Archiv für den Monat: März 2019

Heute im Radio

WDR 3 Annie Ernaux hier

Um dies ja nicht zu vergessen, die Radiosendung, die mich heute so beeindruckt hat, ein solcher Text: aber nicht zuletzt, weil die Sprecherin den Ton so gut getroffen hat. Ich warte darauf, Neues zu hören (ab Montag) und auch alles Gewesene noch einmal zu erleben (mit mehr Wissen): vom 6. bis 13. April.

Der Platz gelesen von Dörte Lyssewski

Was die Autorin im Interview (s.u.) sagt, ist nicht spektakulär, oft zögerlich, nicht „zeitgemäß“; eine große Erzählerin erwartet man nicht, wenn man sie nur so erlebt hat. Sie spricht „allgemein“, aber sie schreibt ja sehr konkret, parataktisch, sie benennt jedes Detail, ohne irgendetwas psychologisch zu begründen, und jedes einzelne Ding, jeder Teil einer Tätigkeit steht da und ist interessant. Distanziert und zugleich empathisch. Sie erwähnt Proust! Der Pressetext im Netz hätte mich nicht veranlasst, die Sendung einzuschalten; wie gesagt: ausschlaggebend war der Duktus und die Stimme der Erzählerin. Aber auch der Suhrkamp-Text ist adäquat und hätte Wirkung getan:

(…) Das Leben des Vaters ist auch die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg der Eltern und der gleichzeitigen Angst, wieder in die Unterschicht abzurutschen, von der Gefahr, nicht zu bestehen. Dass seine Tochter eine höhere Schule besucht, macht ihn stolz, trotzdem entfernen sich beide voneinander.

Und so ist die Erzählung der Tochter auch die eines Verrats: An ihren Eltern, einfachen Menschen, und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist – gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit  und Entfremdung.

Ein Motiv für mich: ich denke an meinen Vater (*1901) und seine Generation, aber noch mehr an meinen Großvater mütterlicherseits, vom Milieu her. Und nun beginne ich den Text zu lesen, um zu sehen, wie das geht. (Ich möchte auch so schreiben und so auf die Verstorbenen blicken können, ohne ihnen unrecht zu tun.)

Gute Sätze (über ein anderes Buch von Annie Ernaux) habe ich bei Jürgen Habermas gefunden, ein Wort sei rot hervorgehoben:

„Die Jahre“ von Annie Ernaux habe ich gerade gelesen, die ethnologische Beschreibung ihrer gewissermaßen depersonalisierten Lebensgeschichte im Spiegel der französischen Zeit- und Gesellschaftsgeschichte; davon bin ich ganz hingerissen.

Ich merke mir auch sein Logbuch vor, wunderbar, was er über die Vielzahl seiner Bücher schreibt (ich kenne solche Leute!).

Und dann HIER her zum realen Lesen! Auch zum Bestellen, ich bevorzuge allerdings den Buchhändler, es dauert keinen Tag länger!

A propos Radio: natürlich war ich dem Sender dankbar für diese zufällige Begegnung mit allen Folgen, zugleich aber wiederum abgestoßen durch werbetechnische Ansagen im Umfeld, Marke Eigenlob (über die „Hörspielmacher“). Schriftlich so wie üblich: ich hätte diese Lesung nie eingeschaltet. Es ist zum Schämen! Ich vermute, dass „Der Hörer“ gendermäßig nur deshalb durchgeht, weil nachher „bei der Hausarbeit“ geschrieben steht. Kein Wort bitte über das „ganz hingeben“! Das funktioniert gut an dieser Stelle, oh welch ein Feingefühl. Nur dieser flauschige Anmachton insgesamt, der ist völlig daneben. Kann unmöglich von der Redaktion stammen.

Einfach zuhören oder „Anders hören“?

Vom absichtslosen Zustand

Kann ich ihn absichtlich und planvoll herbeiführen? Und wenn ja, warum? Oder warum nicht? Ich stelle mir vor, ich liege kaputt im Bett und versuche händeringend einzuschlafen. Es geht nicht. – Wenn ich mir vorgenommen habe, bestimmte Mechanismen außer Kraft zu setzen, sollte ich nicht versuchen, diesen Vorsatz mit ihrer Hilfe zu realisieren.

Eigentlich braucht man keine Einübung ins Hören, keine rituelle Reinigung des Ohres, wenn es um Musik geht. Andererseits: warum nicht, wenn hochgeschätzte Interpreten beteiligt sind? Am Ende wird doch die Musik ausschlaggebend sein und nicht meine mentale Vorbereitung auf den Vorgang des Hörens. Wenn man mich anspricht, werde ich auch nicht sagen: warte, ich will dir heute besonders aufmerksam zuhören. Sondern ich höre einfach, was er zu sagen hat. Und werde anschließend darauf eingehen und nicht das Thema loben und die Tatsache preisen, dass wir nun ein Gespräch führen.

Mit diesen Gedanken im Sinn lese ich im aktuellen ZEIT-Feuilleton den Doppel-Artikel Was bewegt diese Frauen (von Hanno Rauterberg und von Christine Lemke Matwey), oder zumindest die zweite Hälfte, deren Obertitel man in diesem Wortlaut nur online findet: „Hörenlernen mit der serbischen Kriegerin / Wie die Performance-Päpstin in Frankfurt aus einem Konzert Kunst macht.“ Ähnliches habe ich früher schon einmal bedenkenswert gefunden, vor fast genau zwei Jahren: hier. Heute bin ich weniger aufgeschlossen, das muss an der Berichterstattung liegen. Oder an der Wiederholung. Aber lebt die Musik, lebt das Konzert nicht von der Wiederholung? Ich studiere die Papiere der Alten Oper Frankfurt: HIER.

ZITAT

Präsent sein – ein Schlüssel auch für die Rezeption von Musik. „Um wirklich Musik zu hören“, sagt Marina Abramović, „muss man mit allen seinen Sinnen dabei sein. Aber unser Leben ist schwierig und hektisch, und wenn wir in ein Konzert gehen, nehmen wir all diese Last mit. Deswegen dachte ich mir, dass es wichtig ist, eine Methode zu entwickeln, mit der man sich auf das Hören vorbereitet.“ Genau um solche neuen Wege zum Hören zu eröffnen, hat Marina Abramović gemeinsam mit ihrer künstlerischen Mitarbeiterin Lynsey Peisinger auf Einladung der Alten Oper Frankfurt ein Musikprojekt entwickelt, in welchem die Regeln des klassischen Konzertbetriebs außer Kraft gesetzt werden und stattdessen durch die Kombination von Übungen der Abramović-Methode und einem Konzert der besonderen Art eine intensive gemeinschaftliche Hörerfahrung möglich gemacht werden soll. Marina Abramović verrät dabei nur soviel: „Es wird alles sehr anders sein, und wir hoffen, dass all das ein Erlebnis ausmachen wird, das ‚out of the box‘ sein wird, etwas anderes als die normale Erfahrung im Konzertsaal.“

Die ZEIT schreibt post factum:

Konzertformate, die mit den Ritualen des Musikvollzugs brechen, sind nichts Neues. Dass Interpreten einen ganzen Saal als Bühne nutzen und das Publikum wandeln darf, lümmeln, dösen – dafür hätte es keiner Performance-Päpstin bedurft. Denn die Effekte solcher Sit-ins sind stets die gleichen: Das Öffentliche wird zum Privaten erklärt, das Private öffentlich gemacht. Grenzen verschieben sich und werden neu verhandelt. Der Konzentration auf Dinge, die außerhalb des eigenen Selbst liegen, ist das selten förderlich. Und der Disziplin auch nicht. (…)

Das Finale nach fünf Stunden gehört dann der neuen Musik. Fast kreuzt sich der letzte Weg der Geigerin mit dem des Duduk-Spielers, als würden sich Orient und Okzident berühren, einen Wimpernschlag lang. Als söhnten sich alle Konflikte aus, von denen ein langes Wochenende lang nicht die Rede war. Blackout. Und Applaus. Eigentlich wie immer.

*    *    *

Ich weiß nicht, ob ich hätte dabeisein wollen. Meist wird mir unheimlich, wenn sich das Publikum zu wohl fühlt. Quasi zu Hause. Aber eben mit Zuschauern.

. . . eine intensive gemeinschaftliche Hörerfahrung . . .  ist das wirklich unser Ziel?

Muss man nicht Sorge haben, dass sich kleine Wohlfühlgruppen bilden, Menschen einander in die Augen schauen, Lichter angezündet werden? Wie nun, wenn man sich nichts anderes wünscht als die normale Erfahrung im Konzertsaal? Vielleicht nicht mehr als 400 Leute, und alle wissen, warum sie da sind und was Musik bedeutet.

