Archiv für den Monat: März 2019

Lieben Sie Brahms…

… mit Glenn Gould?

Ich behaupte, es sind Laien und seltsamerweise auch einzelne Kenner aus dem Lager der Neuen Musik, die mir raten, mein negatives Urteil betr. Glenn Gould zu überdenken. Immerhin habe er doch in jungen Jahren auch eine sehr sensible Interpretation der späten Brahmsstücke eingespielt. (Über das 1. Klavierkonzert unter Bernstein will begreiflicherweise niemand diskutieren. Ich auch nicht.)

Nun habe ich mir zur Sicherheit noch einmal op. 118 Nr. 6 angehört, mit frischen Ohren – nach der langen Beschäftigung, siehe hier – durchaus zu einer vorsichtigen Revision bereit. Es fängt ja in der Tat auch weniger exzentrisch an. Aber geht es mir denn darum? Ich sage nichts über das zu frühe Crescendo im zweiten Takt, eigentlich beginnt mein Unmut erst im Mittelteil, dem jede glaubwürdige Kraft fehlt.

Ich spreche also nicht von der Missachtung der Staccato-Punkte im Mittelteil (ab Takt 41), – stattdessen alles vom Pedal aufgeweicht -, auch nicht von versehentlich falschen Tönen wie im Takt 50 die hohe Oktave, nicht vom Accelerando im Fortissimo-Takt 53f, das nicht geschrieben steht; nicht von der Arpeggio-Aufweichung der Akkorde hier und in Takt 60f. (Arpeggierte Anschläge stehen ausdrücklich in den Takten davor und danach, wo sie eher akzentuierend gemeint sind.)

Ich spreche vielmehr von den sinnlos veränderten Tönen im ZIEL des ganzen Stückes, den Takten 81 bis 83: in Takt 81 hat der Pianist aus unerfindlichen Gründen den Ton „as“ auf dem 2. Achtel der rechten Hand eine Oktave höher gelegt, also über den Melodieton „ges“. Und er hat den wunderschönen Ges-dur-Sextakkord auf dem letzten Sechzehntel des Taktes 82 verdorben, indem er den Ton „des“ in ein „d“ korrigiert hat, als vorweggenommenen Leiteton, der laut Brahms ja erst am Anfang des nächsten Taktes erscheinen sollte, innerhalb des Dominantseptakkordes auf dem Basston B. Ein wirklich unverzeihlicher Akt der Willkür!

Heute neu:

Und es wäre nichts wichtiger, als an dieser Stelle zu klären, dass dieses großartige philosophische Buch, in dessen Mittelpunkt die Musik steht, das Wort Fühlen keinesfalls mit dem Wort Gefühl gleichzusetzen ist. Es hilft auch nicht, stattdessen das Wort Emotion oder Emotionalität zu verwenden. Dazu an anderer Stelle ein paar notwendige Erläuterungen. Denn gerade die Liebe zu Brahms führt leicht zu dem Irrglauben, dass es in der Musik allein auf „das Gefühl“ ankomme.

Dvořáks Meise

Zu deutsch: Scharlachtangare, es ist keine Meise, sondern gehört zur Familie der Kardinäle, bei Wikipedia hier. Weitere Bilder und Tonaufnahmen hier.

Folgendes Zitat aus: Klaus Döge: Dvořák / Leben Werke Dokumente / Serie Musik Piper Schott ISBN 3-7957-8277-5 /Seite 225 f

Ein Vogelruf war es auch, den er 1893 während seiner Sommerferien im amerikanischen Dorf Spilville, wo er nach acht Monaten Stadtaufenthalt endlich die Vögel wieder singen hörte, notierte …

Anmerkung (a.a.O.): 

Zum Cleveland Quartet Antonín Dvořák: String Quartet No. 12 in F major, Op. 96 „American“, dritter Satz: Hier klicken 16:14

Fundstück

Beim Studium des Buches „New Worlds of Dvořák“ von Michael B. Beckerman (W.N.Norton & Company New York London – 2003) entdeckte ich diesen Hinweis auf ein Buch mit Notationen von Vogelstimmen, 1892 veröffentlicht, das James Huneker dem Komponisten zugänglich gemacht haben könnte. Dieser Mann war Dr. Dvořáks Klavier-Kollege am New York Conservatory und führte ihn gelegentlich durch die Stadt: „Wir begannen bei Goerwitz und beschrieben einen riesigen Kreis durch den großen Durst-Gürtel von Zentral New York. An jedem Platz nahm Doc Borax einen Cocktail. (…) Wir sprachen deutsch und ich war froh, einen Mann zu treffen, dessen Akzent und Satzbau noch schlechter waren als meine.“ (Beckerman Seite 81)

 oberes Bild!

