Archiv für den Monat: September 2016

Zur Diskussion: Varianten bei Bach

D-moll-Partita, Sarabanda

Auf youtube veröffentlicht am 05.03.2013

Pekka Kuusisto performs J.S. Bach’s Partita in D minor for Solo Violin, BWV 1004: Sarabande in the WQXR Café.

Zur Person siehe HIER. Zum Ort siehe HIER (mit weiteren Beispielen).

bach-sarabanda

Zugabe „Als Russland noch ein Teil Finnlands war“

Ich kenne das Lied aus einem der Offenen Singen des WDR (der die beliebte Sendereihe 2004 nach fast 40 Jahren einstellte), ich glaube unter Prof. Herbert Langhans (unvergessen). Pekka Kuusisto ist der erste Geiger, der die Idee des Offenen Singens umstandslos in den Konzertsaal trägt…

Freund Berthold Seliger brachte mich auf diesen Geiger, und er schrieb an einen größeren Verteiler folgende Mail, der ich mich anschließe, ohne genau das gehört zu haben, was er gehört hat:

Ich mach jetzt hier nicht den Konzertkritiker, aber wie
Pekka Kuusisto das geniale Violinkonzert von Ligeti gespielt hat, war
schlicht weltbewegend. Und als Zugabe dann das schwedische
Emigrantenlied aus den 1850er Jahren, ein bewegender Folksong,
eingeleitet mit einer politischen Ansprache des Geigers, der den
Zusammenhang zu heutigen Migrationsbewegungen hergestellt hat. Und daß
nach der Pause noch Beethovens revolutionäre Eroica sehr gut aufgeführt
wurde (auch wenn ich dazu ein paar Anmerkungen hätte...), sollte nicht
unerwähnt bleiben.
Bitte, liebe Musikfreund*innen - wenn ihr diese
Woche Zeit habt und ein paar Euro übrig, versucht alles, die Junge
Deutsche Philharmonie mit Pekka Kuusisto und Jonathan Nott und Ligeti
und Beethoven zu sehen! Ihr werdet es nicht bereuen, versprochen.
Die restlichen Tourneedaten:
 MO 12.09.2016 / 20.00 Uhr Wiesbaden, Kurhaus, Friedrich-von-Thiersch-Saal
 DI 13.09.2016 / 20.00 Uhr Fulda, Schlosstheater
 DO 15.09.2016 / 20.30 Uhr Aix-en-Provence, Grand Theatre
 SA 17.09.2016 / 20.00 Uhr Dresden, Frauenkirche
 SO 18.09.2016 / 18.00 Uhr Köln, Philharmonie und Kölner Philharmonie.tv

Mehr von und über Pekka Kuusisto siehe im VAN-Magazin : HIER !

Musik mit Kunst, Kitsch und Konvention

Ich erinnere mich an die Initialzündung eines Buches, das 1957 herausgekommen war und mit manchen romantischen Träumen aufräumte. Wahrscheinlich liegt hier der Grund, weshalb ich nie Hermann Hesse gelesen habe, aber mich frühzeitig für Robert Musil interessierte. Andererseits weiß ich, dass man mit dem Kitsch-Argument die schönste Kunst fragwürdig machen kann, ohne viel nachdenken zu müssen.

deschner-cover

Wie dem auch sei: kürzlich kam uns beim Vierhändig-Klavierspielen eine Melodie von Gabriel Fauré merkwürdig bekannt vor. Hören Sie selbst, und missdeuten Sie mich nicht: die Attraktivität der jungen Leute übertrifft uns tausendfach; es geht hier nur um Musik bzw. um die Anfangsmelodie, 40 Sekunden genügen:

Nun? Erinnert Sie das an etwas? Ich frage nur die Älteren, aber noch mehr deren Kinder.

Ist es Sandmännchen? Oder nicht? Wenn Sie fragen „Welches Sandmännchen?“, sind Sie reif für diesen Schnellkurs in Sachen Kunst, Kitsch und Konvention.

Übrigens: wenn Sie bei „Dolly“ auf youtube nachsehen, was druntersteht, finden Sie dort auch den Namen Claudio Colombo – wer ist das? Ein Komponist? „Dolly, op. 56: i. Berceuse von Claudio Colombo“.

