Archiv für den Monat: August 2018

Vormerken zum Nachhören (letzter Tag vorbei)

Richard Strauss

Ein hervorragender biographischer Film:

http://www.3sat.de/page/?source=/musik/197445/index.html  HIER

oder

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=74473  HIER

Von Barbara Wunderlich und Marieke Schröder (2014).

Screenshot aus dem Film: Blick in die Villa Strauss Garmisch

Ab 3:26 (Sein Onkel Pschorr hatte ihm 5000 Goldmark für diese Reise gegeben.)

An Cosima Wagner

Weimar, 20. Oktober1892

Den 4. November werde ich nach Korfu abdampfen. Von da nach dem altgriechischen Bayreuth, Olympia, Korinth, Athen. Wie nötig ich diese Reise brauche, alle mal abwerfen, weit weg von dem trostlosen Deutschland der Philister. Die Zeit des selbständigen Mannesalters vorbereiten, dünkt mich neben der Sorge für meine Gesundheit von Herzen erstrebenswert. Und so stürze ich mich begeistert auf diese Reise.

Kairo, 9. December 1892 Shepheards Hotel

Hochverehrteste gnädige Frau,

was ich alles in Griechenland erlebte, sind Eindrücke bestimmend fürs ganze Leben. Ich wusste bis jetzt nicht, dass ein Bauwerk den Menschen bis zu Tränen rühren kann. Nun hab ich’s beim Anblick des Pantheon erfahren. Ich sehe nun einmal die Krone der Schöpfung im Leben des Genius im reinen willenlosen Subjekt der Erkenntnis. Das einzige wahre, reine Glück künstlerischer Produktion, wiegt dies nicht qualitativ alle Leiden der Welt auf?

(Nach Gehör notiert, JR. – Mir scheint, dass der junge Genius die Wörter „Pantheon“ und „Parthenon“ miteinander verwechselt…)

Ein „griechischer Germane“, so sah er sich angeblich selbst. Er ist der herausragende Vertreter des deutschen Großbürgertums, für unsere Begriffe als Dreißigjähriger nicht nur wohlhabend, sondern steinreich, zudem einer, der angesichts eines griechischen Tempels in Ekstase geraten konnte, und allen Ernstes sagte oder schrieb: „Wer Homer nicht im griechischen Originaltext lesen kann, ist kein Mensch!“ „Kein gebildeter Mensch?“ „Nein, kein Mensch!“

Er hat den gesamten Goethe gelesen (incl. Propyläen!), mehrfach.

Ab 10:05 über Salome (Gustav Mahler, Inge Borkh), 13:22 Rosenkavalier (Lucia Popp, Fassbaender 1979)

 Salome – der Film

Die Salzburger Aufführung 2018:

SALOME

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=74474  HIER

Screenshot: Salomes Tanz – im Stein gefesselt?

Zitat Badische Zeitung („eine semantische Sackgasse“?):

Ein schwarzer Vorhang, darauf rechts unten die Inschrift „Te saxa loquuntur“. Salzburg-Kundige kennen sie, sie ist über das Ostportal des Sigmundstors gemeißelt: „Von dir sprechen die Steine“ – eine Widmung an den Bauherren Sigismund Graf Schrattenbach. Aber wem wird hier gehuldigt in der Felsenreitschule, nur wenige Meter unweit dieser Tafel? Jener Figur, die hinter dem leicht transparenten Vorhang, die Schwerkraft scheinbar mühelos überwindend, diagonal die Rückwand hoch läuft, um dann aus dem Bild zu verschwinden, während die goldenen Lettern zerreißen und der gewaltige schwarze Schleier wie in Zeitlupe den Blick auf die Bühne freigibt? Und wer war sie, diese Figur. Der Prophet Jochanaan? Oder die Titelfigur Salome, zur Entstehungszeit des Stücks Inbegriff einer neuen Femme fatale?

Quelle hier 

*   *   *

Weiter zurückliegend, teilweise ärgerlich (durch ironischen oder blasierten Tonfall, der Pianist St. M. als Könner & Dandy ), aber wichtige Originalfilme (mit rekonstruiertem Musikton) mit Richard Strauss beim Dirigieren :

„Am Ende des Regenbogens“

https://www.servus.com/de/p/Richard-Strauss—Am-Ende-des-Regenbogens/1398690927617-552981173/  HIER

Ein Film von Eric Schulz (2014).

Zitat aus Pressetext:

 Ein besonderer Coup ist der Fund einer Filmrolle, die den Ton der am 2. August 1936 mit den Berliner Philharmonikern und 1000 Chorsängern (Leitung: Richard Strauss) im Berliner Olympiastadion uraufgeführten Olympischen Hymne enthält, die hiermit erstmals im Originalton vorliegt. Darüber hinaus ist Richard Strauss in einem erstmals veröffentlichten Interviewausschnitt sowie als öffentlicher Redner zu erleben. Der Dokumentarfilm bietet zudem den einzigen erhaltenen Probenausschnitt mit Richard Strauss bei der Orchesterarbeit.

Ganz wesentlich ist in den beiden Filmen die Rolle des Musikwissenschaftlers, im ersten Fall Laurenz Lütteken, der mir schon durch sein Mozart-Buch unauslöschlich in Erinnerung bleibt; im zweiten Fall Walter Werbeck, dem ich wohl 2008 in Greifswald mal persönlich begegnet bin. Ausschlaggebend ist für mich in diesem Fall die sorgfältige Behandlung der Stellung des Komponisten zum Dritten Reich. Es genügt nicht, ihn als Opportunisten vorzuführen. Entlarvend seine Erschütterung, als ihm nach dem Krieg klar wird, dass er für die junge Generation keine Rolle mehr spielt. (Dem Sinne nach: „Ich bin doch auch immer modern geblieben!“) Auffällig, wenn in beiden Filmen die gleichen Leute beteiligt sind, wie Brigitte Fassbaender, im zweiten wird sie als engagierte Pädagogin präsentiert, die im Wechsel mit dem wirklich singenden Mund (Nahaufnahme, porenscharf) der netten Sängerin Emma Moore ins Bild gesetzt wird, wie sie mimisch übermäßig mitagiert, gleich einem Alter-Ego auf Ersatzbank. Man spürt, dass die Regie partout mit eigenen Ideen glänzen will; aber dass sie sich überhaupt hineindrängt, wirkt peinlich und deplatziert. Etwa bei der originalen Strauss-Rede immer wieder die wissenden Gesichter der Nachfahren einzublenden, damit auch wir begreifen, dass da einer nichts begriffen hat…

Richard Strauss:

(…) Lassen Sie mich diesen kurzen biographischen Überblick damit beschließen, dass ich den Wunsch ausspreche, dass die liebe Vaterstadt München bald wie möglich wieder in ihrem alten Glanze erstehen möge, und dass die uns von großen Traditionen erfüllten Kunststätten zu neuem Leben erblühen und wiederum von der ganzen gebildeten und kunstsinnigen Welt besucht ist und geliebtes Kulturzentren bilden möchten.

