Archiv für den Monat: Februar 2018

ORCHESTER

Kollektiv der Individuen

Da ist also etwas möglich, was erst durch die Leichtigkeit der modernen Technik wieder zum Vorschein kommt (präsent wie einst im Saal des Palais Lobkowitz, wo die gewaltige Eroica uraufgeführt wurde, zum Greifen nah für jeden in diesem Saal, der nur 15 m lang und 7 m breit war, 90 Sitzplätze;  oder Mozarts große Klavierkonzerte im Saal des Trattner-Gasthofes oder des Restaurants in der Mehlgrube). Es kann heute nicht das Ziel sein, für die größtmögliche Menschenmenge zu spielen, allein das ungeheure Format der Veranstaltung wäre furchteinflößend, nicht horizonterweiternd. Ihr stürzt nieder, Millionen, – nein, niemand will das, klassische Musik als Massenspektakel, „Brimborium“ nannte Theodor W. Adorno Musik im Fernsehen. Das Problem liegt woanders: man könnte zwar sagen, auch per Internet ist es ein fürs Medium präpariertes KONZERT wie jedes andere, – andererseits wird es hier nicht in Konkurrenz mit den üblichen Unterhaltungsprogrammen dargeboten, sondern über das ganz gewöhnliche private Arbeitsgerät und dort als das außergewöhnliche, exclusive Live-Ereignis präsentiert, das es ist. An einem konkreten Ort und vor einem konkreten Publikum (nicht als Studio-Fake), und es kann darüberhinaus ein Riesenpublikum, das unsichtbar bleibt, erreichen und zugleich von jedem singulären Rezipienten störungsfrei erlebt werden. Ein mustergültiges, großes Konzert in Echtzeit, am Schalthebel des Internets, mit allen Möglichkeiten, die es bietet und über die zu verfügen man gewohnt ist. Programmheft als pdf  und zur Not sogar Google, Wikipedia oder sogar Petrucci-IMSLP-Partituren.

Ein entscheidender Punkt ist, dass nicht nur das Orchester als Ganzes , sondern die einzelnen Mitglieder als Individuen in Erscheinung treten. So wie im Klavierkonzert notwendigerweise ein Solist der Versammlung aller Mitwirkenden gegenübertritt, mit mit Gruppen korrespondiert, mit Einzelnen ins Gespräch kommt, diskutiert, eine Auseinandersetzung wagt. Ganz stark wird diese Komponente der Wechselwirkungen zwischen Individuen, Paaren, kleinen Gruppen und dem großen Ensemble in Bartóks „Konzert für Orchester“. Eine Bemerkung nebenbei: dies bedeutet nicht, dass das Konzerterlebnis im Saal sich damit erübrigt, es hat seine unverwechselbare Realität. Aber die Realität ist u.U. mit einer beschwerlichen Reise verbunden.

Ich möchte eine Reihe von Screenshots folgen lassen, die – ohne besonderen fotografischen Anspruch – während der Livesendung entstanden sind, einfach, um den Moment zum Verweilen zu bringen, – genau das, was Goethes Faust zu vermeiden trachtete, also genau das, was die Musik (und die Regie der Aufzeichnung) uns in ihrem Verlauf immer wieder zeigt oder markiert, zugleich entzieht oder vorenthält und gerade dadurch bewusst werden lässt. Es ist eben nicht nur Musik, nicht nur das, was die Ohren konsumieren, sondern es sind lebende Menschen, die diesen musikalischen Kosmos in einer kollektiven Anstrengung vor unsern Augen und Ohren entstehen lassen. Greifbar nahe und BEGREIFBAR, wenn denn die Sinne und der Verstand entsprechend sensibilisiert sind. Nicht zu vergessen die liebenswürdige Moderation durch Holger Noltze und Patrick Hahn. (Zu wünschen wären vielleicht noch separat produzierte, über ein bloßes Gespräch hinausgehende Beiträge – intensive Probenausschnitte? –  in der Konzertpause.)

Konzertpause Screenshot 2018-02-06 21.18.39

Ich setze an den Anfang die kleine Rede, die der Dirigent François-Xavier Roth am Ende des ganzen Konzertes gehalten hat:

2:20:10  Meine Damen und Herren, ich brauche nicht zu beschreiben, wie besonders das Konzert heute Abend ist, also zuerst sind wir auf Internet, und viele Leute, die kucken aus Japan, aus Schweden, aus alles Europa, aus Amerika auch, freuen wir uns sehr, dass wir können alle diese Leute willkommen hier in KÖLN, HIER (Beifall). Und heute Abend spielen wir auch, also die ganze Woche spielen wir unsere Orchesterakademien, das ist etwas ganz … , also ein bisschen neu, und wir sind so auch stolz und froh, dass wir können alle diese junge Generation unterstützen, also diese Akademie, das ist natürlich auch durch unseren Freundeskreis, so einen lebendigen Freundeskreis, wenn Sie wollen unterstützen unsere Akademie, das wäre eine Super-Idee, Sie können unseren Freundeskreis enjoyen, … und auch heute Abend ist für uns sehr bewegend, weil unser Bernhard [Oll], der Solobratscher unseres Orchesters, spielt sein letztes Konzert hier  in Köln. Morgen spielen wir, übermorgen, überübermorgen spielen wir in Hispania, also es ist nicht sein letztes Konzert, aber es ist sein letztes Konzert hier,  und ich möchte im Namen von meinem Orchester, wie froh und wie bewegt wir sind heute Abend, wir vermissen ihn schon im Gürzenich-Orchester, Du hast soviel gemacht! (langer Beifall für Bernhard Oll + Ansage der Zugabe als „Übergangsstück“: Slawischer Tanz von Dvorak)

Orch & Indiv 48 Screenshot 2018-02-06 22.07.24 . . . . .Orch & Indiv 48 Screenshot 2018-02-06 22.05.32 . . . . . Orch & Indiv 50 Namen Screenshot 2018-02-06 22.15.00 . . . . .Orch & Indiv 17 Screenshot 2018-02-06 21.34.53 . . . . .Orch & Indiv 4 Screenshot 2018-02-06 20.26.49 . . . . .Orch & Indiv 5 Screenshot 2018-02-06 20.29.58 . . . . .Orch & Indiv 10 Screenshot 2018-02-06 21.25.03 . . . . .Orch & Indiv 11 Screenshot 2018-02-06 21.25.35 . . . . .Orch & Indiv 12 Screenshot 2018-02-06 21.31.27 . . . . .Orch & Indiv 14 Screenshot 2018-02-06 21.32.13 . . . . .Orch & Indiv 15 Screenshot 2018-02-06 21.32.25 . . . . .Orch & Indiv 13 Screenshot 2018-02-06 21.31.58 . . . . .Orch & Indiv 17 Screenshot 2018-02-06 21.34.09 . . . . .Orch & Indiv 18 Screenshot 2018-02-06 21.35.07 . . . . .Orch & Indiv 19 Screenshot 2018-02-06 21.35.36 . . . . . Orch & Indiv 19 Screenshot 2018-02-06 21.35.41 . . . . .Orch & Indiv 20 Screenshot 2018-02-06 21.36.34 . . . . .Orch & Indiv 21 Screenshot 2018-02-06 21.36.52 . . . . .Orch & Indiv 21 Screenshot 2018-02-06 21.37.21 . . . . . Orch & Indiv 24 Screenshot 2018-02-06 21.37.46 . . . . .Orch & Indiv 25 Screenshot 2018-02-06 21.38.30 . . . . .Orch & Indiv 26 Screenshot 2018-02-06 21.38.40 . . . . .Orch & Indiv 26 Screenshot 2018-02-06 21.39.10 . . . . .Orch & Indiv 28 Screenshot 2018-02-06 21.39.43 . . . . .Orch & Indiv 28 Screenshot 2018-02-06 21.42.04 . . . . .Orch & Indiv 31 Screenshot 2018-02-06 21.43.07 . . . . .Orch & Indiv 33 Screenshot 2018-02-06 21.44.20 . . . . .Orch & Indiv 34 Screenshot 2018-02-06 21.44.33 . . . . .Orch & Indiv 34 Screenshot 2018-02-06 21.44.37 . . . . .Orch & Indiv 37 Screenshot 2018-02-06 21.46.37 . . . . .Orch & Indiv 37 Screenshot 2018-02-06 21.48.10 . . . . .Orch & Indiv 39 Screenshot 2018-02-06 21.49.20 . . . . .Orch & Indiv 40 Screenshot 2018-02-06 21.49.46 . . . . .Orch & Indiv 41 Screenshot 2018-02-06 21.50.04 . . . . .Orch & Indiv 42 Screenshot 2018-02-06 21.50.10 . . . . .Orch & Indiv 43 Screenshot 2018-02-06 21.54.33 . . . . .Orch & Indiv 44 Screenshot 2018-02-06 21.54.51 . . . . .Orch & Indiv 46 Screenshot 2018-02-06 21.58.06 . . . . .Orch & Indiv 46 Screenshot 2018-02-06 21.58.34 . . . . .Orch & Indiv 47 Screenshot 2018-02-06 22.00.02 . . . . .Orch & Indiv 47 Screenshot 2018-02-06 22.01.18 . . . . .Orch & Indiv 47 Screenshot 2018-02-06 22.01.25 . . . . .

Was eigentlich an dieser Stelle folgen sollte: ein Blick in verschiedene Bücher, zum Abstandgewinnen etwa in Adornos Musiksoziologie, dann in Paul Bekkers anregendes Buch „Das Orchester“ (1936/64), in der Neuausgabe 1989 mit dem Nachwort von Clemens Kühn,  und vor allem in das neue MGG-Lexikon, Sachteil, Stichwort „Musiksoziologie“ von Christian Kaden, wo das Phänomen Orchester in einen weltweiten – auch ethnographischen – Zusammenhang gestellt wird. Wonach ich noch suche, ist eine Darstellung des Phänomens „Solisten-Konzert“ – als immer neuen Entwurf einer gelungenen Auseinandersetzung bzw. Kooperation zwischen Individuum und Gesellschaft (angefangen mit Vivaldis „Jahreszeiten“, am plakativsten und ergreifendsten bei Beethoven im langsamen Satz des 4. Klavierkonzertes).

Als Anregung: Christian Kaden in MGG (Sachteil Bd.6) Bärenreiter-Verlag 1997

MGG Kaden Aus dem MGG-Artikel Musiksoziologie (Christian Kaden)

Die Gedankenwelt, die sich in der Frühzeit des bürgerlichen Konzertwesens mit dem Orchester verband, mag uns ferngerückt sein und gibt doch mehr zu denken als die heutige Tendenz, die hohe Kunst auf Biegen und Brechen vom Podest zu holen. Oder umgekehrt die scheinbar niedere Kunst zu nobilitieren. Im folgenden Text von 1802 geht es wieder um das Solokonzert. Hat der Solist immer den gleichen Adressaten wie das Orchester?

[Ein Konzert hat] viele Ähnlichkeit mit der Tragödie der Alten [Griechen], wo der Schauspieler seine Empfindungen nicht gegen das Parterre, sondern gegen den Chor äußerte, und dieser hingegen auf das genaueste in die Handlung verflochten, und zugleich berechtigt war, an dem Ausdruck der Empfindung Anteil zu haben. Man vollende sich dieses scizzirte Gemälde und vergleiche damit Mozarts Meisterwerke in diesem Fache der Kunstprodukte, so hat man eine genaue Beschreibung der Eigenschaften eines guten Concerts.

Quelle Heinrich Christoph Koch: Musikalisches Lexikon, welches die theoretische und praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet, alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten und neuen Instrumente beschrieben, enthält. Frankfurt 1802

Den emphatischen Anspruch gemeinsamer produktiver Musikrealisierung formuliert der Frankfurter Orchestermusiker Carl Gollmick 1848 folgendermaßen:

Ein Orchester tritt nie selbständiger auf als in der Symphonie. […] Sie bildet für das Orchesterpersonal einen eigenen Staat, worin jedes Mitglied ein freier Bürger, ‚eine kleiner König rund für sich‘ ist. Sie vereinigt mit ihren tausend unsichtbaren Fäden alle Mitwirkenden zu einem Bunde, wo alles irdische abgestreift, jedes Herz die Religion der Tonkunst inniger als jemals fühlt. […] Man sollte Todfeinde eine Symphonie mitspielen lassen und sie würden von geheimer Sympathie umschlungen Brüder sein müssen. Wenichstens [sic] so lange, als die Symphonie dauert“. (AMZ 50, 1848, S.129; zit. nach R. Schmitt-Thomas 1969 S. 708)

Quelle MGG (neu) Bärenreiter Kassel 1996 Sachteil Bd. 5 Artikel Konzertwesen Sp. 696

* * *

Zu guter Letzt noch ein Hinweis: ich habe in den Schluss eines früheren Blog-Artikels einen herrlichen youtube-Film eingefügt, der vielleicht noch zur heilsamen Irritation darüber beiträgt, was Musik im klassischen Sinn heute tatsächlich „aushalten“ kann, ohne sich selbst zu verraten. HIER.