Schauen Sie noch einmal auf den Titel  unseres Blog-Beitrags und dann auf die Website dieses Urhebers – fast zu schön um wahr zu sein. Ich empfehle insbesondere den Link zur Aria der Goldberg-Variationen. Vermutlich spielt er selbst. Nicht die Spur von Kitsch, das muss man zugeben.

Ist es das „Original“?

Alles Wissenswerte über „Unser Sandmännchen“ in Wikipedia HIER.

Ist es ein Plagiat? Hören Sie doch noch einmal die Berceuse von Gabriel Fauré (oben).

Es ist in beiden Fällen ein Gang von der Quinte des Durdreiklangs über die Terz zum Grundton, und die roten Verbindungslinien im Notenbeispiel suggerieren den Eindruck der Ähnlichkeit, die vielleicht auch durch die freundlich lullende Begleitung unterstützt wird. Natürlich auch durch die gleiche Wiegenlied-Assoziation „Berceuse“ bzw.  „Sandmann“.

sandmann-vergleich

In Wahrheit kann von einem Plagiat keine Rede sein: abgesehen vom Unterschied der Taktarten 2/4 bei Fauré, 3/4 im Sandmann-Lied, ist das Fauré-Thema schön durch das „Baden“ im Klang des einen Einfalls, während das Lied sich erst danach ganz sonderbar entfaltet: es will keinen Ruhepunkt akzeptieren. Seit ich es kenne, also etwa seit Ende 1966, fühle ich mich – trotz 1oofacher Wiederholung in jenen Jahren – immer noch gezwungen, der Melodie aufmerksam zu folgen: in einer Art Hassliebe zu beobachten, wie die Einzelmomente sich stückweise aneinanderfügen. Es muss durch den vorgegebenen Text erzwungen sein und hat etwas ziemlich Dilettantisches. Aber man könnte auch eine Eisler-Ästhetik herauslesen, die eine allzu glatte Periodik als schlechte Schablone betrachtet, Ausdruck von Unwahrheit, den aber dieses Lied trotzdem ausstrahlt: schöne heile Kinderwelt. Und deshalb hängen wir daran, als ob wir es liebten. Ein Freund, der damals noch nicht Vater war, behauptete, dass ihm bei dieser Musik und dem Auftritt des „Tupper-Sandmännchens“ (wie wir es nannten) das Grausen packte, wie beim Rattenfänger von Hameln. Aber für uns hatte das Kind längst die Entscheidung getroffen: „Sandmännchen kommt!“ – und soll ewig wiederkommen.

***

Der Notenleser erkennt schnell, dass ich im Melodiebeispiel „Fauré“ ziemlich gepfuscht habe, indem ich das Melodiezitat vom Schluss des Stückes verwendet habe. Am Anfang aber wird es nicht einfach wiederholt, sondern in eine andere Tonart geführt, in der es dann wiederum erklingt und nunmehr bei der Wiederholung zurückgeführt wird in die Anfangslage.

Das besagt nichts für den Vergleich und die Analyse eines möglichen Plagiatverdachts. Aber so viel Zeit muss sein, gerade, wenn es um Gabriel Fauré geht und einen möglichen Kitschverdacht.

So beginnt der Seconda-Spieler:

faure-berceuse-sec

Und so geht die Melodie auf der ersten Seite des Prima-Spielers:

faure-berceuse-prima

Ob Sie es kitschig finden oder nicht, eins steht fest: vergessen werden Sie es nie mehr!

Und deshalb darf hier noch eine Version folgen, die vor allem eines ist: süß.

Zum Ausgleich aber darf auch noch die ganze Dolly-Geschichte folgen: HIER.