Und dazu ein säuselndes Klavier mit Rosenkavalier, die Marschallin abschiednehmend, zu schön, zu süß um wahr zu sein, man möchte weinen. Über Deutschland?

 

Zurück in die Zukunft

Oder: Vergegenwärtigung

Den folgenden Absatz schrieb ich am 19. November 2016. (Ich fand ihn wieder, als ich mich aufs neue an eine Musik erinnerte, die mir aufs neue verloren schien : hier.)

Erinnerung

Da ich jetzt die LP der Marienvesper mit dem Aachener Domchor in Händen hielt, – wie die Qualität nach heutigen Maßstab zu beurteilen wäre, weiß ich nicht (ich lege die LP vorsichtshalber nicht auf). Aber ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit an die unvergessliche Aufführung eines französischen Chorwerkes, das mich in rhythmischer Hinsicht faszinierte, im Aachener Dom. Tanzrhythmen oder so etwas wie ein daktylisches Versmaß, eher langsam, oft hintereinander, so dass es eine eigene rhythmische Qualität gewann, in homophonem Zusammenhang. Eindeutig französisch, Lully-Zeit, es war in den Jahren, als wir auch Chorwerke von Francesco Cavalli einspielten. Ich habe den Namen –  Michel-Richard de Lalande muss es gewesen sein! – und höre alles, was ich mit William Christie auf youtube zu fassen kriege. Ja, dieser Komponist war es! Unvergleichlich. Wie allenfalls Rameau oder Campra, aber diese nicht im geistlichen Bereich. Gerade das macht den Zauber aus, diese Rhythmen im Aachener Dom.

Jetzt war es unabweisbar: Diese Musik muss ich wieder um mich haben, genau so wie eine völlig andere, die ich bei einer Aufnahmereise am Ohrid-See kennengelernt habe, – albanische Musik -, später hatten wir das Ensemble in Köln in einer WDR-Nachtmusik, elektrisierende Klänge. Beides unerhörte Musik, die eine durch den Rhythmus, die andere durch die Polyphonie. Ich schreibe erst weiter, wenn ich das präzisieren kann. Es scheint mir plötzlich keine Privatsache mehr, die nur aus meiner zufälligen Biographie hervorgeht. Waren es nicht die Jahrzehnte der (Wieder-)Entdeckungen, in der Alten Musik wie in der „ethnologisch motivierten“? So dass man sich fühlte wie Humboldt, im Zuge einer allmählichen Erschließung der Welt? Und heute ist es alles da, für jeden greifbar, ja, jeder kann ganz leicht daran teilhaben, – aber niemand sehnt sich mehr danach! Ist das möglich: man erzählt von himmlischen Paradiesen, an denen man teilhatte, und jemand sagt: soso …  dann bestell sie dir doch.

Versandbestätigung vom 07.08.2018 · an jan.reichow@……..

 

Guten Tag,

folgende Artikel sind unterwegs zu Ihnen:

BESTELLNR. ARTIKEL ANZAHL
8237577 Delalande: Te Deum 1
8237581 Delalande: Petite Motets 1

Es ist allerdings dann doch nicht die Musik, auf deren Auferstehung ich hoffte… Ein Hauch vielleicht in Tr. 6 – kaum 50 Sekunden – „Tu Rex gloriae, Christe“. Letztlich nur viele, allzu kurze Stücke. Aber wunderbarer Abschluss Tr. 12 mit Veronique Gens: „Dignare Domine“ + Terzett „Miserere“ und Tr. 13 Chor „In te Domine speravi“ rhythmischer Elan.

Zum Vergleich auch auf youtube (in anderer Aufnahme) abrufbar: hier.

Und genauso die albanische Musik… warum denn nicht? Hier. Ist es vielleicht das, was du meinst? Ein himmlisches Paradies, möglichst im Diesseits? Na ja, die Geschmäcker sind verschieden.

Die Aufmachung der CD finde ich ungünstig. Sie erinnert an die programmatisch positive Stimmungsmache der Kultur im alten Ostblock. Die allzeit fröhlich, zum Fest gerüstete junge Bäuerin. Man liest eine englische Titelzeile, die nichts, aber auch gar nichts von den Gefühlen eines Liedes verrät, überhaupt erfährt man erst im unleserlichen Kleinschriftbereich, dass es sich insgesamt um den „Southern Albanian Song“ handelt. Und endlich entdeckt man im Booklet zu Tr. 3 die titelgebende Zeile und das schöne poetische Umfeld:

Es ist tatsächlich eine wunderschönes Lied, von Solo-Frauenstimmen im klagenden Wechselgesang wie auch in paralleler Zweistimmigkeit vorgetragen, Tr. 3 . Leider endet sie als „Abbruch“. Übrigens erinnert mich diese Musik wiederum an ein weit zurückliegendes Musikerlebnis, als ich Marius Schneider noch nicht persönlich kannte, nur aus dem Radio. Seine Sendung Liebesklage und Totenklage mit einer Totenklage, einer Form chaotischer Musik mit weitschweifenden Klarinetten- und Geigenmelodien samt Schafblöken und Hundebellen, die kein Ende zu nehmen schien, – aber  von den griechischen Inseln (?) stammensollte. In der Tat aber ist es, wie mir später schien,  eben dieser „albanische“ Stil, der auch in Nordgriechenland zu finden ist. Tr.8 „Dearest Mother“ Trauer im fremden Land, fern der Heimat, absteigende Glissandotöne und „zu tiefes“ Singen. Tr.9 Klarinettensolo über Bordun auch „zu tief“, Kommentar:

