Archiv für den Monat: April 2016

Mit Statistik hinters Licht

Medizin, Pharma, Kommerz

„Gibt es einen Zusammenhang zwischen Tierliebe und Mindestlohn?“

Sie wissen es nicht? Dann sehen Sie diese Sendung bis mindestens Minute 13:40 – und versuchen Sie zu stoppen…

Pharma Screenshot 2016-04-12 10.17.31

… noch bis 11.4.2017 in der ARD Mediathek abrufbar: HIER 

http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Die-Story-im-Ersten-Im-Land-der-L%C3%BCgen/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=34622130

Von wegen „Lügenpresse“ – diesem Hinweis der HörZu bin ich gefolgt:

Pharma-Sendung Hinweis zu Akte D HIER (nicht mehr abrufbar) – jedoch HIER.

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Private Rechtfertigung: Warum dieser Hinweis (es geht dir doch angeblich immer um Kultur)? Ja, das heißt aber nicht, dass es daneben kein „reales“ Leben gibt.

In einem Tagebuch, das ich nicht führe, müsste stehen, dass ich zwar heute nacht diese Sendungen gesehen habe, aber aufgewacht bin am Morgen (um Punkt 8 Uhr!) mit der innerlich laut gehörten Melodie „Der Morgenstern ist aufgegangen“, wobei ich darüber staunte, wie gewaltig (und unschuldig) sie gebaut ist: der Abstieg über eine ganze Oktave: „Hoch über Berg und tiefem Tal“!!! Danach kehrte ich zu meinem augenblicklichen Lieblingsthema zurück: betr. die verschiedenen Gestalten der aufsteigenden Chopin-Melodie (Mittelteil Impromptu As-dur, anders im cis-moll), die in f-moll, mit ihren immer neuen Ansätzen, der zunächst stockenden Begleitung, – nie habe ich eine angemessene Beschreibung dieses Wunders gelesen. Und dann kam ein gedanklicher Themenwechsel zu der Lothringer Weise „Ist das nicht der Morgenstern“ , das Aufsuchen des Textes, die überwältigende Erinnerung, wie das in der Neumeyer-Bearbeitung in Oktaven gesungen wurde, die Bestellung der alten LP (widerstrebend per Amazon). Ich sitze also am Computer, eigentlich: um zum Thema der Nacht zurückzukehren. Zu den Pharma-Lügen. Stelle mir vor, krank zu sein, wie mein Freund. Aber als erstes erschien mir eben der Morgenstern, vielmehr er lag mir in den Ohren. Deshalb musste es damit weitergehen. Dies alles klingt fast unglaubwürdig, aber genau so war es. Allerdings habe ich auch gefrühstückt (1 Apfelsine), die Zeitung gelesen (sehr genau die Seite über Böhmermann, große Zustimmung für Ulli Tückmantel, anschließend den Bericht über den der Lehrerin verweigerten Handschlag in der Schweiz). Und – unentwegt die erwähnten Melodien im Sinn – wieder zurück an den Schreibtisch, wegen des Morgensterns.

Lothringer Lieder & Balladen aus ‚verklingenden Weisen‘ von Louis Pinck in Sätzen von Fritz Neumeyer [Vinyl Doppel-LP] [Schallplatte]
Gertraut Stoklassa,Theo Altmeyer,Chor der ev. Singgemeinde Bern,Fritz Neumeyer (Leitung),Louis Pinck (Komponist),Franz Beyer,Zoltan Racz,Hans-Georg Renner,Eckard Schmidt,Josef Brejza
Zustand: Neu
Verkauft von: baagad

Ich verstehe, wie es zu Marienerscheinungen kommen kann, wenn man jung ist und an Wunder glaubt. Man sieht Zeichen und Wunder, wo man bereit ist sie zu sehen. Und man sieht sie nicht, wenn man andere Erklärungen in Betracht zieht. In meinem Fall: ich denke fast immer an Melodien oder an Musik, was Wunder, wenn sie auch von selbst kommen. Ein weiteres Beispiel: ich erwähnte oben die Zeitungslektüre:

ST Schweiz Handschlag Solinger Tageblatt 12.4.2016 Mehr davon.