Nach der Chaconne

Zehetmair in Stuttgart

Es steht noch immer die Frage im Raum: wer hatte die zweite Karte für die Stiftskirche? (Siehe hier – gegen Ende – und hier). Per Mail kam in Bezug auf ein privates Nachgespräch die folgende Mail:

Was mich übrigens bei Brahms' Bearbeitung immer störte,
ist der Akkordwechsel vom G-dur (mit Quinte) zum e-moll in T.187.
Irgendwie komisch und ungewohnt, wenn  man Busoni im Ohr hat, der genau
das nämlich vermeidet. Und jetzt habe ich mal Bachs original angesehen:
keine Quinte, aber vor allem: kein Terzfall im Bass.

Hier irrt Brahms für mich. Es klingt banal.

Geradezu genial übrigens - und das hatte ich eben im Ohr... - ist hier
Busoni: er legt einen oszillierenden Orgelpunkt ums D herum drunter und
schreibt auf der bewussten Eins rechts den Akkord h-fis-g-h (über D),
dann e-moll...

Dazu die folgenden beiden Scans, die ich durch die erwähnten Busoni-Takte ergänze:

bach_chaconne_t185f_brahms 1 Brahms

chaconne_original_t185 2 Bach orig.

bach-chaconne-busoni 3 Busoni

Stimmt genau, war mir nie aufgefallen. Gerade der erste Akkord im 3. Takt des Bachschen Originals ( h – g – h ) mit seinem prekären Klang der verdoppelten Terz h ist einem als Geiger lieb, man möchte ihn nicht durch den Grundton monumentalisiert haben, der Wert des kompakten e-moll-Dreiklangs, grifftechnisch nicht einfach, würde gemindert. Großartig bei Busoni, diese Akkordfolge dissonantisch zu „präzisieren“, wenn auch der kompakte e-moll-Dreiklang nunmehr auf das letzte Achtel verlagert ist.

Dank an JMR!

zehetmair-eintritt

Nachfrage zu Zehetmairs Verzierungen in Takt … („ist das original?“). Er hat es genau so schon in der Aufnahme von 1983 gemacht, vielleicht hat Harnoncourt das angeregt (oder ihm „durchgehen“ lassen). Die Begründung, dass in Bachs Zeit Wiederholungen nach Belieben oder Geschmack des Interpreten verziert werden konnten, würde ich in diesem Werk, das gewissermaßen von Anfang an (ab Takt 9) Variationen des Modells liefert, nicht gelten lassen. Bach geht bereits an die Grenze des Möglichen, – es ist nicht nötig (wenn auch möglich), ihn virtuos zu übertrumpfen.

(Fortsetzung folgt)

Die neuen Deutschen

Ein Land vor seiner Zukunft

Das Buch von Herfried Münkler und Marina Münkler

***

Bisher habe ich geglaubt, es genüge verschiedene Zeitungen und Magazine zu lesen, um sich ein Bild über die politische Lage zu machen. Ich besitze also auch dieses Buch, das von sich reden macht, (noch) nicht. Aber vielleicht ist es unumgänglich. Abgesehen von der FAZ-Besprechung hat mir jeder inhaltliche Hinweis Mut gemacht. Zunächst etwa diese kleine Bilanz, was denn eine Nation, ein Staat, unser Staat, dem Wesen nach sei. Adam Soboczynski schrieb anlässlich der Besprechung des Münkler-Buches:

Das Misstrauen gegen die gesamtdeutsche Nation war nicht nur aufgrund der nationalsozialistischen Barbarei verständlich. Der Nationsbegriff beruht hierzulande auf ethnisch-kulturellen Zuschreibungen und nicht wie in Frankreich oder den USA auf einer politischen Willens- und Bekenntnisgemeinschaft. Die verspätete Nation der Deutschen orientierte sich, wie auch in Osteuropa, an vorstaatlichen Annahmen wie einer gemeinsamen Sprache, Abstammung, Geschichte, Kultur – weshalb die AfD, dies nur nebenbei, auch so entschieden russlandaffin ist. Einwanderungspolitik durfte es in der Bundesrepublik über viele Jahrzehnte hinweg schon deshalb nicht geben, weil sich das Land schlechterdings nicht als Einwanderungsland begriff. Der europäische Einigungsprozess wiederum zielte, etwa mit der Osterweiterung, darauf ab, Willens- und Herkunftsgemeinschaften zu versöhnen – ein Vorhaben, das heute stark bedroht ist.