 Laver Bariu? hier

16.10.1983

Weiteres zur albanischen Polyphonie

Eine andere Welt (kein Paradies)

„But you need more than two people to sing…“ POLYPHONIA ab 5:30

Was mir auffiel, während ich meinen eigenen Aberrationen eine Linie zu geben suchte, war folgendes: eigentlich wollte ich etwas Triftiges über Freiheit verschriftlichen. Oder auch über den Wunsch nach Befreiung, zu dem in den 60er Jahren so vieles passte, das mich in der Realität beeindruckte. Und heute (inzwischen ist der 11. August) wieder in aller Frühe, als das Tageblatt eine ganze Seite den Lügen Trumps widmete (Ulli Tückmantel) und dabei das kleine Buch von Hannah Arendt eine besondere Rolle spielte. Ich könnte also hier anknüpfen, müsste aber auch wieder die Buchhandlung Jahn anrufen, bevor die Duo-Probe beginnt… (Bücher möglichst immer auf diesem Wege.)

(Fortsetzung folgt – neuerdings tatsächlich am besten hier)

Wie ich einen Raga lerne

Und zwar gerne…

  1. Ich präge mir seine Töne ein (die Skala). Wenn es sich um einen Raga der südindischen Musik handelt, versuche ich seinen Standort im Melakarta-System zu ermitteln, also anhand der alten systematischen Übersicht aller möglichen Skalen. Ich schaue immer noch in das Buch meines Lehrers Josef Kuckertz oder in das große Buch von Ludwig Pesch. Oder ins Internet, im Fall des Ragas Pantuvarali bin ich hochmotiviert und werde mithilfe dieser eiligen Methode über Wikipedia seltsamerweise sofort umgeleitet zu Kamavardani, nämlich hierher.
  2. Die Stellung im Melakarta-System (nach Kuckertz): Nr. 51

 

Josef Kuckertz: Form und Melodiebildung der Karnatischen Musik Südindiens / im Umkreis der vorderorientalischen und der nordindischen Kunstmusik (Wiesbaden 1970)

Zur Sicherheit schaue ich auch bei Ludwig Pesch nach und erfahre, dass der Raga zu den populären gehört, die Namen Kamavardan und Pantuvarali ihn gleichermaßen bezeichnen; darüberhinaus der Hinweis auf Purvi That, also die ihm entsprechende Skala in der nordindischen Musik.

Ludwig Pesch: The Oxford Illustrated Companion to SOUTH INDIAN CLASSICAL MUSIC (Oxford New York 1999)

3. Jetzt kürze ich ab und komme bereits zum schönsten Teil des Lernvorgangs: was macht denn eine solche Skala zu Musik? Es sind die melodischen Tonverbindungen und Ornamente, die aus bloßen Tönen energetische Prozesse hervorlockt (man könnte auch umgekehrt sagen: diese waren zuerst da, und erst die Abstraktion einzelner Töne hat die Darstellung der kahlen Skalen ermöglicht). Jetzt heißt es: hören, hören, hören.

4. Habe ich etwas davon – sagen wir mal: als Klavierspieler, als Mitglied eines Musikensembles oder eines Chores – , wenn ich dergleichen hören lerne? Ich muss es nicht nachmachen können, aber wahrnehmen, nicht nur obenhin, sondern im kleinsten Detail. Fast so, als wolle ich es notieren. (Bei Kuckertz war das genaueste Notieren die Hauptaufgabe in den Seminare. Dafür wurde das Tonband sogar auf halbe Geschwindigkeit eingestellt!) Die Chance ist groß, dass ich diese Details lieben lerne. Man muss es sehr oft wiederholen, die Wiederholung, das Eintauchen in die Details ist die Grundlage der Musik. Ich sage nicht: es ist gut fürs Gehirn. Es macht musikalischer, auch bei einer Mozart-Sonate, behaupte ich, obwohl man nichts davon mental direkt übertragen kann. Und das ist der wichtigste Grund.

Ein grundlegendes Buch über den Menschen und seine Musikalität hat einen recht einfachen Titel:

Rückblick

Soll ich es für einen Zufall halten, dass ich auf diesem Wege immer wieder auch auf meine ersten Begegnungen mit indischer Musik zurückverwiesen werde? Natürlich nicht. Der nordindische Sitarmeister Imrat Khan machte mich 1974 mit dem südindischen Thema „Vatapi ganapatim“ bekannt, ich schrieb den Text für seine Schallplatte, die damals bei der deutschen Harmonia Mundi herauskam. Und verfolgte die Quellen dieser Musik dank WDR weiter, produzierte sie mit bedeutenden südindischen Künstlern „im Original“ und machte Radiosendungen, in denen die verschiedenen Versionen verglichen wurden.

Ausschnitt aus meinem Kommentar zur Harmonia-Mundi-LP mit Imrat Khan (1974):

Und nun die freudige Überraschung des heutigen Tages, nicht voraussehbar gestern, als ich diesen Artikel begann (übrigens angeregt durch einen facebook-Eintrag des Musikethnologen Manfred Bartmann):

Ausschnitt aus der Vatapi-Transkription von Josef Kuckertz, enthalten im Beispielband seines oben angegebenen Buches über „Form und Melodiebildung der Karnatischen Musik Südindiens“ ( 1970):

Baum Gehirn Musik

Ein Titel als Tentakel

Ich will diesen Film festhalten (wie früher die Bücher über Bäume), abrufbar bis 1.9.2018, jetzt wieder neu bis Juli 2020 —- meine eilige Suche hat neue Links ergeben, oder immer denselben???? s.u.!

https://www.arte.tv/de/videos/065298-001-F/ein-traum-von-baum/ ODER HIER

Korrektur 21.06.2020 die Artefilme jetzt HIER, derselbe HIER, Hier und HIER !!!! oder HIER  