Solastalgie

Trostlosigkeit

Ich weiß nicht, warum dies Wort erfunden wurde, und weiß auch nicht, ob Bruno Latour es so verstanden hat, wie der Erfinder Glenn Albrecht es gemeint hat. Das lateinische Solacium bedeutet Trost oder Trostmittel; Solastalgie wäre dann vielleicht die Krankheit, sich aller Trostmittel beraubt zu fühlen, so jedenfalls meine Deutung, und so würde ich beschreiben, was ich (manchmal) fühle. Obwohl ich auch an „Sol“ denke, vielleicht weil Bruno Latour aus einer Winzerfamilie in Beaune stammt, wo man etwas vom Boden versteht, auf dem die Reben wachsen, den Rest besorgt le soleil, die Sonne. „Heimat. Was bedeutet sie heute? “ so die Schlagzeile. Aber schon der Untertitel signalisiert, dass es nicht um Regionales geht: „Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet.“

ZITAT Bruno Latour:

Wenn die Frage nach der Heimat überall, nicht nur in Deutschland, wieder zurückkehrt, dann offensichtlich deshalb, weil wir alle, aus welchem Land wir auch stammen, eine allgemeine Krise des Verlustes unseres Selbst und unseres Grund und Bodens erleben. Es ist dieses Gefühl der Verlassenheit, das der Psychiater Glenn Albrecht auf den Namen Solastalgie getauft hat. Die Nostalgie ist ein universelles und altersloses Gefühl, das uns angesichts der Erinnerung an eine entschwundene Vergangenheit zum Lachen oder zum Weinen bringt. Um es aber mit dem witzigen Titel von Simone Signorets Autobiografie zu sagen: Die Nostalgie ist auch nicht mehr, was sie mal war. Es ist nicht mehr eine für immer verlorene Vergangenheit, die uns vor Elend zum Weinen bringt, sondern der Erdboden, der vor unseren Augen verschwindet, was uns nach und nach unserer Existenzgrundlagen beraubt. Solastalgie heißt, Heimweh zu haben, ohne ausgewandert zu sein, also Heimweh daheim. Dies ist der radikalste Effekt der neuen klimatischen Verhältnisse: Die Klimakrise, das allgemeine Artensterben, das Sterilwerden der Landschaften macht uns verrückt.

Quelle DIE ZEIT 14. März 2019 Seite 40 f Heimat. Was bedeutet sie heute? Rede: Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet. Von Bruno Latour.

Als Gegenrede folgt Seite 41 Zugehörigkeit braucht Grenzen. Von Mark Lilla.

Ich kann ebensowenig erkennen, dass die Rede von der Gegenrede in Frage gestellt wird, wie umgekehrt. Mark Lilla sagt:

Gibt es den geringsten Grund für die Annahme, die heutige Welle der Globalisierung sei in irgendeiner Weise destabilisierender oder beunruhigender als früher? Oder für die Annahme, dass wir uns nicht letztlich daran anpassen würden, wieder in einer stärker nomadisch geprägten Welt zu leben? Ja, gibt es, und Bruno Latour erinnert uns an einen entscheidenden: die durch menschliche Aktivitäten verursachte Umweltzerstörung in globalem Maßstab. Der Klimawandel wird jedes Gelobte Land heimsuchen, das wir uns je vorstellen können.

Ein weiterer Grund ist die Geschwindigkeit, mit der Kapital und Arbeit heute verlagert werden. Der Niedergang antiker Städte vollzog sich über Jahrhunderte, der meiner Heimatstadt Detroit über zwanzig Jahre. So schnell passt sich unser Orts- und Heimatgefühl nicht an. Der wichtigste Grund aber, warum wir unglückliche Nomaden sind, besteht in unserem Wissen, dass wir nirgendwo mehr hingehen und von vorne anfangen können, befreit von den globalen Dynamiken, die unsere Gegenwart bestimmen.Wir verlieren unser ‚Hinterland‘, l’arrière pays, wie es der französische Dichter Yves Bonnefoy genannt hat – das ungesehene, aber angenommene Jenseits, das Menschen immer über sich hinausgetrieben hat, voller Hoffnung und Schrecken.

Insgesamt nachlesbar in DIE ZEIT online: HIER.

Ich halte mich einstweilen an ein Buch, das nicht in der Perspektive der Trostlosigkeit endet, – wie schon auf der Umschlaginnenseite angekündigt:

In dieser brisanten Situation gilt es, zuallererst, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und sich dann neu zu orientieren.

 ISBN 978-3-518-07362-9

 Inhaltsverzeichnis  Rechts oben das Motto für Nicht-Leser

Erläuterung für Noch-weniger-Leser: es stammt von Donald Trumps Schwiegersohn, zitiert von Sarah Vowell in „The danger of an incurious president“ in The New York Times (9. August 2017)

*     *     *

Es gibt nur noch ein anderes Buch, dass ich an dieser Stelle zwischenschalten würde und ohnehin zur regelmäßigen Konsultation im Sichtbereich halte. Es enthält seltsamerweise Leerseiten, als hätte der Stoff nicht ganz für ein Buch gereicht. Etwas enger gedruckt hätte es vielleicht nur 100 Seiten umfasst, und meine selbstverordnete Pflichtlektüre umfasst letztlich 7 Kapitel, die man leicht in einem Zug durchlesen kann. Das Gegenteil aber würde ich raten: nämlich lange Denkpausen einzulegen (Pausen zum Nach-Denken ohne Buch), sagen wir: anstelle einer Morgen-Meditation. Und 7 Tage ergeben 1 Woche. Soviel Zeit muss sein.

Ich will das Buch nicht abbilden, es ist oft genug eine Fehlentscheidung, den Autor oder die Autorin aufs Titelblatt zu setzen und auf die Suggestion der individuellen Ausstrahlung zu bauen. Wer hat schon ein Gesicht, das zur Idee des Weltfriedens passt. Immanuel Kant etwa? Aber seine unbestechlichen, unbarmherzigen Ausführungen zum Weltfrieden stehen im Mittelpunkt aller Gedankengänge zur Globalisierung und laufen nicht auf einen treuherzigen Aufruf zur Gewaltlosigkeit hinaus, sondern auf das Prinzip Gewaltenteilung. So, dass „die unfriedlichen Gesinnungen in einem Volke [der Vielzahl aller Völker] in ein solches Verhältnis zueinander gebracht werden, dass sie, sich wechselseitig neutralisierend, zu einem Friedenszustand führen“.

Quelle Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2004 / Carl Hanser Verlag München Wien 2003

I Zunächst muss klar sein, dass es den Naturzustand der Menschen nicht gibt und auch nie gab. Der Mensch ist das „transzendierende Tier“. Er ist „von Natur aus auf Künstlichkeit, also auf Kultur und Zivilisation angewiesen.“ Das Problem: „Wie weit kann der Mensch sich mit seiner zweiten Natur – also der kulturellen – von der ersten Natur entfernen?“

II Wir leben in einem Zeitalter der Globalisierung, das heißt aber auch: „Es gibt seit der Atombombe eine globale Gemeinschaft der Bedrohung. Raketen erreichen jeden Punkt der Erde“. – „Das Ganze wirkt wie eine Naturkatastrophe globalen Ausmaßes, ist aber menschengemacht, wenngleich nicht geplant. (…) Die Prozesse sind im einzelnen rational und im Ganzen unvernünftig. Dabei ist für Öffentlichkeit gesorgt. Mit Hilfe der globalen Informationstechnologie kann man überall auf der Welt wissen, was überall auf der Welt geschieht.“