Quelle DIE ZEIT 1. September 2016 Seite 36 Deutsche Gerechtigkeit Das Professorenpaar Herfried und Marina Münkler empfehlen die Flüchtlingskrise als nationales Ertüchtigungsprogramm. Von Adam Soboczynski.

Die beiden Autoren dieses Buches äußerten sich kürzlich live zum Thema der neuen Deutschen, und zwar in der ZDF-Sendung Markus Lanz auffindbar HIER (Sendung ZDF 1. September 2016)

Vorfahren auf 12:50 (dazu Notizen zum Gesprächsverlauf:)

Herfried Münkler mit Gegenredner Christoph Schwennicke 12:50 – (19:50 B.B. Silvesternacht) – Marina Münkler weiter ab 23:26 HM ab 24:53 (Willkommenskultur als Dogma? Brandanschläge) bis 26:11 Ch.Sch. weiter 27:00 HM (LKW und Opfer) 28:10 (Hass) (Anstieg der Kriminalität?) (Vorfälle in Schwimmbädern) MM ab 31:50 (Probleme werden großgeredet) 33:05 (Thomalla über Meckl.-Vorpommern, Angst vor Veränderung) 35:50 MM (Furcht vor dem Fremden völlig normal) ab 37:17 HM (Arbeit und Wohnung, Integration, WIE schaffen wir das? Lebenslüge, dass dies kein Einwanderungsland sei) „Problem von Politik, dass sie nicht strategisch sondern taktisch denkt, bis zur nächsten Wahl“. „Nun passen die, die gekommen sind, nicht wirklich zu uns, aber sie sind da. Also müssen wir sie fit machen…“ „Der Arbeitsplatz ist die eigentliche Maschine der Integration.“ 41:20 Wie müssen wir uns ändern, damit das gelingt: die neuen Deutschen? MM ab 41:28 Keine ethnische Definition des Deutschseins, vielmehr: es muss möglich sein, deutsch zu werden. Dazu gehören 5 Imperative:

1) die Vorstellung, dass man von seiner eigenen Arbeit lebt und seine Familie gegebenenfalls ernähren kann

2) die Vorstellung, dass man die sozialen Sicherungssysteme in Anspruch nimmt, wenn es nicht anders geht, dass man aber nicht glaubt, dass der Staat dazu da wäre, einen permanent zu unterhalten

3) gehört dazu die Vorstellung davon, dass Religion eine Privatangelegenheit ist

4) dass auch die Lebensführung eine Privatangelegenheit ist, dass jeder das für sich entscheidet

5) das klare und deutliche Bekenntnis zum Grundgesetz.

Das ist etwas, auf das wir wirklich stolz sein können. Dass man auch zeigen kann, auf der rechtlichen Seite, dass man sich herausarbeiten kann, aus einer Gesellschaft, die geglaubt hat, man könnte durch das Niedermachen, das Vernichten anderer irgendetwas für sich gewinnen. Was das Grundgesetz dann festgelegt hat und zwar ganz bewusst mit dem ersten Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar, – da ist nicht die Rede von der Würde des Deutschen, da ist die Rede von der Würde des Menschen. Und das ist übrigens von seiner Struktur her ein nicht ganz unähnlicher Satz, denn das ist ja auch eine kontrafaktische Behauptung, also: die Würde des Menschen ist sehr antastbar,  was will uns also dieser Satz sagen? Wir müssen immer dafür sorgen, dass die Würde des Menschen nicht angetastet wird. Das ist der zentrale Punkt. 43:23

… sagte Marina Münkler in der Sendung von Markus Lanz am 1. September.