Wikipedia zu Araukarien HIER  /  Wikipedia zur Chilenischen Araukaria Hier

Wikipedia über den Afrikanischen Affenbrotbaum (Baobab) Hier

Über Flughunde als Baobab-Blüten-Bestäuber im Film bei etwa 30:00

Über Animismus und die Griots ab 42:00

In einer Talkshow gestern hörte ich einen betagten Gast über Kindererziehung reden: „…auf jeden Fall soll das Kind Klavier lernen. Das ist gut fürs Gehirn.“ Ich will seinen Namen nicht nennen, es geht nicht um das Persönliche, sondern um den in der Gesellschaft verbreiteten Schwachsinn: wesentlich ist nicht die musikalische Substanz, man wirbt halt nicht mit Kunst, Intensität, Vielfalt, Perspektive, sondern mit Nützlichkeit. Nützlich wofür??? Für irgendwas, an dem auch Gehirn beteiligt ist. Etwas Komplexes zu handhaben oder auseinanderzupflücken. Mit Messer und Gabel essen, per Smartphone einen ganzen Freundeskreis zuzutexten. Es geht nicht um Deutung, um Weltverständnis. Das Innenleben eines Baumriesen jedenfalls hat mit Gehirn im utilitaristischen Sinn nichts zu tun. So wenig wie eine Fuge von Bach mit der akustischen Tapete der Filmmusik, die zur Untermalung von Naturfilmen geschaffen wird.

Der Organismus ist nur die Erfindung einer neuen Möglichkeit, sich mit der Welt zu mischen und es der Welt zu erlauben, sich im Inneren zu mischen. Atmen bedeutet hier unten [in der Umwelt der Wurzeln], sich einen tentakulären Körper zu geben, der sich dort einen Weg bahnen kann, wo er von Gestein versperrt ist, Fortsätze und Arme zu mehren, um so viel Erde wie möglich zu umfassen, sich ihr auszusetzen wie das Blatt dem Himmel.

Quelle Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt (Hanser 2016, Seite 111f)

Vier Baumbücher. So könnte es ewig weitergehen. Bis hierher etwa:

Aber ist es nicht still geworden um diese Pflanzen- oder Baum-Philosophie? Gewiss, es hat ja auch mit Stille zu tun und nicht mit dem Markt der Moden. Nicht einmal mit Förster Wohlleben.

Zitat Fernsehsender ARTE:

Altehrwürdige Bäume, die Leben spenden – die Chilenische Araukarie und der Afrikanische Affenbrotbaum haben eines gemeinsam: Sie sind Teil einer jahrtausendealten Kultur und spielen in den lokalen Traditionen eine wichtige Rolle. Als Refugium für mystische Wesen oder Verkörperung von Geistern sind sie eng mit der animistischen Auffassung von Natur verbunden.

Die Araukarie wächst schon seit Millionen Jahren an den Ausläufern der chilenischen Anden. Die Dokumentation führt in den Nationalpark Villarrica nahe der kleinen Ortschaft Curarrehue. Ihren Spitznamen „Monkey Puzzle Tree“ verdankt die Araukarie dem Kommentar eines Engländers um 1800, der meinte, diesen Baum mit seinen dolchartigen Blättern zu erklimmen, sei selbst für einen Affen eine kaum lösbare Aufgabe. Die Früchte des Baums, die Piñones, sind essbar. Die einheimischen Indiovölker, insbesondere der Mapuche-Stamm der Pehuenche, deren Bezeichnung sich vom Namen des Baumes herleitet, haben durch Ernte und Lagerung dieser Früchte als ihrem praktisch alleinigen Nahrungsmittel die rauen Winter in den Bergen überlebt.
Im Senegal, südlich von Dakar, in einem kleinen Dorf namens Nianing, hat der Affenbrotbaum die Bewohner und ihre Kultur geprägt. Früher dienten die heiligen Bäume mit ihren kegelförmigen Stämmen dazu, die Griots, die traditionellen Geschichtenerzähler, in ihnen zu bestatten. Heute finden zahlreiche Tiere in dem kleinen Ökosystem des ausladenden Baumes Unterschlupf; die Dorfbewohner finden unter den schattigen Baobabs einen Ort der Geselligkeit. Die besondere Aura, die von den bis zu 600 Jahre alten Bäumen auszugehen scheint, hat sie bis heute vor der Rodung bewahrt.
Die Chilenische Araukarie und der Afrikanische Affenbrotbaum spielen in den lokalen Traditionen seit Jahrtausenden eine wichtige Rolle: Als Refugium für mystische Wesen oder Verkörperung von Geistern sind sie eng mit der animistischen Auffassung der Natur und dem Ahnenkult der indigenen Völker verbunden.

Emanuele Coccia:

Bereits Platon verglich unseren Kopf mit einer „Wurzel“: Der Mensch, so schreibt er, sei „ein Gewächs, das nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt“, die Wurzeln nach oben, eine Art umgekehrte Pflanze. Die kanonisch gewordene Version aber lieferte Aristoteles in seiner Abhandlung De anima: „Oben und Unten sind ja bei allen Wesen und beim Weltall nicht dasselbe, sondern was der Kopf der Lebewesen, das sind die Wurzeln der Pflanzen, wenn man doch die Organe als verschiedene oder gleiche nach ihren Leistungen bezeichnen muß.“

Quelle Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt (Hanser 2016 Seite 102)

Die Welt als Eintauchen zu betrachten, wirkt wie ein surreales kosmologisches Modell, und doch machen wie diese Erfahrungen häufiger, als man meinen möchte. So erfahren wir die Welt des Fischs zum Beispiel jedes Mal, wenn wir Musik hören. Wenn wir das Universum, das uns umgibt, nicht ausgehend von dem Stück Wirklichkeit konstruieren, zu dem der Sehsinn uns Zugang gibt, sondern die Struktur der Welt von unserer Erfahrung ableiten, dann müssen wir die Welt als etwas beschreiben, das nicht aus Objekten besteht, sondern aus Strömungen, die uns durchdringen, aus Wellen unterschiedlicher Intensität und in ständiger Bewegung.

Stellen Sie sich vor. Sie sind aus derselben Substanz gemacht wie die Welt, die Sie umgibt. Sie sind von derselben Natur wie die Musik, eine Folge von Luftschwingungen, so wie eine Qualle nur eine Verdichtung des Wassers ist. Damit hätten Sie ein sehr präzises Bild von dem, was Eintauchen wirklich ist.