III Vom Globalismus handelt ein wichtiges Kapitel, denn angesichts der Globalisierungen entgeht einem leicht die Umdeutung in die globalistische Ideologie, die das Bild einer Weltgesellschaft erzeugt, „die einheitlicher erscheint als sie ist. Häufig wird die Tatsache verdrängt, daß in dem Maße, wie in bestimmten Regionen die Homogenität wächst, in anderen Regionen sich dramatische Prozesse der Abkopplung vom übrigen Weltgeschehen vollziehen.“ Das Phänomen der Ungleichzeitigkeiten ist allenthalben zu beobachten. „In Afrika zum Beispiel lösen sich Staaten auf in Tribalismus, in Bandenkriege; es gibt Refeudalisierung, Raubrittertum, die Seeräuber kehren zurück; unvorstellbare Armut und bestialische Überlebenskämpfe setzen gesellschaftliche Regeln außer Kraft. Das zivilisatorischen Minimum verschwindet.“ Der Globalismus wirkt auf die reale Bewegung zurück: „verhüllend, forcierend, lähmend, legitimierend“, – die Globalisierungsfalle: a) als Neoliberalismus. Ökonomie first! Entpflichtung des Kapitals, die Staaten konkurrieren um Arbeitsplätze und locken mit dem Abbau von Investitionshindernissen. Entfesselung des Marktes. b) Anti-Nationalismus (!), der gut scheint. „Aber an der anthropologischen Grundbedingung, daß Mobilität und Weltoffenheit durch Ortsfestigkeit ausbalanciert werden muß, ändert auch der anti-nationalistische Globalismus nichts.“ – „Es gehört die Bereitschaft dazu, sich ins Fremde verwickeln zu lassen. Weltläufig ist nur, wer durch den Reichtum von Welterfahrung verwandelt wurde.“  c) die Vorstellung „der Erde als globales Biotop“, im „erhabenen Ton“ auch als allgemeine Drohkulisse verwendet. „Nur Staaten und Staatenbündnisse haben Macht, ‚die Menschheit‘ aber hat keine Macht. Sie ist eine Beschwörungsformel in der Arena der wirklichen Mächte, wo die globalen Asymmetrien von Macht, Produktivität und Reichtum ein Souveränitätsgefälle neuen Typs hervorbringen. (…) Es ist […] eine Selbsttäuschung zu glauben, daß globale Probleme in apokalyptischer Größenordnung zu globaler Solidarität führen könnten. Auch hier gilt: die Letzten tragen die Last. Solange man hoffen kann, daß man zu den Vorletzten gehören wird, bleibt diese Logik in Kraft.“ – Dieses Kapitel ist besonders wichtig, weil es beliebte Irrtümer offenlegt und zugleich darauf vorbereitet, dass man sich der eher lästige Problematik der „Verfeindungsgeschichten“ und des (womöglich unrealisierbaren) Weltfriedens unbedingt stellen muss. Ich vermute, dass ich dem Thema damals, Ende 1956, nicht gewachsen war. (Albert Schweitzer spielte als Vorbild die Hauptrolle, auch Nietzsche, Beethoven, jugendlicher Enthusiasmus.)

Die Enttäuschung begann schon auf der ersten Seite. Stichwort „Traum“. Ich wollte Eindeutigkeit, Aufklärung, Idealismus. Mir hätte ein Buch wie das jetzt neben mir liegende zur Globalisierung gut getan. Ich war viel allein, etwas mehr Menschengewühl hätte vielleicht auch nicht geschadet… Ich zitiere:

Eines ist gewiß: im dichten Menschengewühl, in ständiger aufdringlicher Kommunikation mit seinen Mitmenschen, hätte sich ein solcher Enthusiasmus kaum entwickeln können. Nur in wohldosierten Portionen genossen, können Menschen Enthusiasmus erregen. Der idealistische Menschheitsenthusiasmus konnte vielleicht nur in kleinen Städten wie Tübingen oder Jena gedeihen und nur in Zeiten, da es noch keine Weltkommunikation gab. [Seite 42]

Hätte ich die Kant-Einleitung von Theodor Valentiner nur drei Sätze weitergelesen, so hätte doch die Neugier überhand nehmen müssen:

…[von einem Traum], der „ebenso wenig zwischen Herrschern wie zwischen Elefanten und Rhinozeros, zwischen Wolf und Hund bestehen kann“, oder man spinnt den Gedanken aus, auf den Kant in seinem Vorwort deutet, daß im Zeitalter der Atombombe das Ende aller Bemühungen um einen Völkerfrieden ein Kirchhof ist, in dem die Menschheit sich einmal zur ewigen Ruhe betten wird. Nichts von alledem finden wir in der Schrift. Vielmehr faßt Kant seine Aufgabe an, wie wir es nach seinem kritischen Hauptwerk erwarten.

(Fortsetzung folgt)

Vom Kuckuck-Spiel

Eine Art Auferstehung?

Ich habe mir dieses Phänomen dank Beethoven gemerkt und nicht geahnt, dass es mir immer mal wiederbegegnet; im allgemeinen aber weiß ich dann nicht, wo es mir sonst schon mal aufgefallen ist. Genau deshalb ist es wichtig, sofort zuzugreifen. Und immer wieder den Zusammenhang zu überprüfen, egal ob es mir passt oder nicht. Wie heute, als ich ein Buch aus dem Bücherschrank nahm und es gerade dort aufschlug, wo es mit einer Erinnerung zusammenprallen konnte. Heiliger Bimbam, wo war das noch? Ah, es war hier!

Und im Buche steht der scheinbar kindische Hinweis auf das Kuckuck-Spiel:

Quelle Peter L. Berger: Erlösendes Lachen / Das Komische in der menschlichen Erfahrung / Verlag de Gruyter Berlin New York 1998

Und nun das Erlebnis der Synapse, zwei Erinnerungsinseln, die eine Brücke schlagen: Habe ich nicht einmal nach der Aufnahme einer byzantinischen Liturgie in Athen (1982) darüber gegrübelt, was es bedeute, wenn der Priester (oder der Diakon) ruft (oder singt) „Tas Thyras, tas Thyras!“, ob etwa eine mystische Bedeutung dahinterstecke? Das hätte mir gut gepasst, denn ich hatte in Dörfern des Engadin unzählige Türen fotografiert. Und wusste, dass sie nur 1 Mal im Leben (?) vollständig geöffnet werden.

 Türen in Ftan

Und beim Lesen des Berger-Buches 1998 habe ich nicht geschaltet, sonst hätte ich den Satz „Die Ikonostasis hat mehrere Türen“ unterstrichen, und nicht das Wort vom „kosmischen Kuckuck“. Heute gibt es das Internet und in zwei Minuten habe ich eine Information – Norbert Heyse: Öffnet die Türen! -, aber von dem Buch insgesamt habe ich keine Ahnung.

Ich muss die Stelle suchen, an die ich mich erinnere:

Aus: Die Göttliche Liturgie unseres Hl. Vaters Johannes Chrysostomos / Leipzig 1976

Anmerkungsteil

Griechischer Text 1981, rot: Tas thyras (Vor dem Glaubensbekenntnis)

,

Ob diese Assoziationen etwas zu bedeuten haben, kann ich nicht sagen. Das Gegenteil ebensowenig. Was mich heute interessiert, ist auch nicht, wie Beethoven dirigierte, eher vielleicht der tiefere Sinn des „Kuckuck-Spiels“, die Kleinkind-Psychologie und: ob Berger nicht einem Wunschdenken nachgegeben hat, als er dieses Spiel von der Komik des Verschwindens und des Wiederauftauchens mit einem christologischen Hintergrund versehen hat.

Ich muss nicht alles glauben, was geschrieben steht.

Verkettung glücklicher Umstände

Es begann mit einer Mail…

… von Freund Berthold, die nur aus einem pdf-Anhang der Neuen Zürcher Zeitung vom 22. Februar 2019 bestand, hier ist der Beleg (aus Urheberschutzgründen lediglich als Fragment):

Aber der Artikel gefiel mir so sehr, dass ich nicht nur das Buch bestellte, das hier besprochen war, sondern auch – nach einigen Recherchen zum Autor der Buchbesprechung – ein Buch, für das dieser selbst verantwortlich zeichnete: „Wohin geht das Gedicht“ (ohne Fragezeichen) herausgegeben (eben) von Roman Bucheli. Es kam schnell und befriedigte mich vollkommen, eine willkommene Rückkehr zur Lyrik auf dem Umweg über die Prosa, eine unverkennbare Prosa von Lyrikern, schwer zu beschreiben, nicht etwa preziös, sondern kunstvoll kunstlos, faszinierend in jedem Satz.

 Siehe auch hier .

Ist es ein Zufall, dass die neue ZEIT am 7. März den größten Teil des Dossiers dem Thema Lyrik widmet? Einem Dichter, mir unbekannt, anderen jedoch „als einer der bedeutendsten Lyriker in Deutschland“ bekannt? (S. a. Wikipedia hier.)

 DIE ZEIT 7.3.2019 Seite 11

Natürlich ist es Zufall!

Und nach langer Zeit – ich fürchtete schon, dass der Frühling mit seinem anschwellenden Vogelgesang ohne erneuernde Impulse vorüberziehen würde – traf auch das ersehnte, weil von Bucheli so schön beschriebene Buch bei mir ein. Am 18. März.

Und deshalb hatte gestern auch die ZDF-Sendung „aspekte“ Glück: ich stand sie von A bis Z durch, nur um die angekündigte Präsentation des Vogelfreundes nicht zu verpassen.

 screenshots ZDF-Sendung

 ZDF ZDF ZDF

Und wer diesen Meister der Vogelbeobachtung etwas näher kennenlernen möchte, dies wäre ein Anfang, und danach bleibt auf jeden Fall das Buch. Für immer. (Der Film immerhin bis 22.03.2020!) HIER.