Nach diesen fünf Imperativen dürfen die zwei Maximen nicht fehlen, die schon am vergangenen Montag in der Süddeutschen Zeitung als Fazit festgehalten wurden:

Zum einen muss das Land den Flüchtlingen, ob aus Armut oder Kriegsnot hierhergekommen, als offene Gesellschaft begegnen. Das ist die Absage an alle Propheten einer ethnischen oder sonst wie „identitären“ Nation. Dass die Offenheit eine zweiseitige Angelegenheit ist, die Alteingesessene und Neuankömmlinge betrifft, ist die unausweichliche, aber im Falle des Gelingens produktive Dialektik, an der jede Integration in Deutschland auszurichten ist. Offenheit ist nicht gleichzusetzen mit offener Grenze – nicht zuletzt deshalb, weil keine kulturellen Faktoren importiert werden dürfen, die (wie die Unterdrückung von Frauen) eben dieser Freiheit und Offenheit widersprechen.
Die andere, abschließende Maxime lautet: „Der entscheidende Identitätsmarker der Deutschen soll und muss das Bekenntnis zum Grundgesetz sein.“ Gemeint ist hier nicht nur, dass sich jeder, auch jeder Alteingesessene, an das gesetzliche Regelwerk des Landes zu halten hat; gemeint ist auch nicht nur ein politisch verstandener Verfassungspatriotismus. Gemeint ist eine normativ aufgeladene „Identitätszuschreibung“, ein rechtliches, politisches und soziales Anforderungsprofil, das als einziges geeignet ist, Einheimische und Neue freiheitlich zu integrieren: das Grundgesetz als Norm- und Handlungsmodell.

Quelle Süddeutsche Zeitung 29.8.2016 Fremde und Selbstbild Die Flüchtlingsfrage polarisiert. Doch die Politik weicht drängenden Fragen zur Einwanderung aus. Da kommt das kühl analysierende Buch von Marina und Herfried Münkler gerade recht. Von Andreas Zielcke.

Eine lesenswerte Besprechung von Ulli Tückmantel – Anleitung zum „Wir schaffen das“ – brachte am 3. September auch das hiesige Solinger Tageblatt bzw. die WZ (Westdeutsche Zeitung), nachzulesen HIER.

ZITAT

Natürlich wäre es besser, wenn die Zuwanderung dosiert, an der hiesigen Aufnahmefähigkeit orientiert und durch behördliche Auswahl der Zuwandernden stattfände, doch: „Diese Politik ist in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten, seitdem sie angezeigt war, nicht betrieben worden.“ Nun werde es teuer werden, am Ende vielleicht bis zu 200 Milliarden Euro, räumen die Münklers ein. Zudem werde es lange dauern, könne am Ende immer noch scheitern, und auf jeden Fall werde es Enttäuschungen geben. Es seien nicht alle brauchbar, die kämen – und es werde auch zu Konflikten kommen.

Wer die Botschaft dieses Buches für zu optimistisch hält, dem hält Herfried Münkler einen Gedanken des Philosophen Blaise Pascal (1623 – 1662) entgegen, die „Gotteswette“ (ich zitiere nach Ulli Tückmantel):

Pascal argumentierte, dass wer an Gott glaube, immer die besseren Gewinnaussichten habe: Glaube man und Gott existiere, gewinne man den Himmel. Glaube man und Gott existiere nicht, gewinne man zwar nichts – aber man verliere auch nichts. Glaube man nicht an Gott und er existiere auch nicht, gewinne man nichts. Glaube man nicht, Gott existiere aber doch, lande man in der Hölle. „Wenn wir das dieser Wette zugrundeliegende Kalkül auf die Frage nach dem Erfolg oder Scheitern der Flüchtlingsintegration übertragen, so ist es vernünftig, auf den Erfolg zu setzen, weil nur dieser einen gesellschaftlichen Ertrag hat – während der, der auf das Scheitern setzt, nichts gewinnt, sollte er recht behalten“, schreibt Münkler gemeinsam mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin, in einem bemerkenswert unaufgeregten Buch.

Man kann das Buch als Anleitung zur Schaffung eines Landes lesen, dessen beste Zeiten noch kommen. So etwa schreibt Tückmantel am Ende seiner Rezension. Man schaut zweimal hin, um sich zu vergewissern, dass dies tatsächlich die Prognose ist. Ich glaube, die Parabel vom Glauben könnte sich – vorausgesetzt der Einsatz des guten Willens setzt sich auf breiter Basis durch – als nicht falsifizierbar erweisen.