Quelle Emanuele Coccia a.a.O. Seite 49f

Bleibt nur noch, den Film von der qualligen Musik zu abstrahieren, die ihn unterläuft, und – den Sehsinn sowie einen vernünftigen Text samt menschlichem Gehirn musikalisch zu nobilitieren.

https://www.arte.tv/de/videos/065298-005-F/ein-traum-von-baum/  HIER

https://www.arte.tv/de/videos/065298-004-F/ein-traum-von-baum/ HIER

https://www.arte.tv/de/videos/065298-003-F/ein-traum-von-baum/ HIER

https://www.arte.tv/de/videos/065298-002-F/ein-traum-von-baum/ HIER

Von all diesen Filmen hatte ich vor 10 Jahren noch nicht den geringsten Schimmer. Andererseits: Neigte ich nicht immer schon dazu, mich selbstbewusst dem mächtigsten verfügbaren Baum zu assimilieren, wie vor genau 10 Jahren auf Teneriffa? Nein, es war nur dem Übermut geschuldet, eine urlaubsbedingte Pose. Heute fühle ich mich eher wie das Röhricht oder der Strandhafer. (Aber auch das ist nicht wahr!)

Der Tiefpunkt im eigenen Garten Dezember 2017

(Fotos: E.Reichow)

Mozart par excellence

Kammermusik für zwei (nicht allzu) ungleiche Partner

Es gibt keine schönere Verwandtschaft als die zwischen Geige und Bratsche. Das Duo Geige/Cello ist grob antagonistisch. Ich provoziere: Das von Geigern vielbeneidete Cello hat doch auch etwas Ungeschlachtes und Auftrumpfendes, das die feinen Ideen der Violine proletenhaft untergräbt. Und bei einer freundlichen Übernahme verwandelt es die edelsten Melodien in Schmalz. Im Pizzicato kennt es kein Pardon, würde aber von einer armseligen Gitarre im Handumdrehen schachmatt gesetzt. Die leicht näselnde Bratsche aber demonstriert das vornehme Understatement in der Tiefe, was für einen herrlich-lockeren Klang haben Doppelgriff-Terzen, die in gleicher Lage auf dem Cello nur glänzen wollen. Die Quinte, die Oktave, dicht unter dem Cantabile der Violine, was für ein Eigenwert, was für Verschmelzungsgrad! Und das gemeinsame Spiel in Oktaven, wer könnte mit diesem Klang konkurrieren?

Bis 1:23 Einleitung, ab 3:00 Wiederholung Exposition, 4:37 Doppelstrich, 5:37 Reprise, bei 7:25 keine Wiederholung, direkt in die Coda (8:00 Ende)

Mit der zweiten Wiederholung wäre der Satz 10:48, also exzessiv lang – für ein Duo.

Andere Kopfsätze zum Vergleich (öffnen sich im externen Fenster):

Mozart 1784 Sonate für Klavier und Violine in B-Dur KV 454, 1. Satz, Largo Allegro Hier

Bis 1:22 Einleitung; Exposition 2:51 Doppelstrich, 3:34 Reprise, 5:34 Ende.

Mozart 1786 Trio für Klavier, Violine und Cello B-dur KV 502, 1.Satz, Allegro  Hier

Ab 2:23 Wiederholung Exposition, 4:44 Doppelstrich, 5:48 Reprise, 8:06 Ende

Diese Bezeichnung der Form-Zäsuren dient der leichteren Orientierung mit dem Ohr, unabhängig von der Notation. Jeder musikalische Mensch kann sagen, was innerhalb der durch Zeitangaben markierten Flächen passiert. Durch den Sprung ins externe Fenster und Blick auf die betr. Zeitangabe kann man sich vergewissern, ob die eigene Beobachtung der Realität entspricht. (Man spotte nicht über die Simplizität dieses Mitdenkens; sie ist die Voraussetzung, um auch kompliziertere Formverläufe zu erfassen. Für Musiker selbstverständlich, aber für Nichtmusiker durchaus nicht ganz einfach; sie werden von der Fülle der Töne leicht erschlagen…) Ich denke auch an Angehörige einer anderen Kultur, die bei uns neugierig werden, weshalb wir Namen wie Mozart oder Beethoven so hoch halten – und sie – sie hören da vielleicht nichts Nennenswertes. Angenommen: sie fragen, was gibt es denn da groß zu erleben??? Moment, sagen wir, man sollte bestimmte Themen und Abläufe erkennen. Nachher auch bestimmte (Schlüssel-)Worte. Wie oben z.B. „Exposition“ oder „Reprise“. In der Exposition stellt der Komponist sein „Material“ vor, Themen und Läufe, bis zum „Doppelstrich“, von dem aus man zum Anfang zurückspringen kann oder soll, so dass man etwa die Exposition wiederholt (was nicht jeder tut). Nach dem Doppelstrich kommt dann „etwas anderes“ (vielleicht aber aus demselben Material), und ab der „Reprise“ bewegt man sich wieder im vertrauten Gelände, das Material der Exposition kehrt wieder und erscheint einem trotzdem irgendwie neu… 

Ich habe übrigens damit begonnen, mir all dies genauer anzuschauen, weil mich das Thema des Duos (ab 1:23) an irgendein anderes Mozart-Werk erinnerte, ebenfalls in B-dur, – war es eine Violinsonate, war es ein Trio? Es war das Klaviertrio KV 402, aber die Ähnlichkeit ist nicht beweisbar, eher kann man von hier auf das Klarinettenkonzert kommen. Aber nicht nur die Tonart ist ganz anders, auch das Spiel der Motivik. Und schon ist man in sehr angenehmen Überlegungen, was eigentlich ein Thema zu einem Thema macht. Es bedeutet aber noch lange nicht, dass Sie es auch schön finden. Da müssten Sie es 50 mal gehört haben, auch noch vieles Ähnliche, und es unterscheiden lernen, – und vor allem: es mitsingen können, mitempfinden können. Das kommt nicht von selbst, aber es kommt!

Allerdings gibt es noch etwas, das gilt nur für das Duo, und deshalb habe ich mit einer Eloge auf die beiden Instrumente angefangen.