Dank an Berthold!

Kapitalismus Beispiel Kongo

Jean Zieglers Alarmruf

Nach der Talkshow ZDF 21.03.2019

Ich habe das aufgeschrieben, so gut es in der Eile ging, habe akustische Verständnisfehler in Kauf genommen, Jean Ziegler spricht sehr engagiert, mit Nachdruck – und mit Schweizer Akzent, man muss manches nachrecherchieren, insbesondere Namen und politische Fachbegriffe. Im übrigen kann man wohl alles in seinem Buch nachlesen. (Es war aufgrund der Sendung im Moment vergriffen.) Aber gerade die mündliche Darstellung, so wie sie live zustandekam, war derart packend, dass sie einem lange nachgeht. Man möchte alles rekapitulieren, auch den Impetus aufrecht erhalten und in manchen Punkten weiterforschen. So wird diese vorläufige Abschrift gewiss noch korrigiert und ergänzt.

Die Markus-Lanz-Sendung ist abrufbar HIER 37:44

Über Jean Ziegler vorweg Wikipedia hier. (Auch um die möglichen Kritikpunkte an seiner Person zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht zu relativieren.) Im folgenden ML = Markus Lanz, JZ = Jean Ziegler.

ML Jean Ziegler ist bei uns, den wir nochmal sehr herzlich begrüßen in unserer Sendung. … er ist vorhin zitiert worden, auf einmal sagt der: Wahnsinn, der letzte Kommunist Europas heute bei uns in der Sendung. Sie haben dann gesagt: (versucht schwyzerisch) na, so wenige sind wir nicht.

JZ Hoffentlich nicht!

ML Ah es gibt noch andere Kommunisten, ja?, die Sie kennen…

JZ Der Kommunismus ist die … ist der Horizont der Geschichte, es hat ihn ja noch nie gegeben, außer in der französischen Kommune, März, Mai 1890, sonst hat es den nie gegeben. Aber im Manifest steht: Von jedem nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen. Das ist glaub ich die Norm, die die Zivilisation bedeutet, der Horizont…

ML Sie haben ein kleines, feines Büchlein gemacht „Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin“. Was ist denn so schlimm am Kapitalismus, abgesehen davon, dass Sie gar keine Enkelin haben…

JZ Was ist so schlimm am Kapitalismus? Alle 5 Sekunden verhungert ein Kind. Und in 10 Jahren? Das ist die FAO Spezialübersetzung der Vereinten Nationen, die die Opferzahlen gibt, also in 5 Sekunden verhungert ein Kind, und in 10 Jahren und derselbe …., der die Opferzahlen gibt, jeden April, sagt, dass die Weltlandwirtschaft, so wie sie heute ist, problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Also … sind 7,3 … also das Doppelte normal ernähren könnte, wenn Nahrungsaufnahme nicht von Kaufkraft abhängen würde. Das Kind, von dem wir reden, und stirbt, wird ermordet. Punkt.

ML Das ist einer Ihrer berühmten Sätze, die Sie häufig sagen, Herr Ziegler , sagen Sie, erklären Sie uns das einmal, also: wenn Sie sagen, da wäre genug da für 12 Milliarden, wie könnte das praktisch funktionieren?

 (Klappentext)

JZ Erstens einmal: Hunger ist menschengemacht und könnte von Menschen morgen aus der Welt geschafft werden. Deutschland zum Beispiel ist sicher die vitalste Demokratie dieses Kontinentes, die dritte Wirtschaftsmacht der Welt, das Grundgesetz gibt keine Ohnmacht der Demokratie (???), das Grundgesetz gibt alle Waffen in die Hand den freien Bürgerinnen und Bürgern, diese Strukturen zu brechen. Gestorben, – ich war 8 Jahre lang Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, ich hab wirklich viel Schreckliches gesehen: gestorben sind immer dieselben, von der Mongolei bis Jokotan, Guatemala, Favela in Brasilien, Kalampas in den Smoky Mountains, in Manila usw. ich sage was Einfaches: wenn man redet, marschiert, denkt, träumt, verschwendet man, verausgibt man Lebensenergie, die muss ersetzt werden durch liquide oder Nahrung und diese Nahrungszunahme wird gemessen wissenschaftlich in Kalorien, in einem subtropischen Klima ein Erwachsener braucht pro Tag 2200 Kalorien, und wenn diese Kalorienzufuhr nicht kommt, dann zerfällt – es ist ein fürchterliche Agonie – (ML Agonie, also Todeskampf) ich bin ja in einem glücklichen Milieu aufgewachsen in der Schweiz, wie viele viele Leute immer noch, dass der Tod im ein Verlöschen, langsames, friedliches Verlöschen ist, es stimmt nicht: zuerst werden die Fett- und Zuckerreserven des Körpers aufgebraucht, dann kommen die Infektionen in den Metabolismus, das ist schon sehr sehr schmerzvoll, dann bricht das Immunsystem zusammen, dann bricht das Muskelsystem zusammen, da sehen Sie ja, Süd-Sudan, oder jetzt im Jemen, im Fernsehen, wenn die Kinder, die wie kleine Tiere im Staub liegen und sich nicht bewegen können, und dann kommt der Tod. Der ist fürchterlich schmerzvoll, und das passiert überall, Tag und Nacht, millionenweise auf diesem Planeten. Es sterben ja etwa 70 Millionen Menschen pro Jahr, verlassen diesen, ja unseren Planeten, Sie werden das auch erleben, ich leider auch, 70 Millionen, von diesen 70 Millionen Menschen, 72 genau, die letztes Jahr gestorben sind, sind 18 Prozent am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen gestorben, auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, jetzt! Es war nicht immer so, aber heute, auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, ist der Hunger und seine direkten Folgen immer noch die erste Todesursache, das ist ja absurd, das geht … das Massaker geht vor sich in eisiger Normalität, jeder weiß das, jeder kennt das, und man weiß genau, was die Strukturen sind, die den Hunger…. (nämlich?) das sind zum Beispiel die Börsenspekulationen, auf Grundnahrungsmittel, Sie können in der Deutschen Bank in Hamburg, in der Filiale Reiszertifikate kaufen, auf den Reispreis, auf Grundnahrungsmittel Reis, Getreide und Mais, das sind 75 Prozent Durchschnitt im Weltkonsum, und wenn der Reispreis steigt, oder der Getreidepreis steigt…. also das geht …(gestikuliert raufrunter) . steigt, dann machen die ?nioren ??? Hedgefond Großbank Riesenprofite, und in den kallistesten (?) Städten der Welt, in den Kalampas von Lima z.B., wo die Frauen mit ganz wenig Geld die tägliche Nahrung kaufen müssen für ihre Kinder, da kann sie die Nahrung nicht mehr kaufen, weil sie sie nicht bezahlen kann.

ML Eine Geschichte würde ich gern noch ansprechen, weil uns das auch alle und ganz unmittelbar betrifft, – Kongo! Unsere Handy, Mobiltelefone, Laptops, alles was wir an mobilen Endgeräten, Smartphones usw. benutzen – das Coltan, das in diesen Geräten drin ist, wird vorzugsweise dort abgebaut, und bevor wir gleich und kurz darüber sprechen, was Sie dort gesehen haben, schauen wir mal einen ganz kurzen Ausschnitt an, der mal dokumentiert, unter welchen Bedingungen dieser Rohstoff dort abgebaut wird, bitteschön.

FILM ab 44:23 HIER (Tagesschau 8.12.2016)

So, sind das die Bedingungen, unter denen heute dort Coltan abgebaut wird?