Noch wichtiger wäre der Blick auf das nächste Internet-Konzert des Gürzenich-Orchesters am 20. Februar, mit dem Viola-Konzert von Bartók, nein, insgesamt wieder mit einem unerhörten, ja, sensationellen Programm, im Mittelpunkt (?) Ligetis „Atmosphères“. Zur Information vorweg die entsprechende Internetseite des Orchesters: Hier.

Nachspiel (Ernüchterung) 11.2.2018

Jemand äußert sich zu diesem Blogeintrag: ich mag keine Musikerbilder, da scrolle ich ganz schnell durch. Dann lieber Karajan. (Das ist ironisch: Karajan hat am liebsten sich selbst im Film gesehen, statt der Musiker lieber ihre Instrumente; es sollte aussehen, als spielten sie von selbst.) Heute bin ich zufällig mit einer scheinbar ganz ähnlichen Situation konfrontiert, nein, nicht konfrontiert: das Fernsehen läuft zufällig (in meinem Rücken), ich höre beiläufig Brahms, drehe mich zuweilen um, alles ist anders als am 6. Februar, obwohl die Bilder sich gleichen. Eine Konserve aus dem Jahre 2007. Gleich wird wieder Olympiade laufen, oder was Karnevalistisches.

Fernsehen Musik 1 Fernsehen Musik 2. Fernsehen Musik 3.Fernsehen Musik 4. Handyfotos Bildschirm JR

Ist das wahr? Es fehlt die Aura. Oder bilde ich mir das ein? Musik im Fernsehen, ist das doch „Brimborium“? (Das Wort ist zu stark, zu positiv.) Oder nur zu Adornos Zeiten, in den 60er Jahren? Eine Situation, die lähmend wirkt. 2007. Lebt es noch? Eine fast historische Aufnahme – oder eben gerade nicht. Der 20. Februar wird es zeigen (eine sorgfältig) vorbereitete Situation. Heute aber geht es um Bach, b-moll-Fuge, wie gestern Abend erlebt: nur die Zwischenspiele. Und um Guinea (als Kontrast).

Gestern

6. Februar 2018

Der Tag war ziemlich gelungen. Morgens Quartett-Probe in Refrath mit Beethovens Streichquartett op.130 (Sätze 1-3). Ein (doch gar nicht so selten wiederkehrendes) Erlebnis, wie anders es ist, die Stimme eines Quartetts geübt zu haben, alternierend mit dem Hörvergleich (CD Auryn-Quartett), auch mit einigen Versuchen, den Zweite-Geigen-Part mit Knopf im Ohr synchron zur Aufnahme zu spielen. Und dann zu vergleichen, wie man es in Wirklichkeit bei der Realisierung erlebt oder erarbeitet, bzw. das Erarbeiten erlebt. Es ist nicht einfach Begeisterung, die sich einstellt, zugleich auch „Befremdung“; das liegt an Beethoven, es liegt an der Komplexität des Werkes, der konsequenten Verteilung auf vier Individuen. Von der CD gehört, verläuft es ja nun mal in einer nicht irritablen Perfektion. Ich denke an das Gespräch zwischen vier vernünftigen Personen, – Goethe hat wohl ein damals geläufiges Diktum abgewandelt -, die Vernünftigkeit der anderen Teilnehmer braucht Toleranz, weil sie in der Musik ja gleichzeitig reden wollen, und man kann ihre Geltung nicht in Zweifel ziehen. Die Bewunderung für den Komponisten wächst mit dem Gelingen.

Ich hatte mir vorgenommen nachzuforschen, was eigentlich Basil Lam mit der Anspielung auf den langsamen Satz der Jupiter-Sinfonie gemeint hat (vielleicht mein kleines Lieblingsthema, weniger ein Thema als eine Abschiedsformel vor dem Doppelstrich, dachte ich, hatte es schon Ende der 80er Jahre unterstrichen. Ohne am Ort gründlich nachzuschauen).

Lam Mozart bei Beethoven

Was Basil Lam meint, ist folgende harmonische Sequenz (übrigens in den Triolen grifftechnisch verteufelt schwer in der zweiten Geige, auch rhythmisch als Geige-Bratschen-Uhrwerk) :

Beethoven 130 3 Beethoven

Mozart Jupiter 3 Mozart

Als ich gegen 14 Uhr nach Hause kam, war die sehnlich erwartete Guinea-Postsendung eingetroffen. Die Chance, an das Erlebnis der 90er Jahre mit dem Ensemble Famoudou Konaté anzuknüpfen, damals dank Johannes Beer und der CD mit seinem Analyse-Booklet. Es muss sich im Blog wiederfinden. Auch die Website-Verbindungen zur Arbeit des Autors Thomas Ott und Famoudou Konaté. Auch die Frage: was macht eigentlich Johannes Beer? Damals bei der Veranstaltung in der Essener Zeche Carl plante er eine Ausbildung für die Waldorfschule. Im Ernst, ich war enttäuscht: Afrika und Anthroposophie, das schien mir dermaßen absurd, – jedenfalls nicht vorstellbar, wenn man je Eurythmie gesehen hat.

Rechnung Guinea

Guinea Ott + CD Institut für Didaktik populärer Musik 1997

Abends Live-Übertragung des Gürzenich-Konzerts ONLINE. Ich wollte in meinem Arbeitszimmer ausharren und nicht im Wohnzimmer das Spiel Leverkusen gegen Bremen sehen. Ohne verhehlen zu wollen, dass ich mir oft den Spaß mache, beim Fussball-Fernsehen an die Team-Arbeit des Orchesters zu denken (wo allerdings die Gegnerschaft der Mannschaften kein Spiegelbild findet). Und: Musik ist natürlich kein Sport, nur der „Ernst“ ist von ferne vergleichbar. Auch das Können der Einzelnen. Nur nicht das Gesamtergebnis und der Ertrag. (Siehe auch hier.) Es geht um etwas völlig anderes.

Orch & Indiv 46 Screenshot 2018-02-06 21.58.06 Screenshot Gürzenich-Orchester

Am späten Abend bleibt noch genügend Zeit für die Verlängerung des DFB-Spiels. Toll. Aber würde ich jetzt den Rest des Spieles, das ich nicht gesehen habe, in der Aufzeichnung nachholen? Nein. Das Konzert jedoch werde ich – wenn es weiterhin abrufbar ist – mindestens noch einmal hören. Wahrscheinlich erst, nachdem ich mich mit einzelnen Aspekten näher beschäftigt habe. Und insbesondere den Boulez, bei dem ich noch nicht aufs „bloße“ Erfassen des Werkes eingestellt war, alles andere kannte ich ja als „Werk“ seit Jahrzehnten. Und das bedeutet seltsamerweise, dass man um so aufmerksamer zuhört. Um nochmal den Sport zu erwähnen: da interessieren anschließend die Tore und die Kabinettstückchen, auch die emotionalen Probleme, ein bisschen natürlich auch die Strategie, aber alles andere ist vergangen und gewissermaßen bedeutungslos – was interessiert mich der DFB-Pokal??? Oder diese lächerlichen Welt-Dopingveranstaltungen? Am Sport interessiert mich eigentlich nur, inwieweit und warum er die Enkel interessiert. In ihrem Alter hat es mich ja auch zeitweise sehr beschäftigt. Und wenn sie jetzt mit mir im Stadion sitzen, ärgert es mich doch, wenn sie insgeheim mit dem Gegner halten, nur weil dessen Heimat näher bei München liegt…

Nachtrag 15.02.2018

Falls ich mal weiteren Stoff suche zu Goethes ewig zitiertem Vergleich „Streichquartett / Gespräch“. Heute (gestern 14.2.) im VAN-Magazin, das Kuss-Quartett:

William Coleman: Und warum man grundsätzlich im Quartett spielt: Irgendwas ist am Quartett offenbar faszinierend. Es ist kein großes Orchester und trotzdem hat man die gleichen Komponisten, die gleichen Gefühle. Es sind nicht vier Solisten, sondern ein Gespräch, ein Kampf unter vier Menschen. Alle müssen eine eigene Meinung haben. Und der Versuch, das zusammenzubringen – irgendwas muss dran sein, das es faszinierend macht.

Text: Merle Krafeld

Big Data

Ein Gespräch über unsere Zukunft (noch in Arbeit, ohne abschließende Korrektur)

Dies ist eine Abschrift der ZDF-Sendung PRECHT vom 5. Februar 2018, eines Gesprächs zwischen Richard David Precht und Udo Di Fabio. Das Copyright der Sendung liegt beim ZDF. Diese Abschrift beruht auf einer privaten Initiative und ist allein zur privaten Verwendung gedacht. Sie soll es erleichtern, den Gedankengängen zu folgen und zugleich die Technik eines solchen Gespräches zu studieren. Es ist keinesfalls eine offizielle schriftliche Fassung des gesprochenen Textes; Irrtümer und Missverständnisse meinerseits sind möglich (Jan Reichow). An Ort und Stelle findet man erhellende Pressetexte, siehe den einige Zeilen weiter gegebenen Link. Originaltitel:

Betreutes Leben – Wie uns Google, Facebook und Co. beherrschen

Man sollte nicht versäumen, auch die Originalsendung heranzuziehen, um gegebenenfalls Einzelheiten zu korrigieren. Sie ist noch abrufbar bis zum 5.2.2023 und zwar unter dem folgenden Link: HIER.

Precht & di Fabio Screenshot 2018-02-09 21.56.03 Screenshot JR Foto: ZDF

Vor allem aber war mein Anliegen, den Stil und den logischen Verlauf des Gespräches im Detail zu verfolgen. Im Verlauf des Live-Hörens hat sich meine Beurteilung (Bewunderung, Skepsis) mehrfach verändert. Der durchweg super-höfliche Ton verhindert natürlich leicht die Wahrnehmung von Dissenzen, meine Spannung stieg zum erstenmal, als Di Fabio (bei etwa 13:45) sagte: So kann man es betrachten, aber ich halte es mit Verlaub für unterkomplex. Irre ich mich, oder folgte später ein Einlenken? Spätestens nach 27:00 (Was mir an dieser scharfsichtigen Beschreibung missfällt, ist, dass Sie jetzt einen Verantwortlichen markieren.) Sehr schön ist es, bei solchen Sätzen das Mienenspiel des Gegenübers zu beobachten. Nur in einzelnen Fällen habe ich das Zweistimmigsprechen anzudeuten versucht (in Klammern stehen immer Zwischenrufe und Einwürfe oder Ergänzungen des jeweils zuhörenden Gesprächspartners). Im täglichen Leben erlebt man das viel häufiger, oft auch als Zeichen der emotionellen Anteilnahme, zuweilen als mutwillige Störung des Gedankengangs, in Talkshows mit Politikern nimmt die Mehrstimmigkeit oft groteske Züge an. Wenn man im Internet nach Reaktionen auf dieses Gespräch sucht, wird man leicht Parteinahmen erkennen (ein Blogger – leicht durchschaubar als vom Beruf her parteilich eingestimmt – sieht einen klaren Sieg Di Fabios und rät, diesen in Zukunft zum Gastgeber zu machen), das ist die Folge der üblichen Talkshows, die offensichtlich auf Konfrontation eingerichtet sind , sogar von vornherein als Schaukämpfe inszeniert werden. Am Ende überwog bei mir die Freude über die mustergültige Abfolge und Kontrastierung der Gedanken, hundertmal besser als eine monomaner Vortrag des einen oder des anderen Protagonisten, und nur so erfolgte die Motivierung, das gesamte Gespräch zu transkribieren. (JR)

Niederschrift des Gesprächs Precht / Udo Di Fabio

PR 1:03 Herr Di Fabio, wer flößt Ihnen mehr Vertrauen ein: jemand wie Edward Snowden, der die großen Zusammenhänge aufgedeckt hat zwischen amerikanischem Geheimdienst und der Internetwirtschaft? Oder jemand wie Marc Zuckerberg, der ein besseres Leben für alle verspricht?

FAB Ja, Vertrauen ist eine knappe Ressource, und auch der Whistleblower, der Vertrauen einflößt, das ist für mehrere, glaube ich, eine ironische Frage. Man könnte sagen, unser Vertrauen liegt irgendwo in der Sittlichkeit des Menschen auf der einen Seite, und im Systemvertrauen, so wie wir auf den Rechtsstaat, auf Marktwirtschaft oder auf Demokratie vertrauen. So kann man im Fall Snowden auch darauf vertrauen, dass nichts wirklich geheim bleibt.

PR Wieviel Vertrauen haben Sie je in die sogenannten GAFA-Mächte, also Google, Amazon, Facebook und Apple, 4 Firmen, die als Unternehmen an der Spitze der Welt stehen und dort die klassische Wirtschaft verdrängt haben, – vertrauen Sie diesen Unternehmen?