Hier wird nur quasi nebenbei der Antagonismus zwischen Ober- und Unterstimme ausgespielt; wenige Stellen, an denen die Viola eine Art Cello-Bass artikuliert (z.B. 1:38 bis 1:50). Ansonsten dieses reizende Ineinander und Abwechseln der Figuren, auch der etüdenhaften, wie sie zur Idiomatik der leichtfüßigeren Instrumente gehören (Beispiel: 5:10 bis 5:37).

*   *   *   *   *

Alles ändert sich mit dem Mittelsatz: man glaubt sich im sicheren Hafen, cantabile, Liedform, bitte einzeichnen, Vordersatz, Nachsatz, Variante u.ä., – ich vermute, manch einer gerät hier ins Schleudern. Man hat zudem den Eindruck, dass es nicht einer der stärksten Cantabile-Sätze Mozarts ist. Was tun? – Ihn ganz, ganz ernst nehmen. Ich schreibe ihn ab (so dass man ihn auch leicht am Klavier spielen kann) und suche ihn dabei so übersichtlich zu gliedern, dass mir klar wird, wie er zu interpretieren ist.

Hier haben wir den ersten Teil, die eine Hälfte, Takt 1 bis 18, vor der Wiederkehr des Anfangs auf der nächsten Seite. Wenn Sie Klavierspielen können, tun sie es; nach dem letzten Takt können Sie unmittelbar aufs neue bei Takt 1 ansetzen, – und stellen Sie sich vor, der Satz sei nicht original, sie müssten eine Variante entwerfen, die Ihnen „natürlicher“ erscheint, versuchen Sie es doch… Ich werde Sie nicht allzu lange warten lassen. Aber zunächst muss sich eine Unzufriedenheit einstellen, die zu beheben wäre… Gelingt es Ihnen?

Haben Sie nicht das Gefühl, ab Takt 7 ins Schwimmen zu geraten? Wie kann man das ändern? Erst ab Takt 11 ist wieder alles im Lot…

Vielleicht hören Sie dazu die obige Aufnahme, der Satz beginnt dort bei 8:00.

Hier folgt mein Verbesserungsvorschlag:

Natürlich ist das nicht ernst gemeint; aber begründen Sie bitte, warum denn um Gottes willen immer nur das besser sein soll, was Mozart gemacht hat! Ich habe mir größte Mühe gegeben und fürchte geradezu, wenn ich ich nicht wüsste, wer was wirklich komponiert hat, ich würde eine Fehlentscheidung treffen. Der Rotstift muss her. Um es also noch einmal etwas deutlicher zu fassen (ich habe Zeit und Platz):

Habe ich nicht etwas mit dem Holzhammer doziert? Der Halbschluss auf der Melodieterz (Takt 4), der Halbschluss der neuen Dominante (Takt 8), die Kadenz zur Dominante (Takt 11 zu 12). Wir haben eine erfreuliche 4-taktige Klarheit. – Ist sie nicht allzu erfreulich? Vielleicht wollte Mozart genau dieses Gleichmaß verhüllen, und etwas anderes war ihm wichtiger, die Emphase vielleicht, die sich schon im Sextsprung des ersten Taktes ausdrückt, ähnlich wie später bei Schubert im Lied Frühlingstraum („Ich träumte von bunten Blumen“ hier).

  

Schauen Sie hier in Takt 8 auf den rot eingekreisten Gang der Viola: es ist genau die Andeutung des Halbschlusses b – a (mit vorgeschobenem c); „mein“ g-moll folgt natürlich nicht, weil es vorher schon da war (als Ausweichung in Takt 6). Wenn man nun aber auf die melodische Entwicklung des emphatischen (Sext-) Sprungs achtet, so begegnen wir ihm/ihr allenthalben: in Takt 5, Takt 8, Takt 9, Takt 10, beim Übergang von Takt 13 auf 14 haben wir ihn abwärts und als Reaktion sogleich den Aufwärtssprung über die Dezime vom as zum hohen c. Schließlich die Tendenz, die Sprünge vollkommen durch schnelle Notenwerte auszufüllen (Takt 23) und die Reaktion im Extremsprung der Geige Takt 24. (Es wäre wohl übertrieben, dies nur als feine Schikane gegenüber dem geigenden Erzbischof zu deuten.) Die Sprünge in „Reinkultur“ (als Oktave) ab Takt 26 – mit dem Mordent vorher als zartem Hinweis, die abwärtsweisenden Oktaven ab Takt 33. Was für ein wundersamer Ausgleich zwischen Höhe und Tiefe in den letzten beiden Zeilen…

Die zunehmende Bedeutung der Subdominante As-dur in der Reprise bewirkt eine stark melancholische Einfärbung der Frühlingsstimmung. Oder geht das schon zu weit?

Aber deshalb folgt vielleicht eine Art Schlager als Thema des abschließenden Variationensatzes? Ein virtuoses Spiel mit der Trivialität. Jedoch ist ganz wichtig: auch diesen Satz nicht unterschätzen!

*   *   *

Übrigens muss man unbedingt die im Internet abrufbare Mozart-Ausgabe (hier) zu Rate ziehen (bzw. die gedruckte Urtext-Ausgabe!), im youtube-Beispiel bedient sich weder das Grumiaux-Duo einer akzeptablen Version (die gab es nicht), noch stimmt der dort wiedergegebene Notentext mit dem Spiel überein; er kann auch sonst nur als Erinnerungsstütze gelten. Hier die von uns verwendete Version:

  

Meine Meinung zu Takt 20: genau so spielen, wie es dasteht, es ist so gemeint (sagen wir: mit großer Wahrscheinlichkeit).

Beim ausgedehnten Schlussteil denke ich an die Abschlüsse der langsamen Sätze in den Violinkonzerten KV 216 und 218, die Andrew Manze 2006 so wunderbar eingespielt und (im CD-Booklet der Harmonia-Mundi-France-CD) unserer Aufmerksamkeit empfohlen hat:

Zu klären wäre noch: was eigentlich einen Variationensatz ausmacht. Man darf ihn nicht zu hoch ansiedeln, aber vor allem nicht – zu niedrig. Es ist wahr, dass er in jedem Punkt leicht überschaubar bleibt, das ist sein Prinzip

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag

Zur Entstehungsgeschichte der Duos für Violine und Viola findet sich alles Wesentliche im Vorwort des betreffenden Kammermusikbandes NMA VIII/21 (Dietrich Berke Kassel 1974):

In Briefen vom 6. und 24. Dezember bittet Mozart seinen Vater, ihm „die 2 Violin Duetten“ nach Wien zu schicken.