JZ Ja, mein Buch heißt: „Was ist so schlimm am Kapitalismus?“ und das ist ein Beispiel davon. Das ich gesehen habe. Ich habe kein Handy, werde nie eines haben, wegen… was ich gesehen habe. Sie habens richtig gesagt: Coltan 80 %, 81 % des Coltans der Welt dieses Metalls wird abgebaut im Ost-Kongo Nor Ituri usw. Unter folgenden Bedingungen:

[Zum Verständnis des Textes siehe auch unten im Original des Buches*]

Das Coltan ist in sehr brüchigem Gestein, und deshalb sind die Schächte sehr eng, und da können nur Kinder, 10-, 12-jährige Mädchen, Buben, können da herabgelassen werden, und werden an Seilen herabgelassen, 10, 20 Meter, um das Coltan zu schürfen, unter ganz fürchterlichen… Angst! die haben Angst, und es gibt Verschüttungen, die ersticken, werden von Milizen bewacht, – (Milizen, die die bewachen, WARUM?) es ist so, das Coltan … ich habe genug Prozesse am Hals gehabt, damit will ich das ganz genau sagen, es sind einheimische oder indische oder pakistanische oder libanesische Kleinunternehmer, die diese Coltanminen ausbeuten (kontrollieren, ausbeuten), die Milizen bezahlen, die die bewachen, die Kinder terrorisieren, usw. usw. dann wird das Coltan verkauft an die Scheka-Minen, an die staatliche Minuperve-Gesellschaft in Konka? , ein ganz korrupter Verein, und die verkaufen das Coltan dann weiter an Glencore, an Freeport, an die großen, weltweiten Minenkonzerne, die wollen ja nichts zu tun haben mit Kinderarbeit, sonst haben die ein Problem, in Zivilgesellschaften (ist imagemäßig schlecht ), Coltan auf Lastwagen, nach Ruengeli Goma, die ruandesische Grenze, durch Ruanda, Kenia, Mombasa in den Hafen aufs Schiff, Rotes Meer, Suez-Kanal usw. Und dieses Coltan – wir bezahlen es mit dem Leben der Kinder, kann man sich fragen, es ist alles bekannt, was die Kinder erleben, und ich sags noch einmal, es könnte mein Kind sein, Ihr Kind … und trotzdem, die Rattenfänger, diese Minenbarone, die rekrutieren in dem Riesenlande, ?kiu z.B., bei den Baforero, den Bashi, den großen Kulturvölkern, die da im Elend leben. Die Kinder wissen um den Schrecken, der sie erwartet, die Mütter auch, aber die Kinder wissen, wenn sie nicht daher herunter gelassen werden, und diese Angst ertragen, und dem Rattenfänger folgen, dann stirbt die Familie am Hunger zu Hause, ja?

ML Aber wie kann man das denn verhindern? 47:33 (bis 50:05)

JZ Aber jetzt hat es Hoffnung gegeben, ich komme wieder vorbei, wenn ich das sagen darf: der Obama in seiner letzten Amtszeit – unter dem Druck des Black Caucus , also der schwarzen Repräsentation des Repräsentantenhauses und auch der sehr lebendigen amerikanischen Zivilgesellschaft, die ist ja sehr vital, hat ein Executive Order, also nicht ein Gesetz, das durch den Kongress geht, eine Executive Order Conflict Minerals, hat also verboten, dass Coltan Conflict Minerals, das unter so fürchterlichen Bedingungen geschürft wird jeden Tag, der wax(?) Zutritt wird verboten in Amerika. Conflict Minerals!

ML Okay, also so könnte es gehen

JZ Aber was dann passiert ist … Glencord , was sag ich – mein Buch ist ja dazu da zu zeigen mit Beispielen nur Beispiel: die Allmacht multinationaler Konzerne, die Hierarchien des globalisierten Kapitals – Glencord, Rio Tinto, Freeport usw. usw. die haben mobilisiert, und haben gegen die Regierung des stärksten Staates der Welt, das müssen Sie sich vorstellen, nicht gegen Albanien oder die Mongolei oder Malawi, sondern sie haben Washington gesagt: so geht das nicht! Wir werden an unserer Profitmaximierung gehindert, das Gesetz nehmen wir nicht an, Trump ist an die Macht gekommen, am dritten Arbeitstag hat er das Gesetz liquidiert. (Okay.) Ersatzlos gestrichen! Und das ist die Situation, und diese Schrecken – der Film ist ganz konkret! (jaja, absolut!) und sehr gut -, dieser fürchterliche Kindermord geht weiter, Tag für Tag, Nacht für Nacht, in eisiger Normalität, und wir brauchen unsere Handys, die Flugzeugrümpfe? Brauchts auch Coltan … usw. (das ist in ganz vielen Stellen drin, genau!) und wir sind irgendwie Komplizen darin. Und es gibt ja eh – ich sags noch einmal! – keine Ohnmacht in der Demokratie – wenn wir jetzt zusammen diskutieren würden – Honduras oder Peking usw. aber in Deutschland, im Herzen Westeuropas, in der vitalsten Demokratie gibt es keine Ohnmacht, das dürfen wir nicht tolerieren!!!

ML Vielen Dank! Verstanden. Herzlichen Dank. (50:06) (Beifall) Wahnsinn! (Beifall) Frau Dreier, sie wollten kurz…

Malu Dreier: Ja, ein Wort nur, ich wills nicht aufhalten, aber ich finde schon, dass Herr Ziegler recht hat, dass wir eine wirkliche Verpflichtung haben, in Deutschland und international mit dafür zu sorgen und immer wieder die ganze Kraft dafür einzusetzen, egal, ob es um das Thema Rüstungsexport oder um solche Sachen: Kinderarbeit kann man im Grund nur, ja, ausrotten, wenn man international es stemmt, in gemeinsamen Aktionen, Vereinbarungen, es muss einfach unsere Verpflichtung bleiben, und da bekenn ich mich auch dazu, weil ich wirklich finde, dass wir nicht einfach nur konsumieren können, ohne zu verstehen, was dahintersteht. Wir müssen darauf schauen, wo kommen die Produkte her und wir haben auch unsere Pflicht, dafür zu sorgen, uns international dafür stark zu machen, dass das abgeschafft wird. Kinderarbeit darf es auf der Welt nicht geben! (51:04)

 Beispiel Kongo:

Vorweg: hier (Literaturfestival Litcologne)

Auch dieses Interview sollte man kennen: hier (Aargauer Zeitung)

*     *     *

Und wie geht’s weiter? Eine Möglichkeit (auch ich habe Enkel/innen):

 ISBN 978-3-10-397401-0

Von den Merksätzen auf Seite 295 sei nur ein einziger zitiert (s.a. hier):

Heimat ist dort, wo es nicht egal ist, ob es mich gibt.

Stile Antico

Zur frühesten Arbeit des Bach-Forschers Christoph Wolff

  Exlibris Michael Schneider 1968

Ausgerechnet dieses grundlegende Buch fehlte mir zeitlebens, obwohl ich den Begriff „stile antico“ gern verwendete und durchaus wissen konnte, wo ich das entsprechende Fachwissen erwerben würde. Allerdings glaubte ich, genug darüber erfahren zu haben, etwa beim Studium der Bachschen „Kunst der Fuge“ und der entsprechenden Sekundärliteratur; vor allem Peter Schleuning begeisterte mich. Hier eine Kostprobe:

 

Dann aber vor allem im späteren Kapitel Antike-Rezeption II: Stile antico und Antike

Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bachs ‚Kunst der Fuge‘ / Ideologien Entstehung Analyse / dtv Bärenreiter München Kassel etc 1998

Und schon ist man für einige Jahre versorgt, man kehrt jederzeit gern zurück, aber man vergisst auch vieles wieder. Oder Schriften, die lange im Schrank geschlummert haben, gewinnen plötzlich wieder Bedeutung, z.B. das Bändchen, in dem ich mir einige Aufsätze ausgesucht und wichtige Hinweise mit roter Farbe markiert hatte, etwa den Hinweis auf Christoph Wolffs frühe Arbeit:

 Quelle siehe nächste Kopie!

Schlimmer noch: ich hatte sogar direkten Kontakt gesucht und gefunden. Wie auch sonst oft genug, sind mir dann die Aufgaben über den Kopf gewachsen. Ich hatte ja einen Hauptberuf, der eher musikethnologisch ausgerichtet und mit vielen eigenen Radiosendungen verbunden war, und ich musste üben, weil es Konzerte gab. Ein väterlicher Hinweis, der mich entgegen seiner Intention völlig entmutigte, war übrigens der, dass man heutzutage in der Forschung nicht nur am Werk arbeite, sondern am ganzen historischen Umfeld… Was ich trotzdem schaffte, habe ich 4 Jahre später im Beitrag zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Josef Kuckertz vorgelegt (siehe hier), der trotz des nicht-ethnologischen Themas eine erstaunlich wohlwollende Haltung zeigte.

 

Ab Seite 82 findet man den oben zitierten Beitrag von Alfred Mann „Bach und die Fuxsche Lehre / Theorie und Kompositionspraxis“.