Nachtrag am 11. September 2016

Es gibt in den folgenden zwei Wochen 2 Möglichkeiten mich lesend weiter zu politisieren (was mir von Natur aus nicht naheliegt). Voraussichtlich werde ich die übliche Wahl treffen: sowohl als auch.

1) muenkler-cover 2) baum-hirsch-cover

Inhaltsverzeichnis zu Buch 1 (Münkler / Rowohlt Berlin 2016)

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Dieses Buch betrifft die Gesellschaft, die Gegenwart und unsere Zukunft

Buch 2 packt mich persönlich von Anfang an und lässt mich glauben, dass ich nun über den gesamten bewusst erlebten Verlauf meines Lebens aus einer „fremden“ Perspektive Aufschluss erhalte. Es beginnt damit, dass auch in den Erzählungen meiner Eltern „Litzmannstadt“ eine Rolle gespielt hat, und dass ich als Vierjähriger in meiner Geburtsstadt Greifswald 1945 wie durch ein Wunder (dank der Initiative weniger Menschen) von der Bombardierung verschont wurde, während Anklam brannte. (Siehe hier unter „20. Jahrhundert“).

ZITAT

Meine Familie hat mir zu verstehen gegeben, dass etwas Furchtbares in Lagern passiert. Man hatte eine dunkle Ahnung. Bei meinem Besuch mit meiner Mutter in Litzmannstadt, wie die Nazis das polnische Lodz umbenannt hatten, wo ihre Familie mütterlicherseits lebte, erfuhr ich von einem Ghetto und von Judenverfolgungen. Es ist mir bis heute ein Rätsel, dass viele Deutsche damals von alledem nichts gewusst haben wollen. (Baum Seite 20)

Trotz aller Kriegswirren und dunklen Ahnungen war es eine angenehme Kindheit für mich in Dresden. Wir haben bis in den Herbst 1943 hinein Mozart-Serenaden im Hof des Zwingers gehört, in einer unzerstörten, vom Krieg bis dahin unberührten Stadt. Und dann das jähe Ende. Die Dresdner Bombennacht im Februar 1945. (Baum Seite 21)

Inhaltsverzeichnis zu Buch 2 (Baum, Hirsch / Propyläen Ullstein Berlin 2016)

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Es ist keinesfalls ein Buch der Vergangenheit. Man sollte es vielleicht nicht von vorn beginnen (wie ich), sondern mit dem letzten Kapitel, der Nachbemerkung von Gerhart Baum. Und es endet mit Worten der Zuversicht und – seltsamerweise – mit dem Wort „schaffen“:

Wir haben bei allen Versuchungen der Unfreiheit eine „geglückte Demokratie aufgebaut, wie der Historiker Edgar Wolfrum zu Recht seine Geschichte der Bundesrepublik nennt. Ich setze meine Hoffnung auf die vielen Menschen im Lande, die sich mit Mut der Zukunft stellen, die die unabänderlichen Veränderungen annehmen und mitgestalten – mit ihnen werden wie eine Menge schaffen. (Baum Seite 266)

Rätsel: Aus welchem der hier vorgestellten Büchern stammt das folgende Zitat?

Wir müssen ernsthaft über die Zukunft unserer Gesellschaft reden. Dazu gehört die demographische Entwicklung. Ende 2014 hatte jeder fünfte Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund. Wir sind längst eine multikulturelle Gesellschaft, wir sind längst ein Einwanderungsland. Auf einer Rechtskultur nach den Regeln unseres säkularen Staates müssen wir bestehen, auch und gerade gegenüber unseren eigenen Landsleuten, die vor grölenden Menschenmengen unsere Werte mit Füßen treten. Was wir aber nicht brauchen, sind hilflose Versuche, den Zuwanderern eine Gesinnungsleitkultur aufzuzwingen. Wenn es wahr ist, dass wir jährlich eine Zuwanderung von drei- bis vierhundert Menschen benötigen, wird unsere Gesellschaft sich weiterhin verändern. Ein Einwanderungsgesetz, das diese Zuwanderung regelt,ist dringend erforderlich. Aus Flüchtlingen müssen Einwanderer werden.