Ich habe mich auf die Suche begeben und eine Kopie im Internet gefunden (der Link folgt später):

Oum Kalthoum, eine Beschwörung

Al-Atlal – Die Ruinen

 Hier anklicken & ab 31:00 (Gesang 33:18)

Sängerin: Mai Farouk / ab 31:00 Vorspiel, Qanun-Solo, kleine Ansprache, Dank. Musik AL ATLAL bis 01:00:43. Beifall. Musik Neubeginn 01:02:22 Auftritt Sängerin Abeer Nehme: „Ehkili“ – „Parle-moi de mon pays“ bis 1:09:07 Neuer Titel (mit Chor und Tanz) bis 1:13:36 Neuer Titel ab 1:14:05

ARTE-Text:

Fairuz, Umm Kulthum, Leila Murad, Warda al Djazairan, Asmahan, Mayada Alhenawy – die Namen dieser Diven lassen die Herzen in der arabischen Welt höherschlagen. Im Westen sind diese in ihrer Heimat durchweg berühmten Künstlerinnen dagegen kaum bekannt. Drei junge arabische Sängerinnen interpretieren die Lieder ihrer großen Vorbilder in einem außergewöhnlichen Konzert.

Göttinen, Diven, Idole, Mythen – Seit den 1940er Jahren hat die arabische Welt zahlreiche Frauenstimmen hervorgebracht, die die Herzen von Männern, Frauen und Kindern haben höherschlagen lassen. Ob Umm Kulthum oder Leila Mourad aus Ägypten, Warda al Jazairia aus Algerien, Fairuz aus dem Libanon, Mayada El Hennaway aus Syrien oder die syrisch-ägyptische Diva Asmahan: Die Grandes Dames arabischer Populärmusik haben ganze Kulturkreise fasziniert. Zugleich verkörperten sie die Aufbruchsstimmung eines sich modernisierenden Volkes. Doch bis heute sind die orientalischen Diven und ihre Stücke in Europa kaum bekannt. Um dem entgegenzuwirken, veranstaltete die Pariser Philharmonie im Zuge der Ausstellung „Al Musiqa“ des Musée de la musique, die vom 6. April bis 19. August 2018 stattfand, zwei Wochenenden, die ganz im Zeichen arabischer Musik standen. Dazu lud sie am 12. Mai 2018 drei Sängerinnen dazu ein, im großen Saal die schönsten Stücke der arabischen Legenden neu zu interpretieren: Die libanesische Sängerin und Musikwissenschaftlerin Abeer Nehme, die im religiösen Register ebenso bewandert ist wie im populären, Dalal Abu Amneh aus Palästina, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr von ihren Musikerkollegen gefeiert wird, und Mai Faruk, eine der schönsten Stimmen Ägyptens. Begleitet wurden die drei Sängerinnen vom Orchestre du monde arabe unter der Leitung des palästinensischen Dirigenten Ramzi Aburedwan. Die Lieder handeln von Liebe, Poesie und vom Leben der arabischen Frauen.

Noch abzurufen bis 31. März 2019 ! Mai Faruk des weiteren auf youtube: Solo (mit Ud-Begleitung) hier. Ausschnitt aus Konzert in Muscat 2017 „KULTHUMIYAT“ hier.

Im folgenden Youtube-Film Gesangseinsatz auf 3:18 (im externen Fenster hier) 59:30

Man kann in diesem Video eine synchron unterlegte englische Übersetzung abrufen! Separate (ungeprüfte) Textquelle hier

Titel: El Atlal / Künstlerin: Oum Kalthoum / Album: El Ammal – El Atlal / Lizenziert an YouTube durch ODIENCE Audio, Stars For Art Records (im Auftrag von AWLTD); ASCAP, Stars for Art, SODRAC und 4 musikalische Verwertungsgesellschaften

(Vergrößerung der Originaltranskription ©GB)

Quelle Gabriele Braune: Die Qasida im Gesang von Umm Kultum / Die arabische Poesie im Repertoire der größten ägyptischen Sängerin unserer Zeit / Band I Text, Band 2 Notationen / Verlag Karl Dieter Wagner, Hamburg 1987 / ISBN 3-88979-033-X