FAB Also, ich vertraue, dass es sich um Unternehmen handelt, die letztlich amerikanischem Recht unterstehen; wenn sie in Europa tätig sind, europäischem oder deutschem Recht unterstehen, und insofern sind sie ein Stück weit berechenbar. Sie sind nicht Teil der organisierten Kriminalität, sondern sie sind Teil einer Marktwirtschaft, die dem rechtlichen und demokratischen Zugriff unterliegen. Auch hier wieder institutionelles Vertrauen. Ansonsten handelt es sich um Wirtschaftsunternehmen. Es geht für mich weniger um Vertrauen, sondern eher um die Frage, sind wir naiv, was den Umgang mit solchen Unternehmen angeht. Weil diese Plattformen haben eine interessante Strategie, weil sie deklarieren sich selbst als Gemeinwohlakteure. Als … (sie wollen die Welt besser machen!) sie wollen die Welt besser machen, und ich bin nicht so misstrauisch zu sagen: das erfinden die nur. Das werden sie schon auch so meinen. Ich habe kürzlich jemanden gehört aus dieser Szene, der sogar gesagt hat, dass sie den Kapitalismus überwinden wollen, und an der Stelle werd ich dann misstrauisch.

PR Weil Sie den Kapitalismus nicht überwinden wollen? Oder weil Sie nicht glauben, dass das Silicon Valley das wirklich vorhat?

FAB Was ich will, ist ja nicht entscheidend, aber dass diese Unternehmen, die eine solche Marktmacht haben, und die in ihrem Börsenwert … klar, klassische Realwirtschaft überflügelt haben, dass die mir jetzt erzählen, dass sie den Kapitalismus überwinden, an der Stelle werde ich dann misstrauisch und sage: Leute, Ihr leitet eine Wertschöpfungsrevolution ein, innerhalb des Kapitalismus, und Ihr seid die größten Profiteure einer technisch-kommunikativen Veränderung, (innerhalb eines kapitalistischen Systems, eines urkapitalistischen Geschäftsmodells!) absolut! Und das sollte man nicht verleugnen!

PR 4:11 Das ist natürlich das Schöne daran, es werden lauter Leistungen zur Verfügung gestellt, die offensichtlich hier die Leute auch begeistern und von den Leuten angenommen werden. Also dass ich ne Suchmaschine habe und damit Zugriff auf die Informationen dieser Welt, die mir entsprechend sortiert werden, und das ist großartig, jeder ist gerne bereit, wie sähe das Leben eines durchschnittlichen Menschen aus, wenn er keine Suchmaschine hätte. Ein großer Verkaufsrenner zu Weihnachten war jetzt Alexa; dieses Mikrofonrohr kann ja noch nicht besonders viel, aber irgendwann kann es vielleicht ganz ganz viel, dann brauch ich gar keine Suchmaschine mehr, dann brauche meine Fragen nur noch in den Raum stellen… Soziale Netzwerke haben ganz viele Annehmlichkeiten, sonst würden die Menschen sie nicht nutzen. Also man kann sagen: das Leben vieler Menschen fühlt sich bereichert an durch alles das, was diese Unternehmen zur Verfügung stellen. Allerdings machen diese Unternehmen mit den Menschen – ich weiß noch nicht einmal, ob ich es Vertrag nennen kann, also ich klicke irgendwo Nutzungsbedingungen an, und anschließend dürfen diese Unternehmen meine personbezogenen Daten kommerziell gebrauchen. Ist das für einen Verfassungsrechtler etwas, wo Sie sagen: Na ja, das ist der Lauf der Welt, oder würden Sie sagen: Da läuft was schief.

FAB 5:23 Es ist, was das Prinzip der Privatautonomie angeht, ein Problem entstanden. Das Netz verspricht ja, alles transparent zu machen und macht auch in der Tat ganz vieles transparent, z.B. Preisbildung. Sie können im Netz suchen, wo Sie das günstigste Angebot finden. Und Kartellhüter sagen uns deshalb: ihr müsst ins Netz, dann werdet ihr überhaupt transparent. Das Problem ist, dass Big Dater, also das Geschäft der Plattform, selbst vergleichsweise intransparent ist, – das Netz selbst ist intransparent. Es macht die Realwirtschaft, vielleicht sogar uns, transparent, aber wie es selbst funktioniert, nach welchen Algorithmen und mit welchen Geschäftsmodellen, das bleibt häufig unklar. Und wenn wir einen Nutzungsvertrag, wenn wir da einwilligen, dann wird uns nicht genau gesagt, welchen wirtschaftlichen Wert unsere Daten z.B. haben…

PR Ich hab nicht die geringste Vorstellung, was Google mit meinen Daten macht, gar keine. (Ja!) Nun haben wir aber, und das ist ein wichtiges Gut in unserer Verfassung, ja? Persönlichkeitsrecht, dazu gehört das Recht, auf informationelle Selbstbestimmung, und was wir hier haben, ist informationelle Fremdbestimmung: ich weiß nicht, was die mit meinen Daten machen. Ich kann nicht bei jedem Schritt sagen: das finde ich gut, das willige ich ein, ich hab irgendwas Allgemeines unterschrieben, da ich ohne Suchmaschine quasi nicht leben kann, aber was da passiert, dass die Persönlichkeitsprofile zusammenstellen und irgendwo eintüten, an irgendjemand verkaufen, wo ich nicht weiß, wer das ist, alles das durchschaue ich überhaupt nicht. Ist ein solcher Vertrag nicht eigentlich …, widerspricht der nicht unsern Grundrechten?

FAB 7:10 Also die Asymmetrie, die hier in der Information besteht, sie ist etwas, was ein Stück weit staatliche Schutzpflichten auslöst, so das heißt, der Staat muss gegensteuern, die Staaten müssen gegensteuern mit Regeln, die auf Transparenz dringen, also auch auf wirtschaftliche Transparenz. Welchen Wert hat das, was ich an Informationen eigentlich hier weitergebe, das Big-Data-Modell muss deutlicher werden. Dann würde ich allerdings keine grundsätzliche Gefahr sehen. Wissen Sie, informationelle Selbstbestimmung, das ist eine Idee, die zunächst einmal gegen den Daten sammelnden Staat gerichtet ist. Wenn wir mit dem Grundsatz der Datensparsamkeit kommen und jetzt in die Big-Data-Welt hineinkommen wollen, dann passt das so nicht, weil nämlich die Nutzer, Kunden, bereit sind, für kostenlos scheinende Angebote ihre Daten preiszugeben. Wenn sie wüssten, welcher wirtschaftliche Wert damit verbunden ist, und was damit gemacht wird…

PR Aber das Interessante ist doch, wenn es sich um den Staat handelt, dann frage ich nicht den einzelnen Staatsbürger: möchtest du, dass der Staat deine Daten sammelt? Sondern da sagen wir: da müssen wir im Interesse der Staatsbürger dafür sorgen, dass sie geschützt sind. Wenn es sich um die Wirtschaft handelt, sagen wir: och no ja, denen macht das ja nichts aus, der hat was davon, also plötzlich ist jetzt nicht mehr der Staat dafür zuständig, das Ganze zu regeln, sondern ich sage, ja, wenn du das machen möchtest, dann unterschreib halt solche Verträge. Das verstehe ich nicht.

FAB Der Staat ist schon dafür zuständig, die regeln für die private Vertragsgestaltung allgemein zu setzen. Nur müssen wir eben den Unterschied sehen: wir sind im Privatrecht, das heißt, hier regiert das Prinzip der Freiwilligkeit. Wie Sie richtig sagen, wenn der Staat Daten erhebt, ohne unsre individuelle Einwilligung, dann sind wir im öffentlichen Recht, dann verlangen wir nach gesetzlichen Grundlagen usw.

PR 9:11 Die Menschen aus dem Silicon Valley, wenn sie sich dazu äußern, oder viele Leute Bücher schreiben, die beschreiben eigentlich immer eine technische Evolution, die sie darstellen, als sei sie ein Naturgesetz. Also ne normale Evolution, das ist völlig klar: erst hat der Mensch das Feuer erfunden und irgendwann die Dampfmaschine und dann irgendwann das Handy, und das geht irgendwann jetzt immer so weiter, und am Ende wird der Mensch in irgend so einer Art Cloud verschwinden oder er wird in einer Matrix leben und ganz ganz am Ende steht dann möglicherweise die Herrschaft der Maschinen. Naja, so etwas, was man Singularität nennt, ein Zustand, in dem nicht mehr der Mensch über die Erde herrscht, sondern ein neues Zeitalter anbricht, das Technozän. Und das glauben sehr viele dieser Leute und sagen, das ist eine ganz natürliche Entwicklung, und diese natürliche Entwicklung würde,wenn es denn stimmt, dass sie eine natürliche Entwicklung ist, dazu führen, dass das, wofür Sie Ihr ganzes Leben lang gestanden haben, der bürgerliche Rechtsstaat zum Beispiel, unsere Vorstellung von Demokratie und von Freiheit, irgendwann in der Zukunft einfach überholt sein werden.

FAB 11:12 Ich glaube nicht, dass es eine natürliche, aber eine mögliche Entwicklung ist. Und weil es eine mögliche Entwicklung ist, müssen wir jetzt drüber nachdenken, bevor die technischen Systeme eine solche Wirkmacht und eine solche Unentbehrlichkeit erlangt haben, dass man schlecht abschalten kann oder die Kosten zu hoch werden, wenn man gegensteuert. In der Tat, es ist keine Zwangsläufigkeit, aber wir ersetzen zur Zeit eben nicht Muskelkraft oder so etwas, wie im industriellen Zeitalter, sondern (Hirnaktivität!) wir fangen an, kognitive Fähigkeiten zu ersetzen, künstliche Intelligenz, Automatisierung, das wird die Gesellschaft dramatischer verändern, als andere technische Entwicklungen. Und wenn wir einmal beginnen, wenn wir beginnen, unsere höheren geistigen Leistungen zu ersetzen, einfache, wie Rechenleistungen, haben wir schon lange ersetzt, aber wenn wir die höheren geistigen Leistungen ersetzen – viele denken darüber nach, ob man Richter, ob man Ärzt*innen durch KI ersetzen kann, in Japan wird mit Pflegerobotern experimentiert, und z.T. schon seit Jahren experimentiert, es verändert sich etwas, was wir im Grunde genommen heute nur in den Anfängen beobachten.

PR Ja aber die natürliche Entwicklung wäre wohl tatsächlich, dass die technokratische Bedeutung immer stärker wird, und dass die Rolle der Politik immer schwächer wird. Und das ist ja was, was wir tatsächlich auch schon beobachten können. Also ich denke schon beobachten zu können, dass die Politik in Deutschland und in anderen Ländern genau so mit diesen Herausforderungen der Digitalisierung, die ja ihr gesamtes Gesellschaftsmodell in Frage stellen, auch die Demokratie langfristig in Frage stellen, ziemlich überfordert ist. Also ich hab immer den Eindruck, wir dekorieren gerade auf der Titanic die Liegestühle um. Ja? Also hier noch mal irgendwo kucken, das erlauben oder nicht, und, obwohl Sie mir ja gerade gut erklärt haben, dass das nicht geht, aber wenn ich mal das Gedankenspiel nur mal so durchgehe: gesetzt den Fall, wir würden den kommerzialisierten Handel mit personenbezogenen Daten verbieten, mal gesetzt den Fall, das wäre juristisch möglich, ja? Dann hätte das einen enormen volkswirtschaftlichen Nutzen. Denn es gibt keinen volkswirtschaftlichen Nutzen des kommerzialisierten Datenhandels mit Personendatemn, worin soll der bestehen? Also, wenn ich jetzt ganz raffiniert hingehe. Ich versuche es mal als Tableau volkswirtschaftlich aufzumachen, wo ich Sie jetzt hier viel gezielter bewerben kann, weil ich Ihr Onlineverhalten studiere und ganz genau weiß, wann Sie wo einkaufen, und dann weiß ich, wann ich Ihnen welche Werbung aufs Handy schalte und welche verführerischen Angebote ich mache, dann werden Sie vielleicht mehr Geld für bestimmte Produkte ausgeben, aber Sie haben ja nicht mehr Geld in der Tasche, das heißt, Sie werden also nicht mehr konsumieren, sondern anderes konsumieren als Sie vorher konsumiert haben, ja?, wir haben es mit einer Umverteilung zu tun, und die Herren der Daten, das ist ja, Google verkauft ja die Daten – oder Apple – der Kaffeetrinker, ja?, an StarWax, also an die Großen, die viel dafür bezahlen können, na und dann macht StarWax an allen genau errechneten Knotenpunkten seine Filialen auf, und das kleine Kaffeelädchen verschwindet. Volkswirtschaftlich ist das eine Umverteilung von klein nach groß. Viele Bereiche der Digitalisierung sind wertschöpfend: Wenn ich nen Roboter anstelle, wo vorher ein Mensch gearbeitet hat, erhöhe ich die Produktivitätskraft, spare Kosten. Aber der kommerzialisierte Handel mit personenbezogenen Daten, der bringt ja volkswirtschaftlich, vorsichtig ausgedrückt, keinen Mehrwert.

