieg der Seligen bei Hieronymus Bosch, aber hier ist kein Trost, nicht einmal zwischen den beiden Tieren.

 (©JG 2017,3) bitte anklicken!

… das Unheimliche an dem Vorgang hat mich am meisten ergriffen, denn Nietzsche hatte vorher in der Straße verkündet, daß er Gott sei. Und diese Barmherzigkeit mit dem geschlagenen Tier leuchtet sanft heraus aus der Finsternis seines Wahnes.

An der Nordsee, in St.Peter-Ording hatte ich auch den Pferden zugeschaut, – den Spiegelungen auf dem Fell, – unvergessen ist auch ein großes schwarzes Pferd bei einem lokalen Turnier, auf dem ein etwa zehnjähriges blondes Mädchen saß in einem weißen, von den Hüften abstehenden Rock, wie er auch von Tennisspielerinnen getragen wird. Das große Tier trabte an den Hindernissen vorbei, es gehorchte seiner kleinen Herrin nicht, und doch erschienen mir die beiden als die Sieger… (JG 6.11.2019)

Keine Sieger, aber zu zweit (Langeoog 2013 JR)

Willkommener Besuch im Garten HEUTE MITTAG 16. November 2019 (Foto: E.Reichow)

  

Nachtrag zum Mitleid

Folgenden Artikel lesen: NZZ „Humanismus für alle – warum die Kälte des Herzens den sozialen Frieden bedroht“ 13.1.2020

Mitgefühl für den Schmerz von Fremden ist ein wichtiger Kitt unserer Gesellschaft. Wer sein Herz gegenüber dem Leid anderer verhärtet, um wahnhaft utopischen gesellschaftlichen Idealbildern nachzuhängen, vergeht sich an der Humanität des Menschseins. Von Peter Strasser HIER.

Wikipedia über den Autor hier.

In dem Artikel geht es auch um Peter Handke und um Nietzsche, – zwei Zitate:

1) Nun, mit moralischem Defizit, einem ethischen Nihilismus hat Handkes «Gerechtigkeit für Serbien» gewiss auch zu tun. Doch die Grundlage dieses Defizits ist – und hier wäre weiterzudenken – die Unfähigkeit, Mitleid zu empfinden. Wie ist es möglich, fragt man sich, dass ein begnadeter Autor, der mitten in das postmoderne Getümmel an «Dekonstruktionen» und «Narrativen» eine Fähigkeit zur Naturbetrachtung einbringt, die völlig singulär ist (man lese nur einmal sein Journal «Die Geschichte des Bleistifts», 1982) – wie ist es möglich, dass diese Gabe, uns einen neuen Blick auf die Welt zu schenken, mit einer Fühllosigkeit für die Geschundenen, Gefolterten, Hingeschlachteten einhergeht? Bloss, weil die Westmächte angeblich ein kriegslogistisches Spiel mit dem «Traumland» Titos, das heisst der zerfallenen kommunistischen Diktatur namens Jugoslawien, spielten? Das wäre doch eine absurde Logik! Indessen hat man auch diese schon bemüht, um Handkes poetische Mitleidlosigkeit zu rechtfertigen.

2) Die – vermutlich gut erfundene – Episode über den nervenschwachen Nietzsche ist von weitreichender Bedeutung. Wir empfinden Mitleid, wenn wir das Wesen, das leidet, zugleich als eines erleben, das uns nahesteht. Dabei mag es sich um ein Pferd oder einen Menschen handeln. Auf dieselbe Weise werden wir jedoch kaum jemals Mitleid mit denjenigen empfinden, die als Teil einer Menge oder Masse leiden. Wenn wir an die Männer, Frauen und Kinder denken, welche von den Nazis in die Gaskammern gepfercht wurden, dann beschleicht uns – sofern wir keine Psychopathen sind – ein Grauen, das sich weder in Worte fassen lässt noch eigentlich ein Gefühl zu nennen ist. Wir erstarren innerlich, eine Kälte breitet sich aus, so als ob die Welt des Menschen zu existieren aufgehört hätte.

Gauguins Illusion

Auch ich?

 SZ 12.Nov 2019

Warum frage ich? Weil ich mich direkt betroffen fühle. Das Noa-Noa-Buch, wahrscheinlich in Ost-Berlin bei unserer Klassenfahrt im Jahr vor dem Abitur gekauft, mit gutem Grund, die Paradies-Phantasien begleiteten mich seit Jahren, auch bei der Lektüre (Bildbetrachtung) der Kunstbücher meines Vaters. Aus meiner Sicht war es keine blinde Schwärmerei, – ich nahm Gauguins kritische Haltung verdrießlich zur Kenntnis:

Quelle Paul Gauguin: NOA NOA Mit einem Nachwort von Kuno Mittelstädt Henschelverlag Berlin 1958

Und weiterhin über Jahrzehnte nachwirkend, alle ethnologischen Interessen waren so getönt, was ich später allerdings einigermaßen differenziert aufzuarbeiten versuchte. Siehe hier (zum immer wiederkehrenden Thema Paradies). Und so elektrisierte mich auch jetzt der ausgezeichnete Artikel von Sonja Zekri in der Süddeutschen hier.

ZITAT

Der französischen Regierung hatte er in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung ethnologisches Interesse vorgespielt, aber in Wahrheit benutzte er die Farben und Bräuche der Südsee immer mit Blick auf die westliche Kunstszene. (…)

Selbst wenn Gauguin sein Bild als kritischen Kommentar zum westlichen Einfluss auf sein Südseeparadies gemalt hatte, so führt seine Darstellung scheinbar naturhaft dargebotener weiblicher Blöße doch zum Kern des Dilemmas. Dieses liegt nicht in seinem Leben. Bei einem Künstler, der seine Frau mit fünf Kindern sitzen ließ und auf Tahiti zwei Minderjährige, eine davon 13 Jahre alt, „heiratete“ und schwängerte, kommt man ohne die Trennung von Künstler und Werk ohnehin nicht weit. Gewiss, er setzte als weißer Kolonialherr alle Hebel in Bewegung, um seine sexuellen Fantasien auszuleben. Aber er benahm sich in vielerlei Hinsicht nicht schlimmer als seine Zeit.

Lässt man all das beiseite, bleiben dennoch: die Bilder.

Quelle Süddeutsche Zeitung 12. November 2019 Seite 11 Auch ich in Ozeanien Kann man Paul Gauguins Südsee-Mädchen heute noch zeigen? Eine Londoner Ausstellung zu seinen Porträts versucht es. Allerdings verzichtet sie weitgehend auf Gemälde nackter Frauen. Von Sonja Zekri (Artikel abrufbar siehe unmittelbar vor dem Zitat.)

Zur Londoner Ausstellung  → → → Hier 

Frühe Sehnsuchtsregionen? Klassenfahrt 1958

 

Quelle Noa Noa s.o. / unten: Klassenfahrt Berlin 1958

Hatte ich „Noa Noa“ in der Jackentasche?