Archiv für den Monat: November 2016

Wie die Vögel fliegen

Oder: wie Dichter den Vogelflug deuten

Hölderlin:

Wieder ein Glück ist erlebt. Die gefährliche Dürre geneset,

Und die Schärfe des Lichts senget die Blüte nicht mehr.

Offen steht jetzt wieder ein Saal, und gesund ist der Garten,

Und von Regen erfrischt rauschet das glänzende Tal,

Hoch von Gewächsen, es schwellen die Bäch und alle gebundnen

Fittige wagen sich wieder ins Reich des Gesangs.

Voll ist die Luft von Fröhlichen jetzt und die Stadt und der Hain ist

Rings von zufriedenen Kindern des Himmels erfüllt.

Gerne begegnen sie sich, und irren untereinander,

Sorgenlos, und es scheint keines zu wenig, zu viel.

Denn so ordnet das Herz es an, und zu atmen die Anmut,

Sie, die geschickliche, schenkt ihnen ein göttlicher Geist.

Quelle Friedrich Hölderlin. Aus: Stuttgart hier

***

Stifter:

Und so schritten sie nun mit einander fort; über Hügel zu Hügeln, über Felder zu Feldern – und oft konnte man den Jüngling sehen, wie er an einem Wiesenbache den Hund wusch und ihn mit Gräsern und Laubwerk troknete – oft, wie sie ruhig neben einander gingen – und oft, wie der Hund neben seinem Herrn stand und die Augen zu ihm empor richtete, wenn dieser auf einer Anhöhe stille hielt und weit und breit über die Auen schaute, über die langen Streifen der Felder, über die dunkeln Fleken der Wäldchen und über die weißen Kirchthürme der Dörfer.

An dem Wege des Wanderers wallten oft die Wellen des Kornes, das jemanden gehören mußte, Zäune umgaben es, die jemand gezogen haben mußte, und Vögel flogen nach diesen und jenen Richtungen, wie nach verschiedenen Heimathen.

Quelle Adalbert Stifter. Aus: Der Hagestolz hier

***

Benn:

(…) so fallen die Tage,

bis der Ast am Himmel steht,

auf dem die Vögel einruhn

nach langem Flug.

Quelle Gottfried Benn: Aus „Ach, das ferne Land“ Statische Gedichte / Arche Zürich 1948

(Fortsetzung folgt)

Dank an JMR für Hölderlin und Stifter

 

Weinen bei Musik?

Tränen lügen nicht, vielleicht, aber wenn ein Schlager das behauptet, ist das so ähnlich, wie wenn ein Kreter versichert, alle Kreter lügen.

Ich notiere es also, obwohl mir der rechte Glaube fehlt und ich mich, wenn es mir passiert, eher elend fühle. Es beweist ja nichts, auch wenn es wiederkehrt. Ein Déjà-vu, mehr nicht. Immerhin habe ich lange gebraucht, um es abzuwerten.

Aber wenn andere davon sprechen, nehme ich es weiterhin ein bisschen ernst.

Thomas Hengelbrock ist beeindruckt von der Akustik der neuen Elbphilharmonie. Sie haben dort den Anfang der ersten Sinfonie von Brahms gespielt.

Ein unglaublicher Moment. Wir wussten sofort, mit dem ersten Paukenschlag: Das wird fantastisch. Danach haben wir den Schluss des letzten Satzes gespielt, den großen Choral, alle Bläser, alle Streicher, und es sind jedem im Raum die Tränen heruntergelaufen, wirklich jedem.

Quelle DIE ZEIT 3. November 2016 Seite 42 „Dieser Saal ist ein Meisterwerk“ Thomas Hengelbrock, der Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, über Musikertränen, trocknende Hölzer und das Geheimnis des Eröffnungskonzertes. (Im Gespräch mit Christine Lemke-Matwey).

***

Marina Abramović auf die Frage: Was wird von Ihrer Kunst bleiben?

Ich habe einen Raum geschaffen, in dem Vertrauen entsteht, weil ich mich verletzlich gezeigt habe. Deshalb können sich die Besucher öffnen gegenüber ihrer eigenen Verwundbarkeit. Ich bin der Spiegel, in dem sie sich sehen. Der Künstler braucht dazu eine energetische Aura. Ein älterer Kritiker hat einmal gesagt: „Ich hasse Künstler, ihr bringt mich zum Weinen.“

Quelle DIE ZEIT 3. November 2016 Seite 43 „Der Körper ist ein Spiegel des Kosmos“ Marina Abramović wird 70 Jahre alt und hat ihre Autobiografie geschrieben. Ein Gespräch mit der berühmten Künstlerin in New York über die Härten des Lebens und darüber, wie man durchhält und dann die letzte Performance angeht. Von Susanne Mayer.