FAB 13:43 So kann man es betrachten, aber ich halte es mit Verlaub für unterkomplex. Das… das ist… das ist kein Nullsummenspiel, wie das hier stattfindet. Sie haben das jetzt als Nullsummenspiel dargestellt. Wenn es rein … wenn es rein letztlich um die Lenkung von Konsumbedürfnissen (genau!) geht, dann … kann man dem auch folgen, aber die Wirklichkeit, auch die Wirklichkeit der großen Plattformen ist komplizierter. Weil es werden ja zugleich Leistungen angeboten, es werden Leistungen angeboten, die einen enormen volkswirtschaftlichen Nutzen haben (zum Beispiel!?) Wenn Sie z.B. mit Google Maps arbeiten.Wenn Sie mit Medizindaten arbeiten, entstehen reale Veränderungen im Wirtschaftsleben (ja selbstverständlich, aber dafür brauchen Sie keinen kommerzialisierten Datenhandel …) Sie brauchen ihn vielleicht mittelbar, sonst würde es sich vielleicht gar nicht lohnen. Das bedeutet: kein Mensch liest eine Tageszeitung, wenn er 20 Euro für die Tagesausgabe zahlen muss, die Werbung war eigentlich immer das, was eigentlich die Pressefreiheit gestützt hat. Genau so gut könnte man heute sagen, dass – wenn Google mit personenbezogenen Daten Geld verdient, hat es die Ressourcen, um nützliche Dienstleistungen anzubieten, und die nützlichen Dienstleistungen, sie sind andererseits heute bereits die Achillesferse einer Infrastruktur, die neu entsteht, und die sind insofern auch tatsächlich wertschöpfend und also nicht nur in einem Nullsummenspiel umverteilt. Das macht die Sache jedenfalls komplizierter.

PR 15:09 Es wird seit Jahren ja schon davon geredet, dass die Europäische Union eine eigene Suchmaschine entwickelt. Jetzt stellen wir uns mal vor, der Staat sagt: also im modernen digitalen Zeitalter, da stellen wir nicht Straßen zur Verfügung, für den Personennahverkehr, sondern auch den entsprechende Datenzugang für jedermann und eine entsprechende Suchmaschine, und da werden die personenbezogenen Daten nicht gespeichert, bei einigen vielleicht von der Polizei gespeichert, aber wir werden sagen wir mal kommerziell nicht benutzt, ja, das wäre doch großartig, da brauch ich doch kein Google für. Dann brauche ich doch keinen privaten Anbieter, der dafür n paar Trilliarden verdient.

FAB Sie sagen, sie werden vielleicht von der Polizei gespeichert, (dafür gelten genau die gleichen Datenschutzgesetzte, über die wir im Anfang gesprochen haben) schon, aber das würde bei manch einem Nutzer Misstrauen auslösen, aber – das ist nicht mein Punkt, der Punkt ist, wir haben sowas schon erdacht, konzipiert in Europa, um ein Stück weit Souveränität über das Plattformgeschehen für Europa zu beanspruchen, denn wenn man ehrlich ist, was die Plattform angeht, sind wir in Europa im Hintertreffen.

PR Der Staat braucht also die europäische Union, kann ja private Firmen damit beauftragen, sozusagen das alles zu machen, und es wird dann anschließend nicht von privaten Firmen kommerziell genutzt. o.k.

FAB Sie können natürlich in Europa versuchen zu fördern in diese Richtung, so wie wir mit Airbus ja auch ein Staatsunternehmen auf den Weg gebracht haben, also jedenfalls nicht so ganz, und trotzdem viel gefördert haben. Ich würde das nicht ausschließen. Man sollte es aber mit marktwirtschaftlichen Mitteln machen, die durchschaut werden können. Nicht der Staat sollte antreten, wissen Sie, das Problem ist, da wo der Staat antritt, China etwa, da hat das auch etwas mit Verformung zu tun, und die Welt, die daraus entsteht, ist keine bessere als die von Google und Amazon. Deshalb muss man aufpassen, dass man nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Es kommt darauf an, dass wir in Europa wettbewerbsfähig auf einem Gebiet, auf dem wir hinterherhinken, das ist nicht zu übersehen, und manche sagen: aussichtslos hinterherhinken.

PR 17:39 In der digitalen Welt gibt es im Wettbewerb ganz ganz disruptive Modelle, also: n distruptives Modell ist, wenn ich nicht das Auto weiter… das bisherige Auto weiter verbessere, sondern wenn ich mit dem autonomen Auto n ganz anderes Verkehrskonzept entwickle, womit das bisherige Modell gar nicht mehr konkurrieren kann, weil das aus dieser DNA des bisherigen Modells gar nicht mehr logisch weiter hervorgeht, Deutschland kann noch so gute Autos bauen, in dem Moment, wo diese kleinen Elektrokisten autonom fahren, dann nur noch über n Provider genutzt werden, ist die deutsche Automobilindustrie quasi weg. Also viele disruptive Modelle und hinter all diesen disruptiven Modellen steht eine bestimmte Art zu denken. Also das ist das, was Evgenij Morozow Solutionismus genannt hat. Der weißrussische Journalist, der ein wunderbares Buch geschrieben hat über die smarte neue Welt, und er sagt: Im Grunde genommen werden auch große gesellschaftliche Fragen heute von technischen Problemlösern übernommen. Er nennt die Solutionisten, das ist n Begriff aus der Architekturtheorie, also man denke, Le Corbusier wollte mal die Hälfte von Paris, also die Hälfte von der Innenstadt, das rechte Seine-Ufer abreißen, ja, weil das alles so dreckig war usw. und verkehrstechnisch nicht gut, und dann wollte der da 18 riesige Hochhäuser hinsetzten, und wollte sozusagen die ideale Lösung am Reißbrett ersinnen, und das, der kritische Begriff dafür ist Solutionismus. Also: n Problem, und dann am Reißbrett die ganz große Lösung, und dann ist das Problem weg. Und dieser Solutionismus ist im Silicon Valley sehr verbreitet. Also sagen wir haben ein Welternährungsproblem, was müssen wir machen? Wir haben ein Verkehrsproblen, was müssen wir machen, und dann werden immer so Le-Corbusier-artige Vorschläge gemacht, und die greifen ja sehr sehr tief in unser Leben ein. Wenn ich z.B,. ne smarte Stadt baue, ja, oder ne Stadt mit smarten Geräten ausrüste, d.h. überall mit solchen Sensoren, wenn ich mit Video-Kameras alle Menschen überwache, dann ist das ein wunderbares Mittel der Kriminalitätsprävention. Gleichzeitig schränke ich die Freiheit der Menschen ein, und dieser Prozess ist im Gange, und der geht auch immer schneller vorwärts. Müsste nicht auch das einem überzeugten Demokraten Angst machen, wenn so viele Sachen, die vorher eine Frage von Abstimmung waren, ein Frage, dass man Grauzonen zugelassen hat in der Gesellschaft, denen das Recht eingeräumt hat, Verbrechen zu begehen, aber dafür bestraft zu werden, und jetzt in eine Gesellschaft kommen, die von Anfang an zu versuchen, alles Negative auszumerzen. Das muss doch auch etwas sein, das Ihnen mit Ihrer Vorstellung, Ihrem Begriff von Freiheit ein Unbehagen bereitet. Oder?

FAB 20:12 Ja, das Unbehagen habe ich ja schon seit geraumer Zeit artikuliert, ich nenne das nicht Solutionismus, ich nenne das den sozialtechnischen Tunnelblick. Also die Vorstellung, dass man die Gesellschaft steuern kann in bestimmter Hinsicht, ohne ihre tieferen soziokulturellen Grundlagen mit auf dem Radarschirm haben zu können (genau! Die kommen da gar nicht drin vor!) Die können da auch nicht drin vorkommen, das würde die Sache viel zu kompliziert machen, man würde dann mit irgendwelchen Alltagsweisheiten kommen und (das interessiert so wenig wie Le Corbusier sich dafür interessiert hat, dass da vor hundert Jahren ne Stadt gewachsen war) genau! genau! Und diese Art eines zu stark technisch-zentrierten, sozialtechnischen ist in der Tat ne Gefahr, und sie wird größer, wenn man die Steuerung noch sozusagen als Vorfeld-Steuerung, präventive Steuerung begreift. Wir haben von den USA herüberschwappend eine Diskussion über Nanjing (?) beispielsweise, wo auch auf eine intransparente Weise gelenkt werden soll (also ich finde das Auslegen von Ködern) genau! (damit wir in eine Richtung geschubst werden, Bestimmtes zu tun) genau! genau! Und das … eh das klingt smart, genau so ist es smart, die zu erkennen durch Persönlichkeitsprofile, die wir im Netz bei unseren Aktivitäten künftig mit einem Internet der Dinge hinterlassen, als Spuren hinterlassen, möglicherweise schon herauszufinden, dass Sie ein Gefährder sind, dass Sie kriminell sind, bevor Sie das selbst wissen!

PR Man kann, auf Grund meines Nutzungsverhaltens kann man erkennen… (ich kann Sie schon in die Therapie schicken, bevor Sie überhaupt wissen, was der Anlass dafür ist).

FAB Und diese Art von spezialtechnisch und sozialpräventivem Denken verändert ganz allmählich unser Bild vom Menschen, (ja!) denn plötzlich wirds der Mensch, der regelwidrig handelt, der wird zum Betriebsunfall. Das hätte man doch voraussehen müssen! Wir diskutieren da nicht so sehr über Benachteiligung oder sowas, sondern wir diskutieren, warum ist der Gefährder nicht erkannt worden! Wir kennen solche Diskussionen bereits polizeilich (absolut!), aber das hat noch ein viel größeres Anwendungsfeld, und unser Bild vom Menschen (ja!) als einer eigenwilligen Persönlichkeit, als einer Persönlichkeit, die überraschend sein kann, auch im negativen Sinne, das würde zu einer Anomalie werden, und damit wären wir in einer anderen Welt.

PR 22:52 Also um klarzumachen, was ich hier mit Urteilskraft meine, – Jewgenij Morosow bringt hier ein schönes Beispiel: er vergleicht die U-Bahn in Berlin mit der U-Bahn in New York. In der U-Bahn in New York ist es so, man kann nicht schwarz fahren, weil es gibt überall Barrieren, da muss man seine Karte reinstecken, damit man überhaupt in die U-Bahn gehen kann, das heißt, es gibt keine Schwarzfahrer, weil das System es technisch verunmöglicht, dass man schwarz fährt. In Berlin kann jeder in die U-Bahn steigen, er muss sich selber überlegen, ob er das Risiko eingehen will schwarz zu fahren oder ob er das für ethisch gut hält, schwarz zu fahren. Also ne ganz andere Situation. Und durch die Technik kann es natürlich entstehen, dass wir mehr und mehr in eine New Yorker Gesellschaft kommen und immer weniger in eine Berliner, und das Risiko besteht, dass die Leute sich über ihr Verhalten dann auch nicht so viele Gedanken machen müssen. Welches der beiden U-Bahn-Modelle ist Ihnen für die Zukunft sympathischer?

FAB 23:42 Das liberale Berliner Modell liegt uns näher, aber auf den zweiten Blick ist das liberale Modell daran gebunden, dass Schwarzfahren bei uns einen Straftatbestand verwirklicht und deshalb darin das Risiko für den Einzelnen darin liegt. Im Augenblick diskutieren wir, ob wir davon abgehen sollen, als keinen Straftatbestand dafür normieren, das würde aber voraussetzen, dass wir vielleicht solche Zugangsbarrieren errichten, also eher für das New Yorker Modell uns entscheiden. Es hängt davon ab: wie geht eine Gesellschaft mit Freiheit um und wieviel Sicherheit wollen wir mit präventiven Barrieren, Zugangsbarrieren erreichen? Das bleibt immer eine offene Frage.

PR 24:30 Aber das Versprechen der Technikleute besteht ja darin: wir können technischerweise immer mehr Sicherheit herstellen, und vielleicht ist ja jedes einzelne so, dass man sagen kann: das ist ja ne gute Idee, wenn wir das machen. Also wenn wir Sensoren in die Stadt machen, dass wir die Leute n bisschen besser überwachen, dass wir Kriminalitätsbekämpfung von vornherein machen, von Anfang an vereiteln, da findet man je jede einzelne Maßnahme eigentlich ganz gut, nur die Summe von vielen einzelnen Maßnahmen bringt eine andere Gesellschaft hervor, und dann sind wir irgendwann komplett in der New Yorker Welt, und die Berliner Welt ist weg.

FAB 25:03 Das … kann so sein, das muss aber nicht so sein. Man darf nur nicht dem Irrglauben erliegen, dass man an die Stelle von menschlichem Verhalten mitsamt den Risiken menschlichen Verhaltens komplett eine technische Präventionsbarriere errichten kann. Denn das würde unserem Menschenbild nicht mehr entsprechen, und es würde uns in eine verwaltete Welt führen. (ja!)