Wie wir Fremde sehen

Oder: Warum wir sie eher negativ beurteilen

Ein interessantes Faktum, das jetzt von der Forschung plausibel erklärt wurde. Es ist viel simpler, als man vielleicht gedacht hat. So simpel, dass man sich schämt, vielleicht selbst nach solchem Muster zu funktionieren. In meiner Volksschulzeit in Bielefeld wurden wir aus oft sehr einleuchtenden Gründen (Religionsunterricht, gemeinsamer oder getrennter Kirchgang) in zwei Gruppen eingeteilt: die evangelische und die katholische. Wenn aber auf dem Schulhof alle durcheinanderliefen, spielte diese Unterscheidung keine Rolle mehr, wichtiger war die Klassenzugehörigkeit, der Größenunterschied, die Unterscheidung, ob Junge oder Mädchen. Und doch glaubte ich eines Tages, eine Entdeckung zu machen: ich vermochte katholische Schülerinnen oder Schüler an ihrem Aussehen erkennen, dessen war ich mir ziemlich sicher. Sie sahen irgendwie dunkler aus! Heute vermute ich: es lag am Klang des Vokales o („kathool“). Sie schienen mir nicht nur äußerlich dunkler (Haare, Augen), – man konnte ihnen auch nicht trauen. Nach einer Reihe von offensichtlichen Fehlurteilen (blond, blauäugig, gut, „wie See so klar“) begann ich allerdings, die „klanglich-optische Täuschung“ zu durchschauen. Sie war nicht aus Erfahrung und Beobachtung gewonnen, sondern von meinem Gehirn produziert und nach außen projiziert. Eine typische vorgefasste Meinung, ein Vorurteil.

Es ist unmöglich vorurteilsfrei aufzuwachsen, wir übernehmen Vorurteile unserer Umgebung, und wir produzieren die Vorurteile laufend selbst – gewissermaßen als Hypothesen; aber es ist unsere wichtigste Aufgabe, sie zu durchschauen, zu verifizieren oder zu falsifizieren. Lernen zu differenzieren. Eine vielschichtige Erfahrung – diese Differenz. Zum Beispiel zu begründen, ob es falsch ist, das folgende Lied zu singen. Es nur inhaltlich abzulehnen. Klaus Groth mehr als Brahms? Als biographischen Zufall ohne besonderen Fingerzeig. Dieses youtube-Beispiel etwas altmodisch zu finden (1982). Oder bedingungslos zu lieben.

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Im folgenden Zitat müsste man vielleicht hinzudenken und betonen, dass die sogenannten „negativen“ Eigenschaften der Fremden nur so genannt werden, weil sie in unserer Perspektive so erscheinen. Es sind zunächst einmal nur distinkte Eigenschaften, die wir negativ bewerten.

Die Untersuchung (Zitat der Presseerklärung)

Andere Menschengruppen werden als negativ wahrgenommen, weil negative Eigenschaften vielfältiger und leichter zu unterscheiden sind / Kölner Sozialpsychologen präsentieren Wahrnehmungsmodell, das die Abwertung von Fremdgruppen erklärt

Wir sind gut, die anderen sind böse – das ist ja klar. Wenn man zwei Gruppen zusammenbringt, dann findet sich jede Gruppe selber besser als die andere: Fußballvereine, Mädchen und Jungen, Schulklassen. Es können in der Realität aber nicht beide besser sein. Wo liegt der Fehler? Neu ist die Erklärung von Kölner Sozialpsychologen und -psychologinnen des „Social Cognition Center Cologne“ (SOCCO): Unterscheidungen von Gruppen lassen sich am einfachsten durch negative Merkmale treffen, da negative Eigenschaften individueller sind als positive. Negative Einstellungen gegenüber Anderen entstehen also als Folge von „unschuldigen“ Wahrnehmungsprozessen. In dem Artikel „A Cognitive-Ecological Model of Intergroup Bias“ im Journal „Psychological Science“ präsentieren Dr. Hans Alves, Dr. Alex Koch und Professor Dr. Christian Unkelbach eine neue Erklärung dafür, dass Menschen Minderheiten und Fremdgruppen gegenüber oft negativ eingestellt sind.

Während die meisten bisherigen Modelle von motivationalen Ursachen ausgehen, also z.B. dem Streben nach einem eigenen Vorteil, sehen die Kölner Forscher und Forscherinnen die Gründe für eine negative Einschätzung anderer Gruppen in einem besonderen Effekt der Wahrnehmung: Gruppen definieren sich selber über positive Eigenschaften, andere aber über negative. Der Grund: Obwohl alle Gruppen ähnliche positive Eigenschaften haben, verfügen sie über negative Eigenschaften, die sehr unterschiedlich sind. So kann man alle Menschen als nett, umgänglich, zuverlässig, höflich, hilfsbereit oder fleißig beschreiben. Doch bei den schlechten Eigenschaften, gibt es ein größeres Spektrum. Die schlechten Eigenschaften sind einzigartig und werden deswegen von den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen „distinkt“ genannt, sie machen die Unterschiede. Dies kann man statistisch nachweisen und folgt aus der größeren Diversität negativer Eigenschaften und aus der größeren Häufigkeit positiver Eigenschaften.

Die in dem Modell beschriebene Entstehung negativer Einstellungen gegenüber neuartigen Gruppen wurde von den Kölner Sozialpsychologen in drei Laborexperimenten nachgewiesen, in denen Versuchspersonen verschieden auf einem virtuellen Planeten „Alien-Gruppen“ begegneten und sich einen Eindruck der Gruppen bilden sollten. Waren die distinkten Eigenschaften der Gruppen negativ, bewerteten die Versuchspersonen neue Alien-Gruppen als negativer im Vergleich zu schon bekannten Alien-Gruppen.