Da oben das Wort Déjà-vu genannt wurde: es trifft nur im stark übertragenen Sinn. Es wird nicht richtiger, wenn ich dafür Déjà-écouté wähle. Die zu Tränen rührende Bewegung beim Musikhören ist etwas anderes, eine Mischung aus unmittelbar-sinnlicher Wahrnehmung (von außen) und dunkel (von innen) gefühlter (hinzugefügter) Bedeutungsschwere. Doch dafür lege ich meine Hand nicht ins Feuer.

Nachtrag 4. November

Natürlich fehlt hier ein Rest Arbeit, und das geht mir nach: Um diesen Blogartikel vollständig nachzuvollziehen, müsste man wissen: von welchem Choral spricht denn Hengelbrock eigentlich? Ist der Höhepunkt nicht die Wiederkehr des Alphorn-Themas, ekstatisch verschlungen mit den Antworten der Flöte usw.? Es lässt mir keine Ruhe, hatte ich nicht sowieso mal wieder vor, mir über Choralmelodien im allgemeinen und im besonderen Luft zu machen, aber eher bezogen auf Bach und die neue Orgel-CD mit Joachim Vogelsänger? Doch zunächst: welche Stelle meinte Hengelbrock genau? Was liegt näher als die kleine Eulenburg-Partitur:

brahms-choral

Ich gehöre noch zu denen, die aus der Kindheit Posaunenchöre nachhallen hören, vom fernen Friedhof Bethel, oder in Gestalt des einsamen Trompeters vom Turm der Pauluskirche in Bielefeld. Aber um die psychologische Wirkung eines Chorals zu beschreiben, brauchte ich mindestens zwei Seiten Text. Als erstes Stichwort würde ich mir „Feierlichkeit“ notieren. Gemessener Schritt. Blechbläser. Eherne Verkündigung. Streicherklang allein hätte zuviel Verbindlichkeit, menschliche Wärme. Aber ich müsste auch über den Melodieverlauf reden, über die Einfachheit, den Aufbau und die Abfolge der einzelnen Zeilen, ihre Logik. Ihr „So ist es“. Manchmal kommt mir nur eine Zeile des Mittelteils in den Sinn, als gebe sie melodisch einen ganz anderen Aspekt zu bedenken, weit mehr als in den Worten enthalten ist, so dass mich Rührung überkommt, – als rede meine Oma zu mir. Tröstende, liebe, nichtssagende Worte („morgen ist alles wieder gut“).

choral-was-gott-tut

Hier ist es die Fortspinnung der Melodie am Ende der zweiten Zeile: „Er ist mein Gott, der in der Not“, die Quintsprünge abwärts, nach all den Sekundgängen des ersten Teils, darin allerdings eine Quart aufwärts (nach „wohlgetan“), die jetzt aufgegriffen wird. Die Sequenz ist rührend, ja einfältig: Quintfall, Quart aufwärts, Quintfall, quasi geleiert: „Er ist mein Gott, der in der Not“, wobei auch sozusagen aus Versehen der mindere Reim „Not“ auf „Gott“ recht naiv hervortritt. Dann die Konsequenz „mich wohl weiß zu erhalten“, antwortend auf den Melodieteil vor dem Doppelstrich „will ich ihn halten stille“, aber als vorläufig erkennbar, denn der tiefe Zielton includiert eine Modulation, eine Vorläufigkeit, die in der letzten Zeile „drum lass ich ihn nur walten“ in Sicherheit verwandelt wird. Es ist zugleich die leicht abgewandelte Wiederkehr des Anfangs „es bleibt gerecht sein Wille“.

Bei Brahms natürlich ganz anders, da er nicht diesen, überhaupt keinen bestimmten Choral zitiert, nur das Phänomen der Modulation und der kadenzierenden Akkorde in Choralgestalt heraushebt: eine feierliche Demonstration von (Ausblick und) Rückkehr. C-dur noch im Ohr, dann: A-dur / d-moll / B-dur / Es-dur / B-dur / C-dur (mit Vorhalt) / F-dur / ausgehalten, als sei es das Ziel gewesen / G-dur – also doch ein anderes Ziel, nämlich: / C-dur, die Tonart, in der wir uns schon vor dem Choral sicher gewähnt haben, und nun C-Dur-Jubel. Der Choral demnach als letzte Beglaubigung: Ja! der Jubel ist berechtigt und wird noch gesteigert!

Viel Worte für ein einfach zu fühlendes, überwältigendes Hör-Erlebnis: Ankunft! Die Träne fließt.