PR Also, philosophisch ausgedrückt, das Menschenbild, das unserm Grundgesetz, unserer Verfassung entspricht, was unserer freiheitlichen Demokratie entspricht, ist das Menschenbild der Aufklärung. Das Menschenbild der Aufklärung sagt: Freiheit besteht darin, frei von seiner Urteilskraft Gebrauch zu machen, ja, und dann selber zu entscheiden, wie man sich sittlich verhält. Das ist die Vorstellung, die wir vom Menschen haben. Also jeder ist sozusagen Herr dessen, seiner eigenen Taten, und je mehr Bildung er hat, je mehr Herzens- oder Lebensbildung, um so reichhaltiger macht er vielleicht davon Gebrauch, aber im Prinzip ist der Mensch frei, und er ist Herr seiner eigenen Taten. Das Menschenbild des Silicon Valley, das Menschenbild der Technokraten ist ein anderes. Es ist das Menschenbild des Behaviorismus oder der Kybernetik. Dieses Menschenbild sagt: es gibt keine Freiheit, es gibt auch keine Urteilskraft, es gibt nur Verhalten. Verhalten ist der Schlüsselbegriff der Kybernetik. Und das bedeutete: so wie die Ratte, ja, im Versuch, ja, dahin geht, wo das Futter ist, und nicht dahin, wo sie verhungert, ist der Mensch eine Reiz-Reflex-Maschine, die überall da, wo es ihm Glück, Bequemlichkeit, Annehmlichkeit usw. gibt, da geht er hin, und überall da, wo er das nicht kriegt oder wo er irgendwo Ärger kriegt, da geht… das versucht er zu vermeiden. Also der Mensch ist im Grunde genommen wie eine Ratte im Versuchslabor etwas, was sich auf Grund seines Verhaltens analysieren kann, das Verhalten kann ich algorythmisieren, und wenn ich etwas algorythmisieren kann, kann ich es irgendwann auch steuern, mehr und mehr steuern. Das ist das Menschenbild des Silicon Valley. Und wenn dieses Menschenbild unser bisheriges Menschenbild ersetzt, dann brauchen wir keine freiheitlich Demokratie mehr. Und auch keinen Rechtsstaat mehr. Dann haben wir für alles technische Lösungen.

FAB 27:19 Was mir an dieser scharfsichtigen Beschreibung missfällt, ist, dass Sie jetzt einen Verantwortlichen markieren. (Gut, sagen wir mal: das Denken der Technokraten, auch in China.) … ist meines Erachtens so nicht richtig. Weil: es geht mehr über die Bande. Das Silicon Valley will meines Erachtens Geschäfte machen, sein Wertschöpfungsmodell … ausbauen, verteidigen, die Welt ist schnelllebig, die Giganten von heute müssen nicht die Giganten von morgen sein, jedenfalls bei allem Gemeinwohlinteresse, das sie formulieren, sind sie in erster Linie Wirtschaftsunternehmen. Als Wirtschaftsunternehmen reagieren sie auch auf das, was wir, die weltweiten Nutzer, Milliarden von Nutzern, was wir wollen und worauf wir uns einlassen. Und da sind sie sehr empfindlich. Das heißt, wenn wir uns entscheiden, nicht mehr zu twittern oder nicht mehr über Facebook zu kommunizieren, hat das dramatische Folgen für diese Giganten. Sie können uns nur beherrschen, wenn wir das wollen. (Aber wenn Sie als Kind in so eine Welt reingeboren werden…) das Problem ist… das Problem ist deshalb, wenn wir das als Problem wiederum an uns adressieren müssen. An uns als Gesellschaft, als Individuum ehm adressieren müssen und die Frage stellen: wie bequem sind wir eigentlich? Wie käuflich sind wir eigentlich, wenn wir eine kostenlose Leistung angeboten bekommen? Müssen qwir – alle reden über digitale Bildung – müssen wir nicht unsere Bildung wieder auf das stärker konzentrieren, was sie immer war, nämlich kritische Aneignung der Welt und nicht unkritische Aneignung.

PR Ich bin ganz auf Ihrer Seite, aber jetzt bin ich natürlich gespannt, wie Sie das praktisch machen wollen, mit Kindern, die mit Whatsapp aufwachsen, manchmal schon mit Kleinkindern, die schon mit ihren Wischbewegungen bespaßt werden und vollkommen in diesen Welten leben, und – meine Befürchtung – Urteilskraft und Freiheit vielleicht gar nicht mehr so wichtig finden, sondern wirklich Annehmlichkeit und Bequemlichkeit wichtig finden.

FAB 29:35 Ja, aber weil wir es ihnen vorgemacht haben. (Wir haben sie in diese Welt hineinleben lassen…) es ist unsere Welt. Wir wischen bis zur Kanzlerin hinauf starren wir auf unser Handy, das machen wir alle so, da will ich auch keinen anklagen, aber man muss sehen, es hat sich eine Konvention gebildet, eine Konvention, dass im Grunde genommen es geduldet wird, dass während …Menschen sich face to face unterhalten, kucken alle noch mal eben ihre Nachrichten an. Es ist die Frage, ob man solche Konventionen wirklich auf Dauer dulden will als Gesellschaft. Wir erwarten, dass alles sofort in Echtzeit zur Verfügung steht, und zwar umfänglich. Ist diese Erwartung nicht schon ein Stück weit Hybris? … Ich denke, dass wir einfach mal darüber nachdenken müssen, was wir so tun, und dieser Prozess ist im Gange.

PR 30:39 Sie appellieren an jeden Einzelnen?

FAB Wir appellieren immer. Sie haben gerade eben von der Aufklärung gesprochen, an wen appelliert denn die Aufklärung? An wen appelliert denn unser humanistisches Modell, (an Menschen, die immer stärker beeinflusst werden, an die ist immer schwieriger zu appellieren) ja, aber das ist ja immer schon gesagt worden. Als der Buchdruck erfunden wurde, wurde auch gesagt, was macht das mit den Menschen? Mit die ersten Schriften, die gedruckt wurden, waren pornographische Schriftenat den Sittenverfall erwartet, das ist aber schon 500 Jahre her. Als der Film entstanden ist, hatte man wieder ähnliche Erwartungen, als das Fernsehen aufkam. Also wir müssen aufpassen, dass wir nicht in einem … in einen Kulturpessimismus geraten, andererseits wollen wir glaube ich auch beide nicht eine technische Jubelstimmung, wie das häufig der Fall ist …

PR In einem Punkt dürften wir uns einige sein: ich bin ein großer Freund der Technik überall, wo sie uns helfen kann, die Gesellschaft humaner zu machen. Das ist für mich der Maßstab. Für mich ist nicht der Maßstab, wo könnte überall ein verstecktes oder ein offensichtliches Geschäftsmodell liegen, sondern dient die Technik dem Menschen oder führt sie uns in eine Entwicklung, das wäre sozusagen die Dystopie, dass wir, nachdem wir den Höhepunkt unserer Mündigkeit erreicht haben, so Stück für Stück wieder zu Kindern gemacht werden oder in einer Art embryonaler Phase irgendwie wieder in eine Welt kommen, in der Google uns von der Diktatur der Freiheit befreit, weil wir nicht mehr frei wählen müssen, sondern weil Google oder wer immer schon weiß, was für uns gut ist, weil sie uns in- und auswendig kennen und sogar wissen, was wir als nächstes denken oder tun und uns die nächste Kaufempfehlung bescheren. Und dies Scenario, das ich gerad entwickelt hab, ist ja kein völlig unrealistisches Scenario, sondern eines, wenn man sich die Entwicklung der letzten Jahre ankuckt und so ne Hochrechnung machen würde, durchaus eintreten könnte, also ich mache sozusagen Angst, dass die Menschen so unmündig werden könnten, dass die Gefahr besteht – ich sag nicht, das muss so kommen -, dass ich an ihre Urteilskraft nicht mehr appellieren kann.

FAB 32:42 Es gibt Tendenzen in diese Richtung, es gibt immer Gefährdungen in diese Richtung, vor allem mit jeder Veränderung der Kommunikationstechnik gibt es solche Tendenzen, weil die alten Institutionen, die eine gewisse Erwartungssicherheit, was etwa Urteilskraft, was soziale Ordnung angeht, das was die gewährleistet haben, das wird im technischen Umbruch erschüttert. Das gehört zu diesem technischen Umbruch. Und insofern ist es wichtig, die Sensibilität zu haben für bestimmte Leistungen, die etwa früher Verlage ausgeübt haben, die nicht jeden einfach gedruckt haben, wo nicht jeder zu Wort kommen konnte, die nach Qualitätsmaßstäben operiert haben – Qualitätsjournalismus war mal eine Vokabel, die heute schon irgendwie verstaubt wirkt. Verstaubt, weil im Netz wir schon eine beispiellose Dezentralisierung erleben. Aber was wir heute unter Netikette erleben, ist der Versuch, die alte institutionelle Leistung, was Ordnung, was Sittlichkeit, was Urteilskraft angeht, wieder zu etablieren. Und man kann bei so etwas wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz furchtbar kritisch sein, – ich gehöre auch eher zu den Kritikern -, es ist der Versuch, bestimmte Regeln auch im Netz wieder durchzusetzen. Und deshalb wäre ich nicht per se pessimistisch, dass hier eine Welt untergeht und kein adäquate neue entsteht.Sondern wir ,müssen eben dafür streiten, dass sittliche Maßstäbe, dass Urteilskraft im Netz möglich bleiben, vielleicht sogar verbessert werden, verstärkt werden.

PR 34:27 Also ich bin auch nicht pessimistisch, allerdings nur aus dem Grund heraus, weil Pessimismus keine Lösung ist. Ja, also, ich glaube, dass ein Optimist, der seinen Idealen nicht bestätigt wurde, immer noch n besseres Leben führt als n Pessimist, der sich immer noch auf die Schulter geklopft hat es ist alles so miese gekommen, wie ich mir das vorgestellt hab. Das ist es eigentlich nicht. Aber meine Befürchtung, also Grundbefürchtung besteht darin, dass diese Aufklärungsgesellschaft, also diese Werte der Aufklärung sukzessiv abgebaut werden, und ich möchte das noch an einem Beispiel klarmachen. Es gibt ein sehr berühmtes Beispiel, das werden Sie sicher kennen: 1974 hat der amerikanische Philosoph Robert Nozick, konservativer amerikanischer Philosoph, ein Buch geschrieben „Anarchie, Staat und Utopie“, und darin stellt er eine Erlebnismaschine vor. Er sagt, stellen Sie sich mal vor, Sie könnten in eine Erlebnismaschine steigen – das ist so ähnlich wie der Film Matrix -, dann sind Sie in einer komplett künstlichen Welt, erleben aber den Unterschied zwischen künstlich und real nicht mehr. Das heißt, Sie erleben alles real, und in dieser Erlebnismaschine werden alle Ihre Bedürfniss nach Ihrer Vorstellung befriedigt. Das heißt, Sie sind also in einem vollkommenen Wohlfühlparadies, Sie kriegen die schönsten Frauen, die Sie haben wollen, und wenn Sie Familienglück haben wollen, kriegen Sie das auch, und wenn Sie gutes Essen wollen, alles! Würden wir in diese Maschine steigen? Das ist eine rhetorische Frage, denn Nozick ging davon aus: niemand würde in eine solche Maschine steigen. Und ich nehme an, bei uns würden vielleicht einige in diese Maschine steigen, aber die meisten würden es nicht tun. Was aber, wenn ich nicht ein große Entscheidung in meinem Leben treffen muss, in diese Maschine zu steigen oder nicht, sondern wenn diese Maschine in ganz, ganz kleinen Stücken, Stück für Stück via Bequemlichkeit, Annehmlichkeit, Fiktionen, Virtual Reality in mein Leben kommt, so dass ich also auf einem schleichenden Übergang in so eine Maschine hineinkomme, dann glaube ich würde die überwältigende Mehrheit an keinem Punkt ein Stoppschild hochhalten…

FAB Wir sind ja auf dem Weg dahin, wir sind auf dem Weg dahin, die Nutzungen etwa eines Smartphones, die sind heute noch, sie sind heute noch längst nicht so weit, wie uns das die Protagonisten manchmal weismachen wollen, aber die Entwicklung, sie wird diesen Weg nehmen. Es ist eine Gesellschaft nicht nur abstrakt denkbar, sondern konkret bereits prognostizierbar, die uns umsorgt. Wenn man sich eine Scenario vorstellt, das Menschen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen versorgt, in ihrem Smartphone sitzen, mit einem selbstfahrenden Auto von A nach B kommen, falls sie überhaupt von A nach B wollen, dann ist eine umsorgte Existenz denkbar, die auf unsere Wünsche hin sofort ganz smart reagiert. (Betreutes Leben!) Betreutes Leben. Sie zwingt uns dazu zu fragen, wie wir eigentlich mitmachen wollen. Das Problem ist: Sie werden eine solche Entwicklung kaum staatlich unterbinden können, die Vorstellung (aber Sie sehen das direkt im zivilen Widerstand von Menschen, wieviele Leute sich jetzt zu Weihnachten eine Alexa gekauft haben, verschenkt haben und sich ausspionieren lassen zu Hause, weil sie nichts zu verbergen haben, usw., ich sehe keinen einzigen Punkt, wo sich ein solcher Widerstand ernsthaft formiert.) Aber: wir sind eine volatile Gesellschaft im Schlechten wie im Guten, ich glaube, sowas kann sich schnell ändern. Ein Buch wie der „Circle“ hat die Gefahren deutlich gemacht und hat viele Leser gefunden, und subkutan bildet sich auch das kritische Bewusstsein. Das geht nicht immer so schnell, die technische Entwicklung von Alexa ist zunächst mal ein ziemlich dummes Gerät, das da steht, aber (aber es wird schlauer werden) aber es nimmt auf und leitet weiter, und es wird schlauer werden, wie Sie sagten, und zwar vermutlich viel schlauer, denn wir sind aus der Phase einer linearen Entwicklung raus, wir werden und, was KI, was Künstliche Intelligenz angeht, viel schneller entwickeln, als wir uns das heute so vorstellen können.