***

Auflösung des Rätsels: Der Text stammt aus der Nachbemerkung von Gerhart Baum (Seite 264). Er ist übrigens von einer verblüffenden Ehrlichkeit, auch was den eigenen Werdegang angeht, den durchaus nicht als eine Kette von Glanzpunkten beschreibt. Aber man spürt in jedem Satz, in welcher Weise er lebenslang ein Lernender war. Schon wenn man einen Absatz wie den folgenden gelesen hat:

Ich habe nicht gern studiert. War mir zu trocken, zu langweilig. Ich habe zwei Jahre in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, bin ins kalte Wasser gesprungen, hatte überhaupt keine Erfahrung. Mit einer Bürovorsteherin haben wir den Laden geschmissen, da habe ich mehr gelernt als an der Uni. Was Juristerei ist, habe ich erst begriffen, als ich Referendar wurde.  Da wurde ich an Amtsgerichte versetzt, habe mit Menschen zu tun bekommen. Das Recht begann zu leben, sich mit Schicksalen zu verbinden. Ich merkte, dass Recht nicht gleich Recht ist, dass es gestaltbare Zwischenräume gibt. Das war eine tolle Zeit. Mein erstes Examen war schlecht, dass zweite besser, auch wegen dieser praktischen Erfahrung. Ich weiß noch, wie ich einmal als Vertreter der Staatsanwaltschaft gegen ein homosexuelles Paar – das war ja damals strafbar -, unerfahren wie ich war, ein übertrieben hohes Strafmaß beantragt habe. Der Richter hat mich nur angeschaut: „Herr Kollege, meinen Sie das im Ernst?“ Werde ich nie vergessen. (Seite 51)

(JR) Ich vermute, dass dieses „Motiv“ im Verlauf des Buches wiederkehren wird, mit veränderten Vorzeichen. Das wäre jedenfalls geschickt. (Und ich werde es vermelden.) An dieser Stelle folgen nur noch die Sätze:

Irgendwann war keine Zeit mehr für solche Dinge, weil wir Politik gemacht haben, nicht wahr, Herr Hirsch?

Ein geschickter Schachzug, den Leser wachsam zu halten… Das nächste Kapitel ist überschrieben: „Engagement für eine liberale FDP“.

Wunderbare,typische Sätze in diesem Buch:

Hirsch: Ich sehe sehr vieles, was Sie dargestellt haben, ganz anders.

Baum: Ja, das habe ich mir gedacht.

(Seite 132)

Quelle: Gerhart Baum / Burkhard Hirsch: Der Baum und der Hirsch. Deutschland von seiner liberalen Seite. In Zusammenarbeit mit Gabriela Herpell und Thomas Bärnthaler / Propyläen Ullstein Buchverlage Berlin 2016 ISBN 978-3-549-07471-8

Alte Tanzfiguren

Auf dem Boden und in den Noten

Nicht ohne Grund lasse ich diesen Volksmusik-Beitrag auf den Hiphop-Exkurs folgen. In der Realität sind mir die Themen in umgekehrter Reihenfolge begegnet. Am Dienstag das eine (Drake), am Mittwoch das andere (Dahlhoff).

(Den Einstiegsfilm oben verdanke ich dem folgenden Link, ich fand ihn hinreißend und wüsste gern, wo in Frankreich er aufgenommen wurde; er hat mit Dahlhoff nur mittelbar zu tun.)

Über die Sammlung Dahlhoff aus Westfalen und Bal Folk in Köln siehe HIER

ZITAT

Die Familie Dahlhoff war eine Küsterfamilie [sic! nicht etwa Künstlerfamilie, dies jedenfalls nur im Nebenberuf), die in Dinker bei Hamm / Westfalen lebte und zu ihrer Zeit auch populäre Tanzmusik sammelte. Vater Heinrich Dahlhoff lebte 1704 bis 1764. Der Sohn Dietrich begann erst 1767 das musikalische Erbe zu sammeln (…). Es soll sich ausnahmsweise nicht um eine konservierende Sammlung gehandelt haben, sondern um Material, das offenbar dauernd in Gebrauch war (über einen Zeitraum von 150 – 200 Jahren!), und das im Mikrokosmos eines kleinen Dorfes.