Vor über 30 Jahren erschien die Dissertation von Gabriele Braune im Druck, und es wäre wohl angebracht, einmal außerhalb des akademischen Bereichs zu zeigen, wie solche Transkriptionen arabischer Musik für musikalische bzw. der Notenschrift kundige Menschen zu nutzen wären. Zunächst einmal sind sie im Original kaum lesbar, man muss sie vergrößern, was hier exemplifiziert ist: man kann die Seiten a) anklicken und b) danach per Plus-Zeichen (+) noch einmal vergrößern. Zuweilen wird man gewarnt: Die Schrift helfe im Fall der arabischen Musik nicht, sie sei nicht für die Verschriftlichung und das Notenstudium geschaffen. Aber es genügt (aus unserer Sicht), genau dies zu wissen und die Methode dennoch anzuwenden. Denn wir Westler haben die Orientierung im musikalischen Raum so gelernt. Sie hilft uns, selbst wenn wir uns nach der visuellen Einübung ganz den Ohren anvertrauen wollen. Der Gesang beginnt auf der Seite 2 (55), Zeile 3, und wird fortgeführt in den Zeilen 5 und 7, die römische I vor den Doppelzeilen (= Gsg. und Instr.) bedeutet Strophe I, die Strophe II beginnt also in Zeile 11. Der arabische Modus, der Maqam, der dieser ganzen Qaside zugrundeliegt, heißt Huzam, der genau wie der Maqam Sikah (auch: Segah o.ä.) von einer dreitönigen Grundformel ausgeht. Deren oberer Rahmenton ist dann üblicherweise der untere Rahmenton der nächsten (viertönigen) Tongruppe; ihr können sich nach oben hin weitere Tongruppen anschließen, so dass diese Folge von Tongruppen äußerlich das Material einer Tonleiter ergibt, die folgendermaßen aussehen könnte: hier. (Töne anklicken und einprägen. Das Wort jins in diesem Notenbeispiel entspricht unserm Wort Tongruppe oder Genus.) Im Fall unserer Oum-Kalthoum-Qaside ist der Maqam Huzam (zugunsten der Stimmlage) eine Quinte tiefer transponiert; der Ton mit dem Schrägstrich durch das b bedeutet im arabischen Tonsystem die Vertiefung um einen Viertelton. Die Tonleiter sähe nun also folgendermaßen aus:

Während man die Aufnahme Al-Atlal vom Gesangseinsatz an hört, präge man sich ein, was in welcher Tongruppe geschieht, – was also die tonalen (ornamentalen) Möglichkeiten innerhalb der Tongruppen sind. Es ist z.B. fraglich, ob der Ton „des“ wirklich zum Genus Sikah gerechnet werden kann; er ist nur eine (starke) Wechselnote des Tons „c“, der den oberen Rahmenton des Genus Sikah markiert. Dieser Ton „c“ ist zugleich Basis (unterer Rahmenton) des nächsten Genus Hijaz. – Man stelle also die Youtube-Aufnahme im externen Fenster kurz vor Gesangseinsatz ein, und konzentriere sich sofort nach dem Start auf dieses erste Maqam-Huzam- bzw. Genus-Sikah-Bild (erst später auf die detaillierte Notation). 

Der erste Abschnitt geht bis 4:18, die Töne des Genus Sikah mit den nächsten Nachbarn unten (g) und oben (des, wichtig). Gleich danach – am Ende der Zeile 10 – sieht man im Orchesterzwischenspiel, dass die ganze Skala im Hintergrund präsent ist, bis 4:33. (Man hat bei 4:24 den Eindruck, dass die Sängerin schon wieder einsetzen könnte, wahrscheinlich ist die Wiederholung der letzten Orchesterphrase ad libitum! Ohnehin gibt es Wiederholungen gegenüber der Notation, denen ich jetzt nicht nachgehe, wahrscheinlich folgt sie einer anderen Aufführung; auch meine vor langer Zeit mit Bleistift eingetragenen Zeitangaben kommen aus einer anderen Aufnahme und sind zu ignorieren!) 

Ich sprach von der Skala. Aber welche ist es wirklich? Nicht die notierte, sondern die des Maqam Rast, der mit Huzam oder Sigah eng zusammenhängt. Die korrekte Notation der Stelle würde wohl so aussehen: 

 Rast !

Nach dieser Phrase ab 5:24 die Zeile 11+12 (Seite 55) = Genus Huzam (mit „des“!) und ab 5:47 die Zeile 1+2 (Seite 56), in 6:08 der Übergang zu Zeile 3+4 (Seite 56) mit neuem Zielton „f“. Und jetzt wird es interessant: gibt es hier überhaupt das Genus Nihawand, wie es im kleinen Notenbeispiel oben rechts auf der Seite skizziert ist?