PR 38:37 Aber Sie erwarten, dass sich Menschen irgendwann gegen ihre eigene Bequemlichkeit entscheiden. Aus freien Stücken heraus…

FAB Sie müssen sich ja nicht gegen Ihre eigene Bequemlichkeit entscheiden, Sie müssen nur die Grenzen, die Grenzen deutlich, Sie müssen die Grenzen finden. Die müssen wir suchen, wir müssen fragen, wohin gehen die Daten, also Symmetrie also unser Gesprächseingang. Auch Alexa darf nicht unkontrolliert agieren, vielleicht müssen wir die Daten über Stellen leiten, die unser besonderes Vertrauen haben, das muss nicht der Staat sein. Kann auch n privater Akteur sein, den wir beauftragen, damit wir sehen könne, was wird damit gemacht, und den Menschen sagen können: das passiert mit dem, was du in deinem Heim, privat, sagst.

PR Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen sich an allem dem [all das], was die Konzerne mit ihren Personendaten machen, gewöhnen. Weil es auch jetzt so in kleinen Schritten, so dann erfahr ich n bisschen mehr, und die verdienen n bisschen Geld damit usw., irgendwann sind die Leute auch daran gewöhnt. Was glauben Sie realistisch, wir habe ja so verschiedene Bilder, wir haben gesagt, wir können die Urteilskraft schulen, wir können bestimmte Prozesse aufhalten, andererseits haben wir jetzt auch Dystopien gemalt, was glauben Sie ganz ernsthaft: wo steht die Gesellschaft in 10 Jahren? Können Sie es in wenigen Strichen skizzieren?

FAB 39:54 Wissen Sie, Sie haben gerade gesagt: Pessimismus und Optimismus. Das Problem ist ja, wir kennen die Zukunft nicht. Wir können die Zukunft immer nur hochrechnen aus Daten, die wir jetzt kennen, die sind heute schon defizitär, und vor allem verändern die sich auch noch in der Zukunft, wir kennen die Zukunft nicht genau, geht man mit einem pessimistischen Bild an die Zukunft ran, dann verstärkt man die Möglichkeit, dass dieses negative Scenario eintritt. Deshalb sind wir also (zum Optimismus verdammt!) wir sind verurteilt zum Optimismus, allerdings nicht zu einem blinden, sondern zu einem kritischen Optimismus. Und insofern würde ich sagen, die Menschen sind eigenwillig immer gewesen! Schon Heinrich Heine hat vom Volk als dem großen Lümmel gesprochen. Ich glaube, dass es nicht ausgemacht ist, dass wir diese wunderschöne technische Welt, diese Angebote, die Leimruten, die ausgelegt werden, dass wir die auf längere Sicht tatsächlcih alle so wahrnehmen. Es ist auch möglich, dass wir mit den neuen technischen Möglichkeiten auch eine Gegenwelt installieren. Ich halte … Widerstand hätte man in den alten 60er Zeiten gesagt .. eh .. Ästhetik des Widerstandes – ich halte auch Widerstand MIT den technischen Waffen für möglich. Teilweise ist ja so etwas bereits unterwegs, auch eine Internetöffentlichkeit muss nicht dezentral, anonymisiert und chaotisch und sittenlos sein.Sie kann auch neue Sittlichkeit und neue Ordnung aufbauen. Deshalb… daran müssen wir glauben, und dafür müssen wir etwas tun, damit es wahrscheinlicher wird, dass wir diesen Entwicklungsverlauf nehmen.

PR Die erste Voraussetzung für eine solche Ästhetik des Widerstandes wäre, dass es uns gelingt, neben den vielen negativen Bildern über die Zukunft uns eine positive Zukunft auszumalen, wie wir die Technik im humanen Sinne und nicht im kybernetischen Sinne verwenden. Herr di Fabio, ich danke für das Gespräch. (Danke!)

Abschrift des Gesprächs (JR) nach der Fernsehsendung ©ZDF!

Warum ich wieder Wagner höre

Ein Ring – ohne Gesang!

Vor vielen Jahren habe ich einmal einen Puccini ohne Gesang sehr schön gefunden (Harald Banter hatte die CD in WDR3 vorgestellt), habe mir die Aufnahme gekauft und dann einem Puccini-Liebhaber geschenkt. Der schrieb mir ungerührt: Aber ich liebe doch Puccini wegen des Gesangs! Und er hat sie – aus Höflichkeit? – dennoch behalten, die geschenkte CD, und ich ärgere mich bis heute. Wagner ohne Gesang (mit Maazel) hätte ich auch gern gehabt. Und jetzt las ich eine Kritik, die ich als Verriss empfand, einen derart unbedarften, dass ich mich nicht scheute, die CD gerade deswegen zu bestellen. Hier ist die Kritik (deren Quelle ich absichtlich verschweige), und weiter unten die Abbildung der CD, die ich mit den urteilenden Worten vergleichen will.

Kritik Wagner a Kritik Wagner b

Nein, „unbedarft“ ist nicht das richtige Wort für einen Verriss in diesem Ton, es ist eine dilettantische Argumentation, die hochtrabend daherkommt, man könnte sie blindlings auf Werke völlig anderer Provenienz übertragen. Sie passt immer und nie. Sie lässt sich nicht recht widerlegen, weil sie gar nicht auf realen Eindrücken beruht.

Die Töne  wirken in manchen, gerade getrageneren Passagen nur aneinandergereiht, was an den speziell in langen Linien oft fehlenden oder abbrechenden Spannungsbögen liegt; die Musiker gehen zu sehr von einem Ton weg, sodass die Verbindung zum nächsten fehlt – etwa in „Wotans Abschied“ und „Feuerzauber“.

Was für ein pauschales Daher-Gerede! Ganz am Schluss der Rezension kommt es ans Licht, wie man diese CD im Auto hört („das könnte unfallträchtig sein“). Mein Rat: zunächst das Fortissimo prüfen (Tr.5 Gewitter), dann erst ab Anfang der CD: die Kontrabässe auf dem Meeresgrunde an der Grenze zum Unhörbaren, – und siehe da! das Fagott in Takt 5 wird nicht „dominant“ erscheinen, es wird auch nicht erst mit den Hörner in Takt 17 einsetzen, wie das kritische Ohr behauptet. Ein Blick in die Partitur könnte helfen. Wenigstens wenn man – als seriöser Kritiker – endlich nicht mehr im Auto sitzt.

Rheingold Partitur

Kritik an Wagner Instrumental (bitte anklicken)

Nehmen wir’s mal genauer und schauen ein wenig in den Klavierauszug: Wotans Abschied will hier (s.u.) zum Feuerzauber übergehen, Zeile 2, dies ist bereits der Anfang von Tr.10. Dort aber, wo das Feuer voll zur „immer helleren Flammenglut anschwillt“ und  schließlich „Wotan mit wildem Flackern“ beleuchtet, so dass sein Zauber Wirkung zeigen könnte (s. u. die zweite Klavierauszug-Seite), da hat die CD-Auswahl längst den Sprung in den „Siegfried“ geschafft, und zwar in diesem Tr.10 genau bei 1:50. Man muss das mal hören und sehen, um beurteilen zu können, ob die von der Kritik gedroschene Phrase vielleicht doch einen Hauch von Sinn hat: „die Musiker gehen von einem Ton weg, sodass die Verbindung zum nächsten Ton fehlt“. Nein, nichts fehlt, es ist ein leeres Klischee!

Wotans Abschied Feuer Loge Wotans Feuerzauber Noten

Unsinn und Klischee allenthalben. Auch wenn eine Art Lob kommt, es ist ein vergiftetes:

Zu loben sind die durchaus schönen Solistenleistungen der Musiker und die meist recht gute Intonation. Gleichwohl spielt die Staatskapelle wenig durchhörbar, sehr flächig; oft kann man einzelne Register etwa der Streicher kaum voneinander unterscheiden. Das scheint gerade für Wagners so (im wahrsten Sinne des Wortes) vielschichtige Musik ungeschickt und erzeugt einen kompakten, etwas dumpfen, aber immerhin stets warmen Klang.

Die Register der Streicher – wer bisher dachte, dass sie möglichst homogen spielen sollten, liegt falsch, – er lernt einen kompakten Klang kennen, der stets sehr warm ist, aber leider auch dumpf. Das kann eigentlich nur an den Ohren liegen. Verbunden mit dem denkbar musikfeindlichsten Ansatz der Kritik, nämlich – eine „Referenzaufnahme“ mit den Berliner Philharmonikern als absoluten Maßstab anzulegen, bevor man sich überhaupt den Lautsprechern zuwendet. Ohne einen weiteren Ton gehört zu haben, kann man risikofrei konstatieren:

Nichts ist wirklich schlecht, viel wirklich schön.

Wenn das kein Lob ist! Ein vernichtendes. Bis hin zu dem erwähnten (heuchlerischen) Ratschlag, man solle die CD  sicherheitshalber nicht im Auto hören, da die dynamische Bandbreite der Partitur von Hansjörg Albrecht und seinem Klangkörper voll und durchaus fein ausgeschöpft wird, – „voll und durchaus fein“. Ansonsten kann der Klangkörper aber gar nichts dafür, denn die Bandbreite kommt weniger von der Interpretation, es handelt sich um eine „natürlich schon von Wagner entsprechend angelegte“. Wer hätte denn das gedacht!?

Doch im Ernst: auch die dürftigste Kritik kann einen etwas lehren. Betrachten wir doch nochmals die schon zitierte Phrase: dass die Töne in manchen, gerade getrageneren Passagen nur aneinandergereiht wirken usw., siehe oben. Schon als Erstsemester an der Hochschule lernt man, was bei der Melodiegestaltung zu beachten ist, die Linie besteht nicht aus toten Punkten, die Linie soll leben:

Wagners melodische Spannung

Ich kann den ersten Takt, wenngleich er absteigt, auf den zweiten hin spannen, ja, mit einem Crescendo und ganz dichtem Anschluss über den Taktstrich hinweg, mit leichtem Druck auf dem hohen A, diminuendo auf der dann absinkenden Linie. Die nächsten Takte genauso, aber um eine dynamische Stufe angespannter. Es muss allerdings noch Luft bleiben, für weitere Steigerungen. – Ich könnte es auch anders gestalten, nämlich den ersten Takt stärker beginnen und abfallen lassen, den zweiten jedoch, der durch die Tonhöhe schon stärker wirkt, so hauchzart ansetzen, als sei er viel zu verletzlich für diese Welt; dann erst wachsen lassen zum dritten Takt mit dem Fis. Und dieses weiterdenken – über den Abgrund der Pausen hinweg! Es gehört ja zu den Binsenwahrheiten des klassischen Unterrichtes: immer über den Taktstrich hinweg spannen! Nie die Melodie abfallen lassen, immer beobachten, wo ihr dynamisches Ziel liegt! Dann aber kam die neue barocke, historisch informierte Interpretation, und man musste diese Marotte mühsam zurückbilden: nun galt eine Betonungsordnung innerhalb des Taktes, er hatte starke und schwächere Zeiten. Der Geiger, der mit Inbrunst weiterhin von der letzten Zählzeit des Taktes zur ersten des nächsten Taktes crescendiert, war plötzlich fehl am Platze.

Da dies aber nicht unbedingt auch für die romantische Musik gilt, darf man das Klischee weiterhin ungestraft propagieren. Und so geschieht es auch hier. Falsch ist es ja nicht, es ist – wie gesagt – eine Binsenweisheit. Die Töne dürfen doch nicht einfach aneinandergereiht werden!! Genau! Oder man schaut einfach mal, was der Komponist selbst notiert hat. Vielleicht hat er die dynamische Gestaltung gar nicht so sehr den Interpreten überlassen?

Wagner Brünhildes Motiv

Sie sehen, welche Möglichkeit der Melodiegestaltung Wagner gewünscht hat: piano beginnen, crescendo zum Beginn des nächsten Taktes und wieder zurück ins piano. Und was für ein Ungestüm in dem Zwischenraum der Pause, molto cresendo bis hin zum fortissimo! Und den (damals?) geübten Brauch hat mein Vater beim Dirigierstudium eingetragen: „accellerando“ und eine Fermate auf dem letzten Achtel des Taktes. Die neue Phrase der Melodie dann genau wie die erste, die Pausenfüllung ebenfalls. Dann aber die weiterführenden Phrasen über alle Taktstriche hinweg, bis unten auf die Seite, piano – crescendo rallentando – forte, a tempo – più forte – und weiterhin wachsen bis zum fortissimo (auf der nächsten Seite). Hören Sie doch die Stelle im „Original“ der Weimarer: Tr.9 ab 0:51 (bis etwa 2:17), dann haben Sie des Rätsels Lösung: die Kritik versteht nicht, weshalb Wagner in dem Moment, wo die Melodie den dritten Takt der Phrase erreicht, jeweils wieder im piano ansetzen lässt (der „Abgrund der Pause“ s.o.) und nach dem erreichten fortissimo noch einmal! Jaja, das klingt wie ein Anfängerfehler, das wollen wir mal in die Kritik schreiben. Die Solo-Oboe macht es dann zwar richtig, und überhaupt es geht über mehrere Takte hinweg zum ff Höhepunkt, tut mir leid, jetzt steht es schon anders da in meiner Kritik und macht sich doch recht fachkundig. Im übrigen weiß man doch, dass dieser Dirigent von Haus aus Organist ist und außerdem das Münchner Bach-Orchester leitet: da hat man halt so eine starre, barocke Melodieauffassung.