Und in dem auf Seite 87 avisierten Gespräch findet man auch den Namen Michael Schneider, Orgel-Prof. an der Kölner Musikhochschule; Vater des Oboisten Christian Schneider, früher bei den Düsseldorfer Symphonikern, später Oboen-Prof. an der Kölner Hochschule, Sammler ethnischer Instrumente. Schöne Bibliothek, – bei ihm stehen die wichtigsten Werke von Christoph Wolff, die älteren noch aus dem Besitz des Vaters, mit fachkundigen Lesespuren (M.Schneider war in Berlin Chr. Wolffs Lehrer), wie man hier sehen kann:

Quelle Christoph Wolff: Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs / Studien zu Bachs Spätwerk / Franz Steiner Verlag Wiesbaden 1968 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft / Herausgegeben von Hans Heinrich Eggebrecht in Verbindung mit Heinrich Besseler, Walter Gerstenberger, Kurt von Fischer und Arnold Schmitz)

Im Vorwort wird Prof. Dr. Michael Schneider mit Dank bedacht:

     

Was mich heute besonders interessiert: in Kapitel IV der Abschnitt 4. Zur harmonischen Gestaltung a) Kontrapunktik und Akkordfunktion. Warum? Mir schien immer schon die Polarität zwischen Fuge und Choral für Bach zentral. So blieb auch beim Studium des Buches von Ernst Kurth eine Grundfrage: wie ist die Rolle der Harmonik in der Einstimmigkeit der Solissimo-Werke Bachs zu verstehen?

Ich notiere zunächst einiges zum stile antico (Wolff a.a.O. ab Seite 36):

Wir verstehen den stile antico bei Bach als eine Kompositionsmanier, der die charakteristischen Stilprinzipien der klassischen Vokalpolyphonie zugrunde liegen, ohne daß damit ein Aufnehmen spätbarocker Elemente und die Möglichkeit zu individueller Gestaltung ausgeschlossen sind. […]

a) Die Erscheinungsformen des stile antico im 17. und 18. Jahrhundert sind im wesentlichen durch einige Grundmerkmale geprägt, die aus dem vokalpolyphonen Stil des 16. Jahrhunderts abgeleitet werden können. Diese beziehen sich auf Taktordnung und Zeitmaß, auf rhythmische, melodische und harmonische Gestaltung, polyphone Struktur und Klangform der Musik. […] Vielmehr müssen die für den stile antico bezeichnenden und entscheidenden Merkmale herauskristallisiert werden. In ihrer musikalischen Substanz sind sie vielschichtiger und tiefergreifend als etwa die Elemente des französischen Stils (wie Ouverture, Ornamentik, Jeu inégal und anderes) oder des italienischen Stils (wie Concerto, Da.capo-Form, kantable Melodik und anderes). Sie vermögen daher auch das Gesamtbild der Komposition stärker und einheitlicher zu formen.

b) […] Wir können grundsätzlich nicht alle kompositionstechnischen Einzelheiten der vokalpolyphonen Satzweise, wie sie von der heutigen deskriptiven Musiktheorie am Werk Palestrinas systematisch herausgearbeitet wird, dem stile antico abverlangen. Weder bei Bach noch bei anderen Meistern seiner Zeit wäre dies sonderlich sinnvoll, da der Wandel gewisser allgemeiner Stilmomente vom 16. bis ins 18. Jahrhundert nicht unberücksichtigt bleiben darf.

Ich verstehe es so, dass bestimmte Freiheiten des Satzes, die sich im Lauf der Geschichte eingestellt hatten oder die von Komponisten erschlossen wurden, nicht zugunsten einer altertümlichen Strenge restituiert wurden. In Bezug auf Bach ist besonders interessant, welche alten Kompositionen er sich zur Aufführung oder zum Studium hergerichtet hat und was ihm dabei wichtig gewesen ist. Weiter bei Wolff:

d) […] Wenn wir uns hier auf die nachweisbaren Kopien lateinischer Figuralstücke (…) beschränken, reicht die Spannweite von Palestrinas Missa sine nomine (Erstdruck 1590) bis zu den beiden Sätzen Fac, ut ardeat cor meum und Amen aus Pergolesis Stabat mater (komponiert um 1737/36).

Siehe auch hier im Blog!!!

Direkter Vergleich: Palestrina hier (Credo bei 9:23) Palestrina/Bach Credo hier.

Ein entscheidender Satz zum Verhältnis zwischen der Linearität der Stimmen und den vertikal gedachten Harmonieblöcken steht im Kapitel zur „Aufgabe des Generalbasses“ (Seite 78 f). Und tatsächlich fehlt auch der Hinweis auf Ernst Kurth nicht  :

Die Akkordfolge, der harmonische Aktionsrhythmus, richtet sich allein nach dem Bewegungsmaß der Vokalstimmen; die horizontal gespannte Richtung der Polyphonie erlaubt kein vertikales Zerstückeln. Hier wird die antithetische Position von Melodie als „strömender Kraft“ und der Akkordspannung als „verhaltener, beharrender Kraft“ gelockert und eindeutig mit dem Schwergewicht auf das melodisch-rhythmische Geschehen innerhalb des mehrstimmigen Satzgefüges verlagert.

In Anmerkung 85 findet man den Hinweis auf Ernst Kurth , und die beiden Seiten 80 und 81 sollte man unbedingt bei der Analyse der Bachschen Generalbassbezeichnungen zu Palestrinas Messe verinnerlicht haben:

  

Die von Bach bearbeitete, d.h. vor allem mit Generalbassziffern bezeichnete Palestrina-Partitur, kann man im Anhang des Buches nachlesen:

  

Quelle Christoph Wolff s.o. (a.a.O.)

Musik hören Kyrie (Bach/Palestrina) hier

Palestrina im Original? Hilliard Ens. Canticum canticorum (1584) hier

Barocke Bewegung

Susanne K. Langer zitiert . . .

F.W. Bateson, der wiederum einen Abschnitt aus Geoffrey Scotts The Architecture of Humanism zitiert:

„Im Barockstil ist das Detail grob. […] Es ist schwungvoll und ungenau. Der Zweck aber war genau, wenngleich er um seiner Vervollkommnung willen nach einer ‚ungenauen‘ Architektur verlangte. Sie [die Barockarchitekten] wollten durch ihre Architektur ein Gefühl von triumphierender Spannkraft und überbordender Stärke vermitteln, […] einen riesigen Organismus, der den Eindruck erweckt, von Strömen ununterbrochener Vitalität durchzogen zu sein. Eine mangelhafte Schärfe und Deutlichkeit in den Einzelteilen […] war daher keine tadelnswerte Vernachlässigung, sondern ein unbedingtes Gebot. Ihre ‚Ungenauigkeit‘ war eine notwendige Erfindung.“

Bateson fährt fort:

„Der Barockstil ist schwungvoll und ungenau: Er ist schwungvoll, weil er ungenau ist. Und so verhält es sich auch mit der dichterischen Wortwahl. Dichter wie Thomson, Young, Gray und Collins pflegen einen schwungvollen Stil; in ihrer Wortwahl aber sind sie konventionell. Und ihre Wortwahl ist konventionell, weil der Stil schwungvoll ist. Eine genauere und konkretere Wortwahl würde den Eindruck des Schwungvollen zerstören, den der Stil vermittelt. Nur weil die einzelnen Worte so wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gelingt es der Dichtung, dieses unerhörte, fast überstürzte Gefühl von Bewegung hervorzurufen.“ (Bateson, English Poetry and the English Language, a.a.O., S.77)

Quelle Susanne K. Langer: Fühlen und Form / Eine Theorie der Kunst / Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christiana Goldmann und Christian Grüny. / Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Felix Meiner Verlag Hamburg 2018) ISBN 978-3-534-27034-7 (Zitat Seite 438f Anmerkung 308)

JR: Ich gebe diesen Abschnitt wieder, um ihn in Verbindung zu sehen mit dem Blogartikel „Bachs barocker Bewegungsmodus“ hier.

Vom Begriff „konventionelle Wortwahl“ im Bateson-Zitat komme ich auf Bachs standardisierte rhythmisch-motivische Wortwahl, – wenn ich den Begriff einmal so umdeuten darf -, also das auch von Vivaldi vielfach verwendete Motiv, oder eben hier  im Thema des dritten Brandenburgischen:

Oder in der C-moll-Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers:

Auf der anderen Seite steht Bachs rhythmische Genauigkeit im Detail:

*     *     *

Ein anderes Thema, bei dem es um die musikalische Auffassung von ZEIT und Bewegung geht, möchte ich hier festhalten, obwohl es sich nicht auf Barock oder Bach bezieht, sondern auf das Phänomen Musik überhaupt. (Langer knüpft dabei an Bergson an, auch an Schenker, im Hintergrund präsent immer auch Hanslick-Provokationen; es gibt im übrigen – im Anschluss an Bergson – bei ihr sehr lesenswerte Ausführungen über Marcel Proust.) Ich notiere das, obwohl es allbekannte Beobachtungen zu wiederholen scheint.