„Wenn wir also z.B. Migranten begegnen, schauen wir immer auf die Eigenschaften welche wir von den uns bekannten Gruppen noch nicht kennen. Wir fragen uns: was ist anders an diesen Leuten?“, erklärt Alves. „Das Gleiche tun wir auch, wenn wir z.B. in eine andere Kultur reisen. Zum Beispiel beobachten wir, dass in den USA Menschen dicker sind und mehr Waffen tragen – diese Eigenschaften assoziieren wir dann mit „Amerikanern“ und sie bilden die Grundlage unserer Beurteilung.“

„Das Problem ist, dass wir dadurch die Fremdgruppen ungewollt unfair bewerten“, so Alves. Würde man seine eigenen Gruppen auch nur aufgrund ihrer distinkten und damit negativeren Eigenschaften bewerten, hätten wir auch ein negativeres Bild von ihnen – was jeder auch selber erleben kann: „Das geschieht zum Beispiel, wenn wir von einer langen Reise nach Hause zurückkehren und auf einmal unsere eigene Kultur durch eine andere Brille sehen und erkennen was an ihr distinkt ist“, erklärt der Wissenschaftler.

Quelle Dr. Hans Alves (Gabriele Meseg-Rutzen Presse und Kommunikation) Universität zu Köln idw-online Informationsdienst Wissenschaft

Heute, 2. August 2018, die neue ZEIT Seite 36

Ijoma Mangold über Rassismus / Zitat:

Offensichtlich gibt es im Leben permanent Irritation, die durch Anderssein ausgelöst wird. Das Nicht-Ähnliche muss sich seinen Gruppenzugang stets unter erschwerten Bedingungen erkämpfen. Man muss aber nicht zu einer ethnisch-kulturellen Minderheit gehören, um diese Erfahrung zu machen. Vieles spricht dafür, dass die Gesellschaft sozial unerbittlicher sortiert als ethnisch.

(…) Vieles (…) hat eher mit Xenophobie als mit Rassismus zu tun. Xenophobie indes ist eine anthropologische Konstante. Es hat sie immer gegeben, es wird sie immer geben. Der Mensch muss sich an Neues, an alles, was anders ist als er selbst, immer erst gewöhnen, er muss sich das Fremde vertraut machen, um sich nicht bedroht zu fühlen. Das ist keine schöne Charaktereigenschaft, aber Futterneid ist auch hässlich und doch aus der Evolution nicht wegzudenken.

Wir empfehlen also einen restriktiven Gebrauch des Begriffs „Rassismus“. Man sollte ihn sich für krassen Fälle aufbewahren. Erst jüngst erklärte Alice Weidel ganze Menschengruppen zu „alimentierten Messermännern und sonstigen Taugenichtsen“.

Quelle DIE ZEIT 2. August 2018 Seite 36 Feuilleton Was ist Rassismus? Und was ist keiner? Unter dem Hashtag #MeTwo wird endlich über Alltagsrassismus diskutiert. Dabei gerät aber manches durcheinander. Von Ijoma Mangold.

Es ist unerhört wichtig, sich gegen die Argumente der AfD (und ihrer Verwandten im Geiste) zu wappnen, auch wenn sie ganz  offensichtlich schwachköpfig scheinen. Sie können auch in der Maske der Wissenschaft oder zumindest der Statistik auftreten und intelligente Gegner auf dem falschen Fuß erwischen. Ich empfehle das Büchlein „Geschichte des Rassismus“ von Christian Geulen (C.H.Beck Wissen München 2007), es kostet keine 10,-€.

In meinem Exemplar fand ich die sehr lesenswerte Besprechung eines großartigen Buches von Per Leo; ich will sie wenigstens im Ausriss wiedergeben. Autor: Thomas Steinfeld. (Man muss sich den Begriff „Unterscheidungslehren“ zueigen machen!)

Quelle Süddeutsche Zeitung 2. Dezember 2013 Detektivische Utopien Der Berliner Historiker und Philosoph Per Leo fragt nach geisteswissenschaftlichen Wurzeln von Rassismus und Judenverfolgung – eine große Studie, die Widerspruch herausfordert. Von Thomas Steinfeld

Zu ergänzen wäre diese unvollständige Kopie durch ein Zitat, das nun doch den im Titel angekündigten Widerspruch begründet. (folgt)

Warum aber gibt es diese Unterscheidungslehren, und warum radikalisieren sie sich in einer bestimmten Zeit und binnen sehr kurzer Frist (…)? Schwierig diese Fragen zu beantworten, ohne zugleich davon zu reden, worauf all diese Lehre[n] hinauslaufen: auf die Konstruktion eines idealen Selbst, auf Reinheit und Identität. Und selbstverständlich gibt es den Punkt, an dem es gewaltsam ernst wird mit diesen Lehren, dann nämlich, wenn der politische Souverän sich ihrer annimmt, als Sachwalter des Volkes, des angeblich identischen Gemeinsamen wider den nicht einmal mit sich selbst identischen Einzelnen.

Es ist seltsam, dass Per Leo diesem Schluss auf das Politische ausweicht: „Der Gedanke, dass Individualität und Persönlichkeit im Nationalsozialismus überhaupt eine Rolle gespielt haben könnten, mutet uns fremd an“, erklärt er. Uns aber mutet fremd an, dass ihn das fremd anmutet: Gewiss, der Faschismus kennt, weil er keine Differenz zwischen seinen Bürgern und dem Staat mehr gelten lassen will, Individualität vor allem als Dienst an der Gemeinschaft. Eine dienende Individualität ist aber etwas anderes als gar keine Individualität, und wenn der faschistische Staat seine Bürger einem radikalen Prinzip der Auslese unterwirft, dann ist ihm an einem gewissen Typus von Individualität sehr gelegen.Und deswegen stimmt es nicht, wenn Per Leo schreibt, der „charakterologische Denkstil“ habe eine „weltanschauliche Brücke“ zwischen den Nationalsozialisten und „der deutschen Bildungsschicht“ geschlagen. Eher ist es schon so, dass die Nationalsozialisten das „charakterologische Denken“ der deutschen „Bildungsschicht“ auf eine brutale Spitze trieben. (…). (Thomas Steinfeld)