Weiterlesen, recherchieren und nachspielen mit Hilfe des oben gegebenen Links!

Fuhr Musik Werner & Monika c Fuhr Musik Werner g

Fuhr Musik Noten Fuhr Musik JR Werner & Monika g

Besuch am Mittwoch, 31. August, beim Ehepaar Monika & Werner Fuhr, Nähe Köln.  –     Dr. Werner Fuhr, ehemals WDR Köln, 40 Jahre Kollege und Freund. Von ihm kamen die Dahlhoff-Anregungen und die Noten auf unseren Pulten. Ein unvergesslicher Nachmittag des Wiedersehens und Verstehens. (Fotos: E. Reichow)

Nachtrag zum Einstiegsfilm ganz oben: Ich liebe die Musiker. Haben Sie bemerkt, dass es zwei Fiddler sind? Man hört die Dopplung und man sieht am Anfang die linke Hand des zweiten. Ich liebe die „unendliche Melodie“, in Gestalt der „ewigen Wiederkehr“, aber auch den Akkord, der zum erstenmal in 0:11 zu hören ist: er zeigt, dass unterhalb des Grundtons ein Ganzton steckt, über ihm ein Dur-Dreiklang (Wechsel D-dur / C-dur). Die strikte Wiederholung passt zum steten Wechsel der Tanzfiguren. Zu beachten der Melodiewechsel ab 1:41. Vergleich mit afghanischer Ballade (aus Kunduz), „Laili und Majnun“, Network-CD Tr. 6.

(Fortsetzung folgt)

„One Dance“ (ein Versuch)

Entwurf für ein ethnologisches Proseminar

In diesem Zweig der Ethnologie bin ich natürlich selbst blutiger Anfänger. Habe mich einfach spontan eingetragen, bei mir selbst. Es soll nichts als ein Einstieg sein. Der Kleine E. hat das nicht gewollt, aber in dem Moment, als ich sah, dass getanzt wird, was er hört, war mir klar, wozu das gut ist. Kontrolle, Eingrenzung, Aneignung, Mimesis. Vor jedes dieser Worte könnte ein Psychologe das Wort Trieb mit Bindestrich setzen. Aber ich lehne diese Psychologie ab, – sobald es vorrangig mit Körper zu tun hat, der ohnehin Bewegung will. Und zwar eine kontrollierte Bewegung, die tendenziell nie endet. Dummerweise hatte ich gerade das nicht geahnt. Denn es hat nicht mit Ahnungen zu tun, es liegt auf der Hand bzw. unter dem Fuß.

Zunächst aber: Wer ist Drake? Siehe hier. Der gesuchte Titel steckt hier drin. Bitte hören:

Hier  Zum Begriff „zumba“ (es ist also noch kein Tanz, sondern eine Fitnessübung…)

Dasselbe als bloße Musik-Übung (ohne Fitness-Zweck), bei der es aber nicht bleiben kann, also insgesamt 7 Aufgaben:

1) Nur auf die Musik hören! Fragen stellen, z.B.: Wie sind in Relation zum maßgebenden Puls die Klavierakkorde platziert? und wie die Singstimmen? 2) Und noch einmal: Ist es gut in Bewegung umgesetzt? Oder relativ arm an Varianten? 3) Den Text analysieren, mit angemessenen Mitteln „verstehen“. Ist er hier überhaupt korrekt notiert?  4) Zeitraubend, aber unverzichtbar: die genaue Notation der Musik 5) Die nächste Musik-Version anklicken, sie stammt von Travis Garland, – was ist ein Mash-Up? 6) Danach geht es wieder um die Bewegung, deren Reiz durch die synchrone Verdreifachung gesteigert ist. 7) Und schließlich folgt die Analyse bestimmter Schrittfolgen.

Hier die Illustration der Aufgaben 5), 6) und 7)

Wer ist Mike Peel? Siehe hier .

Drake selbst bewegt sich eher unspektakulär, weicher, weichlicher. Oder soll ich sagen: abstrakter?

Drake Screenshot 2016-09-02 17.36 HIER

Dank an Emi!