ZITAT

Die Elemente der Musik sind bewegte Klangformen, doch in ihrer Bewegung wird nichts fortbewegt. Das Reich, in dem sich tonale Einheiten bewegen, ist ein Reich der reinen Dauer. Diese Dauer ist allerdings so wenig wie die musikalischen Elemente ein reales Phänomen. Sie ist kein Zeitraum – nicht zehn Minuten, eine halbe Stunde oder irgendein Bruchteil eines Tages -, sondern etwas vollkommen anderes als die Zeit, in der sich unser öffentliches und praktisches Leben abspielt. Sie ist inkommensurabel mit dem Fortgang der Dinge des Alltags. Die musikalische Dauer ist ein Bild dessen, was man „gelebte“ oder „erfahrene“ Zeit nennen könnte – ein Bild des Lebensflusses, der für uns spürbar wird, wenn aus Erwartungen ein „Jetzt“ und das „Jetzt“ zu einer unabänderlichen Tatsache wird. Solch ein Fluss lässt sich nur in Bezug auf Empfindungen, Spannungen und Gefühle messen, und er weist nicht nur ein anderes Maß, sondern eine völlig andere Struktur auf als die wissenschaftliche Zeit oder jene, die unsere Alltagsgeschäfte bestimmt.

Der Schein dieser vitalen, erlebten Zeit ist die primäre Illusion der Musik. Die ganze Musik erschafft eine Ordnung der virtuellen Zeit, in der ihre tönenden Formen sich in Beziehung zueinander bewegen – immer und nur zueinander, denn etwas existiert dort nicht. Die virtuelle Zeit ist von der Aufeinanderfolge realer Geschehnisse so verschieden wie der virtuelle Raum vom realen. Zunächst einmal ist sei durch den Gebrauch eines einzigen Sinnes, des Gehörs, wahrnehmbar. Keine andere Art von sinnlicher Erfahrung tritt ergänzend hinzu. Schon allein dadurch unterscheidet sie sich erheblich von unserer „Common-Sense“-Version der Zeit, die sogar noch zusammengesetzter, heterogener und fragmentarischer als unser vergleichbarer Raumsinn ist. Innere Spannungen und äußere Veränderungen, Herzschläge und Uhren, Tageslicht, Routinen und Ermüdung liefern uns verschiedene unzusammenhängende Zeitinformationen, die wir aus praktischen Gründen dadurch koordinieren, dass wir die Herrschaft der Uhr akzeptieren. Die Musik hingegen bietet die Zeit unserem unmittelbaren, vollständigen Erfassen dar, indem sie es unserem Gehör erlaubt, sie zu monopolisieren – sie ganz allein zu organisieren, zu erfüllen und zu gestalten. Sie erschafft ein Bild der Zeit, wie sie gemessen wird durch die bewegten Formen, die ihr Substanz verleihen, eine Substanz freilich, die allein aus Klang besteht und so die Vergänglichkeit selbst ist. Musik macht Zeit hörbar und ihre Form und Kontinuität fühlbar.

Quelle Susanne K. Langer: Fühlen und Form a.a.O. Seite 220 f.

Die Philosophin zitiert an dieser Stelle einen Autor, dessen Schrift ihr, wie sie schreibt, gerade erst in die Hände gefallen ist, Basil de Selincourt ; ich finde, das Zitat ist die perfekte Ergänzung ihres Gedankens:

Musik ist eine Form der Dauer. Sie setzt die gewöhnliche Zeit außer Kraft und bietet sich selbst als idealen Ersatz und Äquivalent an. Nichts ist in der Musik metaphorischer und künstlicher als die Behauptung, die Zeit verfließe, während wir ihr lauschen, die Entwicklung der Themen folge der zeitlichen Handlung der einen oder anderen Person, die in ihnen verkörpert ist, oder wir veränderten uns selbst beim Zuhören. Der von einem Maler verwandte Raum ist ein übertragener Raum, in dem sich alle Objekte in Ruhelage befinden, und auch wenn Fliegen über seine Leinwand kriechen, liefert ihr Kriechen kein Maß für die Entfernung von einem Farbton zu einem anderen. […] Auf ähnliche Weise ist die musikalische Zeit eine ideale Zeit, und wenn wir ihrer weniger direkt gewahr werden, dann deshalb, weil unser Leben und unser Bewusstsein stärker durch die Zeit als durch den Raum bedingt sind. […] Die idealen und realen Raumrelationen zeigen in der Einfachheit des Gegensatzes, den wir zwischen ihnen wahrnehmen, die Verschiedenheit ihrer Natur an. Die Musik verlangt andererseits, dass wir unser ganzes Zeitbewusstsein von ihr absorbieren lassen. Unsere eigene Kontinuität muss in der des Klangs, dem wir lauschen, verloren gehen. […] Unser Leben wird ja durch Rhythmen gemessen: durch unsere Atmung, unseren Herzschlag. Solange Zeit aber Musik ist, sind sie belanglos , tritt ihre Bedeutung zurück. […]

Wenn wir beim Hören einer Musik ‚aus der Zeit fallen‘, lässt sich dieser Zustand am besten durch die einfache Überlegung erklären, dass es ebenso schwierig ist, sich gleichzeitig in zwei Zeiten zu befinden wie an zwei Orten. Zeit ist für die Musik ein Element des Ausdrucks und Dauer ist ihr Wesen. Anfang und Ende einer Komposition sind nur dann eins, wenn die Musik von dem Zeitraum zwischen ihnen Besitz ergriffen und ihn ganz ausgefüllt hat.

Quellenangabe bei Langer: Basil de Selincourt, Music and Duration, in: Music and Letters I Nr. 4 (1920), S. 286-293, hier 286 f.

Im Anschluss an dieses Zitat findet man bei Langer eine sehr interessante Analyse des Unterschieds zwischen der virtuellen und der realen Zeit, insbesondere auch der Maßgabe der Uhr als einer speziellen Abstraktion der Zeiterfahrung, „nämlich(e) Zeit als reine Abfolge, die durch eine Klasse idealer, in sich unterschiedsloser Ereignisse symbolisiert wird.“ (Langer a.a.O., S.223)

Beobachtungen im gleichen Zeitaum

Frage am Rande (am Wegesrand direkt am Haus): Ist es der  Frühlingsbote „Scharbockskraut„? Der Fuß unserer Buche…

Und das Schattenspiel derselben Buche am Nachbarhaus:

An dieser Stelle erneuerte Bekanntschaft mit der Heckenbraunelle. Man muss die Zeichnung ihres Gefieders gesehen haben, um sie zu mögen und auch ihre Stimme aufmerksam wahrzunehmen: Hier 3:39 (man darf zurückkehren und beim Hören weiterlesen).

(Handyfotos: JR)

Mozart für immer!

Der ideale Dialog

Kein Mensch kann sagen, ich hätte mich nicht bemüht. Im Autoradio hatte ich nur den letzten Teil der Sonate KV 306 mitbekommen, da wo die Instrumente Abschied nehmen (voneinander? von uns? von der Mutter?), – so hatte ich das noch nie gehört. Als ich nach Hause kam, musste ich die CD bestellen, traf aber zugleich auf die Violinkonzerte, gut, dann eben die auch, die zigste Version, hatte ich nicht schon die mit Andrew Manze über den grünen Klee gelobt? Dann kamen diese neuen Konzerte an, aber die Sonaten fehlten, auf dem (separaten) Postweg verlorengegangen. Reklamation. Und heute sind sie nachgeliefert und übertreffen alle Erwartungen. Aber nicht nur die Musik, auch alles andere passt: der Text (von Wolfgang Fuhrmann), das Understatement-Cover. So etwas ist kein Zufall, vielleicht die Firma? Harmonia Mundi. Nein, es ist vor allem der eine Name, der genannt werden muss: Isabelle Faust. Womit nichts gegen Alexander Melnikov gesagt sein soll. Was wäre die Geige ohne den wunderbaren Part des Hammerflügels!? Man sagt dann immer kongenial, und das ist klingt hier auch wirklich angemessen. Noch ein Name sollte genannt werden, – auf der letzten Seite steht: The musicians express their gratitude to Andreas Staier for his Mozart expertise. Das kann ich mir vorstellen!

Es ist Vater Leopolds Hand, die man da sieht. Was für eine gute Idee, das vollständige Bild hätte mich beim Hören zu sehr beschäftigt. Die Art, wie die Geschwister herausschauen beim Vierhändigspielen, und erst der Vater. Die Mutter aber auf dem Bild an der Wand: sie war in Paris gestorben, hat sie dort die beiden Sonaten noch gehört? Die in E-moll gehört in die Nähe der A-moll-Klaviersonate…

(Fortsetzung folgt)

Lesenswert

Notizen aus der Süddeutschen

ZITAT

Bald schon entwickelte ich ein Leitmotiv, das seither alle meine Unternehmungen geprägt hat: Neue Technologien führen immer auch zu neuen Erkenntnissen. (…)

MacLuhan selbst brachte mich auf Warren Weavers und Claude Shannons Forschungsarbeit von 1949, die den Titel trug „Jüngste Beiträge zur mathematischen Theorie der Kommunikation“ und mit dem Satz begann: „das Wort Kommunikation wird hier in einem sehr weit gefassten Sinn verwendet, der sämtliche Vorgänge umfasst, durch die ein Geist auf einen anderen einwirkt.