Typisch für eine Kritik, die soviel Überflüssiges aneinanderreiht (z.B. dass eine Symphonie von Wagner ein „Desiderat“ der Dirigenten war, die nicht an Opernhäusern tätig waren), typisch, den schönen Text nicht zu erwähnen, den man im sorgfältig gestalteten Booklet findet. Wer selber glaubt, schreiben zu können, hält sich mit anderen Schreiberlingen nicht auf. Darum sage ich: sehr lesenswert! Und diese Autorin ist ohnehin bemerkenswert (s.a. hier!). Beginnen Sie einfach hier mit der ersten  von siebeneinhalb spannenden Seiten!

Wagner Weimar Text Text von Dr. Eva Gesine Baur

Ich freue mich über diese CD. Auffindbar bei OEHMS CLASSICS. Oder hier: niemand muss die Katze im Sack kaufen (oder mit Nachhilfe einer Kritik). Einfach reinhören!

Nochmals Bach b-moll (EE2018)

Zur Formbildung

Die Wiederkehr eines Abschnittes aus der Mitte des Stückes am Ende – einen Ton höher transponiert – ist zu auffällig, als dass man es nur nebenbei konstatieren sollte. Bach macht mit dem Orgelpunkt auf dem hohen As bzw. später auf dem hohen B ausdrücklich darauf aufmerksam. Obwohl das, was jeweils vorausgeht unterschiedlicher nicht sein könnte: links ab Takt 31 das vollständige Thema (rot gekennzeichnete Töne), rechts ab  Takt 70 (bis 74) ein thematisches Gebilde in b-moll, das ich als „Corelli-Anspielung“ bezeichnen möchte. Die Bass-Dominante F bleibt als Orgelpunkt stehen und erzeugt in den Oberstimmen eine „Prolongation“, eine Art Kadenz, die in Takt 77 vom hohen Orgelpunkt auf B beantwortet wird und zur quasi-wörtlichen Übernahme des früheren Formteils (Takte 37ff) führt:

Praeludium b-moll aa        Praeludium b-moll bb

Was ist daran fragwürdig? Im ersten Fall (links) antwortet die Stelle auf ein vollständiges Themenzitat, im zweiten Fall (rechts) auf ein „thematisches Gebilde“, das (nur für mich?) wie ein Corelli-déjà-vu wirkt; danach ein harmonischer Stillstand nebst melodischer Prolongation bzw. „Kadenz“. (Corelli soll übrigens heißen: Anspielung auf sein“Fatto per la notte die natale“, aber welche Stelle des Concertos genau?).

Der Analyse empfohlen seien auch die beiden cluster-ähnlichen Akkorde in den Takten 45 und 46 desselben Praeludiums:

Praeludium b-moll Cluster

An diesem Punkt möchte ich eine Anregung von Erwin Ratz vorwegnehmen, die sich auf die Fuge derselben Nummer BWV 891 (b-moll) bezieht, aber auch hier bedacht werden könnte (mit Blick auf Takt 31, wo eine Art Durchführung auf „unguter“ Akkordgrundlage beginnt, nämlich einem Quartsextakkord der Tonika, changierend mit dem Dominantseptakkord):

Und gerade dort, wo normalerweise unter allen Umständendie Tonika zu erwarten ist, am Beginn der letzten Durchführung (Takt 80), steht der Sekundakkord der Dominante von As-Dur. Von dieser, von allem Gewohnten abweichenden Disposition aus können wir uns dem Sinn des Stückes nähern und einen Schluß ziehen, was Bach damit ausdrücken wollte. Immer wieder müssen wir darauf hinweisen, daß eben bei Bach und Beethoven die Form Träger des Ausdrucks wird und erst aus ihrer Erkenntnis sich uns der Sinn (Inhalt) erschließt. Allerdings gilt auch hier der so bedeutsame Ausspruch Goethes: „… aber die Form ist ein Geheimnis den meisten.“ Schärfer kann ein Punkt nicht als Höhepunkt hervorgehoben werden, als es hier für den Takt 80, den Beginn der dritten (letzten) Durchführung, geschieht. Und wenn nun etwas so gänzlich Unerwartetes sich ereignet, so müssen wir den Verlauf bis zu diesem Punkt unbefangen, aber mit wachem Gefühl, an uns vorüberziehen lassen. Dann enthüllt sich uns allmählich der Sinn dieser grandiosen Entwicklung.

Quelle Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre / Universal Edition Wien 1968 (Seite 265)

Ich habe mehr zitiert als notwendig, um die Ermutigung spüren zu lassen, die in solchen Worten liegt. Die Weiterführung des Zitates müsste bei Besprechung der Fuge  b-moll erfolgen, die auch die Analyse von Erwin Ratz mit der von Ludwig Czaczkes kontrastieren sollte.

(Fortsetzung folgt)

s.a. hier unter Zeichen & Wunder…

Beethoven op.130 (Übung)

Zum Einstieg Reminiszenzen

Zum Studium

Man muss sich damit abfinden: es macht keinen Spaß, die zweite Geigenstimme zu üben! Es macht mental nur einen Sinn, wenn man alles studiert (schon präsent hat), was um einen herum passiert. Das gilt für die Bratsche genauso. Und für das Cello selbstredend auch.

Zum Gedenken

Beethoven Köln Zyklus 88-89 Beethoven Köln 88/89 Alban-Berg-Quartett

Damals habe ich peu-à-peu alle CDs mit dem Alban-Berg-Quartett erstanden, auch die große Gesamt-Partitur aller Beethoven-Streichquartette (Breitkopf & Härtel). und ganz allmählich auch die wichtigsten Bücher (auch die englischen: Basil Lam, Martin Cooper), das beste, das vieles andere an Literatur überflüssig macht, stammt von Gerd Indorf (Rombach Verlag Freiburg i.Br. 2007).

Zufällige Kombinationen

(Auryn Quartett, CD-Kommentare, Missa solemnis 2015 Harnoncourt, alte Adorno-Lektüre)

Im Bücher- und Notenschrank meines Vaters kannte ich mich früh ganz gut aus, zumal er so kurz nach dem Krieg nicht extrem umfangreich war. Aber die späten Quartette Beethovens waren darin zu finden und gaben mir Rätsel auf. Aus den Klaviersonaten kannte ich „bessere“ Themen… Ich habe die Sache auf sich beruhen lassen, 21.IV.1921, er war also zu der Zeit kaum 5 Jahre älter als ich… (*1901, 2 Jahre vor Adorno, sage ich heute). Und die Partituren, sicher seinerzeit antiquarisch gekauft, wiesen keinerlei Gebrauchsspuren auf. Im Anfang hier die gleiche „Zerrissenheit“ wie in op. 130! Das war nicht so mein Fall. (Heute tröste ich mich: es war damals praktisch unmöglich, diese Werke zu hören! Das einzige, was ich am Radio mit Partitur verfolgt hatte, war die 8. Sinfonie, etwa 1955.)

Beethoven op 132 Artur1921 Beethoven op 132 Artur1921 Anfg

An der Kölner Hochschule bei Günther Kehr haben wie das Quartett op.95 in f-moll studiert, etwa 1964. (Der Primarius war derselbe wie heute!!!! Hanns-Heinz Odenthal.) Die große Partitur aller Streichquartette Beethovens habe ich mir im Dezember 1988 zugelegt, im Januar ’89 das Büchlein von Basil Lam:

Quartette Gesamt op 130  Basil Lam

Ein ferner Freund

Jürgen Giersch

Ich kenne ihn wenig. Wir haben uns vielleicht viermal im Leben gesehen. Mit seinem Zwillingsbruder Klaus (er sieht ihm nicht ähnlich) bin ich seit etwa 1961 befreundet. Er hat damals dieselben Fächer (Schulmusik + Germanistik) und auch bei demselben Geigenlehrer studiert (Franzjosef Maier), später im gleichen Ensemble mitgespielt (Collegium aureum). Wir haben also auch oft bei den gleichen Schallplatten-Produktionen und Tourneen mitgewirkt. Zum Beispiel auch bei der Aufführung des Oratoriums „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn in Wien, März 1982.

Schöpfung Klaus & JR 1982 Klaus Giersch, Jan Reichow 1982

Und immer mal hat er mich informiert, was sein Bruder macht, der Maler, hat mir einen Katalog geschickt, erwähnt, dass die gemeinsame Jugend immer wieder Thema der Bilder sei, oft in düsteres Licht getaucht. Mich interessierte das, zumal es zu den beiden Brüdern gehörte wie auch zu mir. Meist wird die eigene Jugend unglaubwürdig geschönt, wir aber erinnerten uns alle mit kritischer Tendenz. Zumal es in der Rückschau so weit in die Nachkriegszeit rückte, bis es unangenehm wurde, und in den 60er Jahren trat die allmähliche Distanzierung von der Eltern-Generation ins Bewusstsein, wurde am Ende radikal. Wenn auch nicht immer mit Worten…

Giersch Jürgen 2014,7 Schulklasse 28 x 17 kl Schulklasse 2014

„Unter den Dauerläufern müßten auch wir beide sein, denn es war in dem Zeltlager, von Elze aus fuhren wir  an die Kieler Förde.“ (J.G. an K.G.)

Giersch 2017, 6 Frühsport am Zeltlager 73 x 136 Frühsport am Zeltlager 2017

„Noch einmal zum Thema Freiburg. Als Bild das Konzerthaus bei Nacht,- vor einigen Jahren war es die architektonische Attraktion Freiburgs.“ (J.G.)

Giersch 2003,8 Konzerthaus 90 x135 Konzerthaus 2003

Freiburg Konzerthaus1280px-FR-KTS_001 Freiburg (Foto: Joergens.mi Wikipedia)

Jürgen Giersch 1985,3 Meer bei Sturm 63 x 90 verk. Meer bei Sturm 1985

Ein sehr merkwürdiges Bild mit dem Titel „Bahnhof“ – irre ich mich oder ist es tatsächlich ein Ort ohne Wiederkehr?

Jürgen Giersch Bahnhof Ist es Köln?

Ich bin mir nicht sicher, ob man diese Bilder deuten, eine Aussage hineinlegen soll. Der Maler selbst schrieb über die Entstehung seiner Bilder eher lakonisch:

Jedes der Bilder ist angeregt durch eine erlebte Szene oder Landschaft. Eindrücke dieser Art wurden im visuellen Gedächtnis gespeichert, dort aber über längere Zeit umgeformt. Eine später,- oft erst nach Wochen oder Jahren,- gefertigte Skizze zeigt dann die für das fertige Bild wichtige Komposition, d.h. die Anordnung in der Fläche. In der Phase der Realisation werden die Farben und die Texturen eingefügt, die die Atmosphäre des Bildes bestimmen. Es wurden weder bei der Themenwahl noch bei der Ausführung Fotos verwendet. (…)

So zeigen die Bilder bestimmte, benennbare Gegenden, Gebiete, Räume oder Personen, ohne dass diese einfache Imitationen sind. Die dargestellte Welt erscheint als abgerückt von der optisch-physisch erfassten, wie es in Träumen geschieht, in denen aber die Illusion von Wirklichkeit, oft sogar beklemmend stark, erhalten bleibt.

(Jürgen Giersch)

Der folgende Text, der sich vielleicht aus einer entgegengesetzten Situation erklären lässt, entstand vielleicht, weil sich ein Bild nicht formen lassen wollte, und trotzdem muss man sich den Maler als wachen Beobachter vorstellen, der mit den Augen denkt. Eine Fülle von Szenen, die keine Deutung zulassen, obwohl expressis verbis an die Vergangenheit des Ortes erinnert wird. Da es sich um einen realen Platz in Freiburg handelt, habe ich danach gesucht, und einen Entwurf gefunden, den man nun mit Leben (oder mit Worten) erfüllen kann. (JR)

Freiburg Planung Platz Freiburg PdAS Freiburg: der geplante Platz

Erinnerung an den Sommer: Der neue Platz / Von ©Jürgen Giersch

Der Besucher, der an einem Sommerabend aus dem Stadtinneren kommt, erblickt hinter hohen Gebäuden plötzlich ein großes schwarzes Feld, worin schmale Bänder leuchten, die Kanten von flachen Podesten, die im Dunkeln liegen. Aus großer Höhe fällt an vielen Stellen ein Lichtschimmer auf die weite Fläche, ungestört bleibt das Dämmern darauf, wie es früher in einer Diskothek herrschte. Nach Westen hin, wo noch der Horizont hell ist, verstellt eine senkrechte schwarze Wand den Blick, als habe der Platz sich dort aufgerichtet. Aus dieser Fläche starren zahllose scharf begrenzte, in kaltem Licht leuchtende Rechtecke heraus, genügend entfernt, so daß ihr Schein die weiche Dämmerung auf dem Platz nicht stört. Und doch wird der Blick abgelenkt auf die schwarze, von Blitzen geschlitzte Wand dieses gläsernen Meteors, aus der die Finsternis und Kälte des Universums herab weht. (Neue Uni-Bibliothek). Desto weicher ist der Schimmer der Lampen auf der Fläche aus hellem Sandstein, die noch warm ist wie eine Wiese, auf die die Sonne schien.