Wir haben in der Zeile ab 5:47 nicht nur das „des“, sondern auch in der Mitte der Zeile, im Ornament, für den Bruchteil einer Sekunde den Ton „e“, was bedeutet: einen Hauch des Genus Hijaz. Der Übergang in 6:08 beendet dieses Spiel: dem „f“ verbündet sich eindeutig ein „d“, und fraglich ist nur, welcher Ton dazwischen liegt. Ist es wirklich ein „es“? Ich plädiere für die um einen Viertelton erhöhte Version, schwanke einen Moment, ob ich mich in Genus Bayati befinde, werde aber durch den Bezug auf „c“ und durch die nachfolgende große Orchestergeste eines besseren belehrt: Maqam Rast (!) verbündet sich mit seinem Vertrauten Maqam Huzam:

6:086:42

Es ist wirklich ein unglaublich feines tonales Gespinst, es bedarf einer entsprechenden Lenkung oder Einstellung des Ohres, und doch sind die Übergänge plötzlich sonnenklar, z.B. die Wiederholung und das Erreichen des neuen Ansatzes (Seite 56 Zeile 7+8 auf 7:41), die Rückkehr des „des“, das unmissverständliche Signal des Tones „e“ auf 7:54, wir sind im Genus Hijaz und bleiben dort, trotz des kurzen „Rückversicherung“ bei Huzam in 8:03, wie auch der direkte Streichereinwurf zeigt. Es folgt eine kleine Wiederholung ab Zeile 7+8, wir bleiben im Hijaz-Bereich bis genau 9:19, das ist Seite 57, Zeile 1+2. Hier kann nur mein Glaube weiterhelfen: Hijaz wird kurz zugunsten von Rast verlassen, wenn ich das notierte „es“ wieder einen Viertelton vertieft höre, neue Hervorhebung des Tones „des“ auf 9:28, danach die bündige Rückkehr zum Ausgangsgenus Huzam. Ende bei 9:38 und Beginn des neuen Orchesterthemas.

Leider gibt es bei 9:59 in dieser Aufnahme einen Schnitt mit Überblendung, es erfordert einige Zeit der Untersuchung, was geschehen sein mag, Vergleich mit andern Aufnahmen usw., ich breche vorläufig an dieser Stelle ab. (Oder auch nicht… es folgt nämlich nur eine Wiederholung ab Seite 56 Zeile 8+9, Wiederankunft an der gleichen Stelle, also beim neuen Orchesterthema: 11:37 bis 12:34, die letzten 4 Töne des Orchesters deuten tatsächlich auf den Genus-Wechsel: fes, es, des, c. Es würde weitergehen, wie in der kleinen Skizze auf Seite 57 angegeben, mit SABA.)

An diesem Punkt soll nur noch eine vorläufig abschließende Betrachtung folgen. Wichtig: es liegt nicht in meiner Absicht, die fremde Arbeit, die neben mir liegt, schlechtzumachen: es ist eine unglaublich wichtige Grundlage für die weitere Analysen, – die sich dann ebenfalls als recht korrekturbedürftig erweisen könnten.   

(Fortsetzung folgt)

Im zweiten Youtube-Film Gesangseinsatz auf 5:19 (im externen Fenster hier)

Aus meiner Sammlung: zwei DVDs des Orig.Konzerts 1966 (Vermerk: der Film „eiert“)

Gesamtlänge 1:05:30 + Beifall + Zugabe 1:09:30

Aus meiner Sammlung: zwei frühere Remakes

1994 mit Sapho

2010 mit Ghalia Benali (Tr.5 Al-Atlal 22:49)

Mitteilungen von Prof. Marius Schneider an JR Ende der 60er Jahre

Ein Satz sei hervorgehoben: „Aber so ganz einverstanden war Saygun auch noch nicht.“ Weiteres zu dem türkischen Komponisten Adnan Saygun siehe hier im Blog.

Als Marius Schneider seinen Abschied in Köln feierte (nach der Emeritierung zog er nach Marquartstein). schenkte ich ihm die Brandenburgischen Konzerte mit dem Collegium Aureum, dessen Festival auf Schloss Kirchheim er mit seiner Frau seither alljährlich von Marquartstein aus besuchte.

Ketzerische Frage: Bach und arabische Musik – wie geht das zusammen?

Ganz einfach. Aber ohne Zahlen. Ein Beispiel: BWV 846 Praeludium. 1) Die ersten 4 Takte sichern den Gang das Ganzen und die Grundtonart C. 2) In Takt 6 taucht der Ton fis auf, Veränderung wird avisiert, Ziel ist Takt 11, nächstverwandte Tonart G-dur. 3) Ab Takt 12 neue Töne b und as, Zwischenziel wieder Grundtonart C in Takt 19. 4) Undsoweiter, incl. Orgelpunkt und Rückkehr.

Bei Oum Kalthoum reicht die Phase 1) vom Anfangseinsatz über den ganzen Ausbau von Genus Huzam bis zur Ankündigung neuer Töne und dem eindeutigen Beginn des Ausbaus von 2) Genus Hijaz bis zu 3) der Wiederkehr von Genus Huzam. 4) Undsoweiter ad infinitum (letztlich bis zur letzten Wiederkehr von Huzam).

Meine Ausgangslage 1967 (Baron Rodolphe d’Erlanger Bd. V):