Realität ist ein menschengemachter Prozess. Die Bilder, die wir von uns selbst und unserer Welt machen, sind zum Teil Modelle, die in den Erkenntnissen der Technologien wurzeln, die wir erschaffen. Obwohl viele von uns noch nicht bereit waren, betrachteten wir schon nach wenigen Jahren unser Gehirn als Computer. Und als wir die Computer zum Internet vernetzten, realisierten wir, dass unser Hirn kein Computer ist, sondern ein Netzwerk aus Computern.

Quelle Süddeutsche Zeitung Freitag 15. März 2019 Seite 11 John Brockmann: Der Geist der unbegrenzten Möglichkeiten / Von Kybernetik, Mensch und Menscmaschine – eine kurze Geschichte des Nachdenkens über künstliche Intelligenz. (Erster Beitrag einer SZ-Serie über Künstliche Intelligenz.)

Merken: Norbert Wiener: „Mensch und Menschmaschine – Kybernetik und Gesellschaft“ 1950.

ZITAT

Natürlich war das ein Torwartfehler. Natürlich gilt immer noch die Regel der Urväter, wonach ein Torwart, wenn er rauskommt, den Ball haben muss. Und Neuer war wirklich weit rausgekommen in dieser 26. Minute, und man sah seinen Lauf- und Irrwegen geradezu die Gedankenkollision in seinem Torwartkopf an: Die Situation da draußen im Gelände sah ganz anders aus, als er sich das drinnen im Tor vorgestellt hatte, und, huch, da war schon die Strafraumlinie, er durfte auf keinen Fall mehr Hand spielen jetzt, und foulen durfte er auch nicht, und jetzt, huch, … und dann flog der Ball auch schon in höhnischer Flugkurve in das verlassene Tor.

Wer Neuer auf die Anklagebank setzt, wird aber auch mildernde Umstände anerkennen müssen. Das vorwärts und rückwärts gespulte Bild zeigt, dass Fußball ein Teamsport ist, in dem selten einer alleine verliert, und so ist auch dieses 0:1 eher ein Dokument allgemeiner Desorientierung. Der lange Pass von Liverpools van Dijk führt nicht nur Rafinha vor, der sich von Mané übersprinten und übertölpeln lässt. Im Bild sieht man auch Niklas Süle und Mats Hummels, die erst zurücktraben und dann, fast im gleichen Moment, die Gefahr erkennen und Tempo aufnehmen; zu spät, um rechtzeitig am Unfallort einzutreffen.

Quelle Süddeutsche Zeitung Freitag 15. März 2019 Seite 27 Christof Kneer: Ein Fehler, der im Büro beginnt / Neuer patzt beim 0:1 – aber das Tor erzählt eine größere Geschichte.

Ansehen? Hier 

ZITAT

Trotz des großen Forschungsbedarfs waren sich die meisten Entomologen in Halle aber einig, dass genug Wissen vorhanden ist, um schon jetzt zu handeln und etwas gegen den Schwund [der Insekten] zu unternehmen. Klar ist, dass die intensive Landwirtschaft eine der Hauptursachen für das große Sterben ist. „klar ist aber auch, dass das nicht allein das Problem der Landwirte ist,“ sagte Olaf Zimmermann vom Landwirtschaftlichen Technologiezentrum Augustenberg in Baden-Württemberg. Auch die Verbraucher müssten umdenken und in Kauf nehmen, dass insektenfreundlich produzierte Lebensmittel teurer sein werden. Und die Politik muss eine insektenfreundliche Bewirtschaftung der Felder auch finanziell belohnen.

„Das größte Problem der Insekten mit der intensiven Landwirtschaft ist nicht der Einsatz von Insektiziden“, sagt Gross. Viel schlimmer sei, dass in Deutschland auf riesigen Flächen nur noch einige wenige Pflanzen wie Mais und Weizen angebaut werden, mit denen die Insekten nichts anfangen können, da sie vom Wind bestäubt werden. Solche Flächen sind für viele Kerbtiere wie grüne Wüsten, in die sie gar nicht erst hineinfliegen. „Da braucht es gar keine Insektizide mehr, die Insekten verschwinden auch so“, sagt Gross.

Das zu verändern, wäre eigentlich gar nicht so schwer. [Weiterlesen: hier]

Quelle Süddeutsche Zeitung Freitag 15. März 2019 Seite 16 Summen am Feldrand Blühstreifen, Hecken, weniger Pestizide: Um das Insektensterben zu stoppen, würden schon einfache Maßnahmen helfen. Aber finden Entomologen mit ihren Forderungen Gehör? / Von Tina Bayer

Bittgesang eines noch nicht Genesenen?

ZITAT

Und sie können leiser spielen, als es manchem im Saal lieb ist. Wenn da ein Pianissimo steht (die drei Komponisten des Abends lieben diesen Leisigkeitsgrad), dann ist das halt doppelt so leise wie ein Piano – und schon in der vierten Reihe ziemlich am Rand der Stille. Was wohl davon noch ganz hinten im Saal zu hören ist?

( . . . )

Am intensivsten und stimmigsten versenkt sich das Ensemble in die langsamen Sätze. Natürlich in Beethovens brütende Doppelvariation, die das langsame Zu-Kräften-kommen eines Kranken nachzuzeichnen vorgibt. Linien tauchen auf und brechen ab, Triller fluten dazwischen, Girlanden und Akkordakzente verschlingen sich, zuletzt zerbricht die Musik, entschwebt zart in die Höhe: War die Heilung nur eine Vision, meinte sie den Tod?

( . . . )

Und die daraus resultierende Abschiedswehmut schwebte über dem ganzen Abend, sie schien erklären zu wollen, warum Kammermusik immer mehr aus dem Fokus der Öffentlichkeit schwindet.

Quelle Süddeutsche Zeitung Freitag 15. März 2019 Seite 12 Gleichberechtigter Genesungsgesang / Das Belcea-Quartett spielt Beethoven in München / Von Reinhard J. Brembeck

Schauen wir nach:

Zerbricht die Musik? … meinte sie den Tod?

Beethovens Titel lautet: Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lidischen Tonart. Zwischenüberschrift zum D-dur-Teil: Neue Kraft fühlend.

Nirgendwo bei Beethoven eine Stelle, die „das langsame Zu-Kräften-kommen eines Kranken nachzuzeichnen vorgibt.“ Hier scheint dagegen jemand ein sprechendes Beispiel geben zu wollen, warum Kammermusik immer mehr aus dem Fokus der Kritik schwindet.

Nachwort

Man könnte meinen, dass diesem Leser (ich versuche, mich distanziert zu sehen) an diesem speziellen Wochentag genau diese Artikel am wichtigsten waren; dass er sie am gründlichsten gelesen, bei ihnen am längsten verweilt hat. Das ist durchaus nicht so. Ich müsste auf die Brexit-Beiträge verweisen (zugleich auf den Überdruss am Thema), dann auf die gesamte Seite drei, auf der der Verlauf und das Umfeld eines Doppelmordes rekonstruiert wird. Lese-Motiv? Die Fotos: Blick aufs adrette Eigenheim, das gemeine Grün des Rasens, ein verklemmtes Paar auf dem Sofa. Der Beginn des Artikels:

Der musikalische junge Mann hat bisher kein Geständnis abgelegt, aber nach Lage der Dinge gibt es keinen vernünftigen Zweifel daran, dass Ingo P. seine Mutter und seinen Vater erschlagen hat.

Auf der Rückseite der politische Hauptkommentar, über Macron, leicht erschütternd, sagen wir irritierend: über den Liebling der Deutschen, Macron und seine Politik. Also Thema FRANKREICH. Die Republik erzieht / Von Nadia Pantel. Nachzulesen HIER.

Kein Kommentar von meiner Seite. Aber dies behalte ich im Gedächtnis, alles andere vielleicht nicht. Oder ich wollte mir (Ihnen?) was vormerken, z.B. die angekündigte Serie über Künstliche Intelligenz. Oder ich wusste es schon, z.B. die Sache mit den Insekten und der Landwirtschaft. Wollte es nur warmhalten (der Frühling kommt mit heftigen Sturmattacken). Auch die Fernsehsendung 12.03.19 über das Wetter mit Harald Lesch. Wirbelstürme. Siehe ZDF-Mediathek HIER. Und Musik, sowieso, immer.