Auf ihr liegen, verteilt in Gruppen viele junge Menschen. Sie lauschen auf Musik von Südamerikanern, die auf Trommeln schlagen und zur Gitarre singen. Auch sie, kauernd, sitzend, liegend, wärmen sich auf dem steinernen Boden. Man sieht fast nur den Umriß von Oberkörper und Kopf im Gegenlicht von den weit entfernten grellen Straßenlampen. Andernorts liegen Füße und Beine in einzelnen hellen Zonen des Lichtes, das von hohen Masten herab milde auftrifft. Manche junge Leute lassen sich absichtlich in diesen ausgeleuchteten Flecken nieder, wo sie schon aus wenigen Metern Entfernung als ungenau begrenzte Formen erscheinen, die dunkle Schatten in den umgebenden Lichtschein werfen. Gesichter von Spaziergängern leuchten für Sekunden auf, wenn sie diese Lichtkegel passieren und verschwinden sofort im Dunkeln.

Auf dem Platz gibt es auch Auftritte wie auf einer Bühne. Ein Feuerschlucker schwingt an Schnüren sprühende Dosen, bis sie einen leuchtenden Kreis um ihn bilden, ab und zu nimmt er unauffällig einen Schluck aus einer Flasche und speit eine tuchartig sich entfaltende Flamme aus. In deren Licht glitzern die noch immer aufsteigenden Fontänen am Wasserplatz, und im Halbdunkeln rennen dort Kinder hindurch. Skateboard-Fahrer beanspruchen die eine Längsseite des Platzes, sie üben ihre Sprünge und Drehungen in einer Gasse zwischen den Liegenden; das Grollen der eisernen Räder auf den großen Fliesen begleitet die Musik, man hört das Krachen, mit dem ihr Fahrzeug die Fahrt auf einer erhöhten Kante fortsetzt. Man sieht sie unter den weichen Lichtkegeln huschen, während des Anlaufs drehen sie sich um 360 Grad, scheitert einer an der Kante, so tut er sich nichts, sein Brett bleibt liegen, aber er rennt geduckt und lautlos weiter…

Freiburg Synagogenplatz PdAS1

An der Schmalseite des Platzes ziehen ab und zu die großen Fenster der Straßenbahn langsam vorüber; sie scheinen zu zögern wie die Augen einer vornehmen Dame, die trotz ihrer Eile auch einen Blick auf das geheimnisvolle Dunkel des Platzes werfen will.

Vor allem Fremde sind hier, aus Syrien, England, Holland, der Schweiz, aus Frankreich, Japan und Südamerika, die Einheimischen fühlen sich angenehm fremd, als seien sie auf einem anderen Kontinent und staunen über ihren Platz. Ein großer Abend, zu dem sie alle beitragen, auch die Mädchen, die in Sommerkleidern an den Podesten sitzen oder mit aufgestützten Ellenbogen wie am Strande liegend den Jungen zuschauen, die auf ihrem Kunst-Fahrrad üben, das sich auf das Hinterrad erhebt oder in zwei plötzlichen Sprüngen sich um sich selbst dreht und weiterfährt, als wäre nichts gewesen.

Ein Akrobat tritt auf. Vor dem großen Podest an der Nordseite steht sein Reifen, zwei Meter hoch, aus schwarzem Kunststoff, diesen Mann um einen Kopf überragend. Er gibt ihm einen Stoß und versetzt ihn so in Rotation. Der Reifen dreht sich langsam, wie ein Kreisel aufrecht stehend. Den Mann schützt ein schwarzes eng anliegendes Trikot ähnlich wie ein Taucheranzug, an Knie und Ellenbogen hat er Verstärkungen. Geschickt greift er mit beiden Händen in den Reifen und stellt sich hinein, sich mit ihm drehend. Dann beschleunigt er dessen Rotation durch Schwingungen seines muskulösen Körpers, er breitet Arme und Beine allmählich aus, bis er die Figur bildet, die Leonardo gezeichnet hat: Der Mensch innerhalb des Zirkels. Die Umdrehungen werden schneller, der Reifen hält sich wie ein Kreisel selber im Gleichgewicht, so daß der Mann nun, die Arme senkrecht emporstreckend, sich mit dem Reifen um sich selbst drehen kann, ohne sich mit den Händen festzuhalten. Allmählich wird die Rotation langsamer, die Hände fassen wieder zu, der Reifen stellt sich schräg und beginnt in enger Kreisbahn zu rollen, so daß der Kopf des Mannes bald oben bald unten ist. Je langsamer er rollt, desto schräger steht er und desto enger wird die Kreisbahn und schließlich schwappt er nur noch auf und ab, immer noch auf der Kreisbahn, die nun kaum größer ist als der Umfang des Reifens, so daß der Körper nahe am Boden schwebt. Starker Beifall rauscht von den Podesten. Da erhebt sich der Mann geschmeidig wie eine Katze mitsamt dem Reifen und steigt aus ihm aus, gibt ihm einen Schubs und läßt ihn eine Zeit lang alleine sich drehen und schaut ihm zu, als wolle er ihm den Applaus gönnen, der lange dauert. Dann steigt er wieder hinein und beschleunigt die Rotation, aufrecht stehend mit ausgebreiteten Armen, diesmal aber so lange, bis bei der hohen Geschwindigkeit der Reifen eine schimmernde Kugel bildet und der Mann kaum noch zu erkennen ist. Großer Applaus, aus dem der Artist dann bei abflauendem Tempo noch einmal in die Kreisbahn einlenkt und hier den Reifen derart steuert, dass dieser sich immer flacher senkt und der Mann mit dem Nabel dicht über dem Boden schwebt. Dann richtet er sich plötzlich daraus samt Reifen empor und entfesselt noch einmal das Rauschen des Händeklatschens… Man bestaunt danach diese Ellenbogen und Knie, die so nahe an den Steinplatten vorüber streiften, man bewundert mit Respekt den Körper, der dieses labile Gerät, das alleine nicht eine Sekunde stehen könnte, in so viele verschiedene Arten von Bewegung bringt. Er hält – in fremder Sprache – eine kurze Rede und legt dann den Reifen am Platz nieder. Und schon nähern sich Menschen, um Münzen in den Kreis zu legen, meist sind es ältere Männer, die kommen, Mütter schicken ihre Kinder mit dem Honorar, man umringt ihn, Fragen stellend, aber bald verlaufen sich die Bewunderer, der Mann setzt sich auf eine Stufe des Podests bei den Zuschauern. Und wie die Wand eines Steinbruchs, schwarz, sieben Stockwerke hoch, steht der Glasbau am Rande des Platzes, und immer stärker gleißen hinter seinen Luken die Tausende von Neonröhren, in jedem Stockwerk anders gewinkelt. Vom Platz aber steigt das Gemurmel wie ein Rauschen ferner Brandung.

Das Wasserbecken an der Südseite ist dunkel, hier gibt es keine Lampen, nur glimmende Flecken vom Grund her, in der stillen Fläche spiegeln sich die Lichter. Das Wasser hat aufgehört zu strömen, es quillt nicht mehr wie am Tage über seine Kanten, es liegt jetzt unbewegt in seinem Becken exakt auf dem Grundriss der einst hier errichteten Synagoge. Die Wasserfläche erscheint wie ein Gleichnis jenes Kelches mit Millionen und Milliarden Tränen, die geflossen sind wegen der Morde und Greuel, die die Nazis an diesem Ort verübten. Dieses Becken wird an jedem heißen Tag ohne Bedenken von den Kindern in Besitz genommen. Sie waten vorsichtig, sie gehen allein oder zu zweit, sie rennen hindurch, mit Schuhen, mit Strümpfen oder barfuß. Manche stehen außerhalb und bewundern das Wasser, wie es über die äußere Kante strömt und prüfen nach, wie es im umlaufenden Spalt im Boden verschwindet. Manche gehen langsam auf dem Rand entlang, ein etwas älterer Junge fährt mit einem Wackel-Skateboard auf dem Rand entlang, wobei er geschickt um die vielen rechten Winkel, mal nach links, mal nach rechts steuert, denn die Form des Beckens ist ein breitflächiges Kreuz. Ganz kleine Kinder planschen sitzend, ihr Vergnügen entlockt ihnen kurze Schreie, andere verlangen nach der Hand der Mutter, ehe sie die Durchquerung wagen. Abenteuer suchend tauchen einige Jungen bäuchlings den Kopf unter Wasser und erproben, wer am längsten die Luft anhalten kann. Es kommen auch junge Mädchen und durchschreiten das Becken, ohne das Handy vom Ohr zu nehmen.

An einem heißen Nachmittag stand zwischen den planschenden Kindern ein älterer Mann im Wasser, in langer grauer Hose, mit ausgebreiteten Armen und aufwärts geöffneten Handflächen. Es schien auf den ersten Blick einer jener Artisten zu sein, die starr verharren und ein Standbild darstellen. Ab und zu senkte er die Arme und hob sie dann wieder. Manchmal drehte er sich wenige Grad um die vertikale Achse. Wie in Zeitlupe schloß er die Hände und öffnete sie wieder. Er trug einen breiten weißen Schal um die Schultern und eine kleine flache Kappe, woran zu erkennen war, daß es ein Jude war, der in diesem Brunnen betete. Er flehte eine halbe Stunde lang zum Himmel empor mit diesen langsamen Bewegungen; danach aber beugte er den Kopf bis in das Wasser hinab, nahm Wasser mit den Händen, versprühte es und stieß laute Schreie aus, Klage um die gemordeten Menschen seines Volkes…. Danach stand er wieder bewegungslos, versunken in die Andacht. Aber ein paar freche Jungen begannen nahe an ihm vorbei zu rennen, um ihn zu bespritzen. Sie streiften dabei auch mit ihren Händen an den seinen entlang. Als er es bemerkte, drehte er sich langsam zu ihnen um und schaute sie lange an, ohne ein Wort zu sagen. Da standen auch sie bewegungslos. Wenig später kam ein hochgewachsener junger Mann zu ihm, der ebenfalls die flache Kappe trug, legte den Arm um seine Schultern und blieb mit ihm zusammen im Gespräch.

Im andern Teil des Platzes steigen aus dem Boden die Fontänen. In diese laufen die Kinder hinein, manche in ihrer Kleidung, andere mit Badezeug. Wenn also eine Familie zu Besuch hier ist, so gehen sie erst gar nicht in die Badeanstalt. Die Fontänen bilden den Ersatz, Jungen lassen sich von unten her duschen, ein kleines Mädchen hielt ihre Hand auf den Scheitel der Wassersäule, die wohl wie ein lebendiges Tier unter ihrer Hand herumwühlte. Es kam eine Dreijährige mit ihrer schlanken Mutter und schaute zu, bis die Mutter ihr einen Weg zwischen den Wassersäulen zeigte. Vorsichtig wie zwischen senkrecht aufgestellten Schlangen schritt die Kleine dann in das nasse Feld und kehrte wieder um, endlich wagte sie die Durchquerung. Dann zog die Mutter ihr das rosa Kleidchen und die Sandalen aus. Die Jungen machten es vor, was man mit den Wassersäulen macht: drauftreten, sie mit halbem Fuß in flache Fontänen verwandeln, sie im Galopp umrennen. –

Freiburg Synagoge 1024px-Einweihung_Gedenkbrunnen-Freiburg-2.8.2017 Markus Wolter

Freiburg Synagogenplatz – zu einem anderen Zeitpunkt (Foto: Markus Wolter)

Die letzte Seite eines Ausstellungskatalogs von 1990

Jürgen Giersch Katalog + Bio

Nachtrag Zur Frage „Ist es Köln?“ habe ich authentische Nachricht bekommen:

 Was den Titel des letzten Bildes betrifft, so heißt er eigentlich „Unter der Autobahn“, 2005 – gemeint ist die Bahnstrecke, die unter einer Schnellstraße hindurch führt, – links daneben ein kleiner  Spielplatz,- hier ging mein  (fast) täglicher Marsch ungefähr dreißig Jahre lang vom Bahnhof Emmendingen ins Goethe-Gymnasium vorbei. Das Bild  bescheinigt seinem Maler, dass er über die manchmal beklemmende, manchmal langweilige oder lastende Viertelstunde dieses Anmarsches  zum Arbeitsplatz dem Weg dennoch etwas abgeguckt hat, besonders die Verschränkung der Strecken, und das Echo, das der geschraubte Aufgang zur Schnellstraße in der Rutsche auf dem Spielplatz findet. (J.G.)