Und ich erhalte wenig später eine SMS von M. aus dem Zug, beigefügt eine Visitenkarte, Kommentar: „Herr Prof. Dr. Xxx, ein Syrer mit Haus in H., nach seiner Pensionierung als Islamwissenschaftler heute noch in der Halalistik tätig. Im Auftrag einer japanischen Firma hat er das große Halal-Gutachten für den brunesischen und indonesischen Markt gefertigt. Leckere Dattelpralinen bot er mir an.“

Schon wieder ein Wunder, nicht wahr?

Mich interessiert, ob es schon einen Wikipedia-Artikel über die Wissenschaft (?) der Halalistik gibt. Oder über das große Halal.

A propos: ich muss ein bestimmtes Signal in Bachs erstem Brandenburgischen nachschauen. (s.u.)

Noch einmal kehre ich zurück zum Morgenstern. Die frühe Gestalt der alten Melodie (die der Praetorius-Fassung Modell stand) finde ich nicht, und in der Gesangbuchfassung (EKG 1954) fehlt mir gerade das lange Melisma „hoch über Berg und tiefe Tal“ (keine moderne Gemeinde könnte das, ohne abzuschlaffen).

Morgenstern EKG

In „Deutsche Lieder / Texte und Melodien / Ausgewählt und eingeleitet von Ernst Klusen“ Insel Verlag Frankfurt am Main 1980 findet sich auf Seite 801 die folgende Fassung (Seite 233 sogar der Text eines wunderschönen alten Liebesliedes „De morgensterne hefft sick upgedrungen“, wie in Wikipedia, aber nicht nur zwei, sondern 7 Strophen, an Stelle „der lieben Engel Schar“ singt hier noch „de leve nachtegal“); man beachte die Talfahrt des Melismas in der dritten Zeile.

Morgenstern Klusen Quelle wie angegeben

22.08.2016 Zur Bemerkung betr. Bach: hier nur ein kleiner Gag (von Halal zum Halali). Aber in der Tat erfährt man interessante Details zur Bedeutung der Jagdmotive in Bachs 1. Brandenburgischen Konzert bei Peter Schleuning (Bärenreiter 2003). 

Benn im allzu menschlichen Sinn

Was sind denn eigentlich „die großen Melodien“?

Wenn es um Gottfried Benn geht, sind es bestimmt nicht solche von Bach oder Schubert. Die aus der Jukebox, die er meint, gehören vielmehr zu einem bestimmten Ambiente oder sagen wir: Milieu, in dem sich der Dichter näher am wahren Leben fühlt. Um das wahre Leben in Bach- oder Schubert-Melodien wahrzunehmen, müsste man damit aufgewachsen sein. Zumindest Bach hätte ihm zwar als Kind im Pfarrhaus Benn begegnen können, aber es gibt keinen Hinweis, dass im Werk des Dichters die Sphäre des Pfarrhauses von Bedeutung geblieben ist, außer als Negativ-Image.

Ich liebe die Frankfurter Anthologie, die respektvolle Präsentation eines Gedichtes – im Schriftbild, aber auch im mündlichen Vortrag – und vor allem begleitet von einer verbalen Interpretation, die dazu einlädt, immer noch einmal und immer genauer zu lesen und zu hören. Man wird unvermerkt auch kritisch dabei, vor allem was die Rezitation angeht: stimmt der Ton auf diesem Wort, ist jenes nicht zu beiläufig, ein anderes zu gewichtig? Warum bleibt die Stimme in der Schwebe, wo sie sich senken sollte usw., – und man wird nachsichtiger, weil die Tonaufnahme nun einmal nur Endgültiges bieten soll, während die stille Lektüre schlicht alles offenlassen kann.

Aber wenn bestimmte Schlager, ja, die Titel der angeblich „grossen Schlager“, identifizierbar sind,  – den Schauplätzen gleich, die auch in Krimis stimmen müssen -, möchte ich den Dichter ebenso beim Wort und beim Ton nehmen können, wie wenn ich seine Lyrik höre. Solange er im allgemeinen verbleibt, gelingt das, auch wenn man Bach und Mozart, vielleicht sogar Chopin, den er zuweilen thematisiert, von vornherein außer Betracht lässt, wie z.B. hier:

„Es gibt Melodien und Lieder, / die bestimmte Rhythmen betreun, / die schlagen dein Inneres nieder / und du bist am Boden bis neun.“

Eine schlagende Strophe, die sich quasi von selbst gern einstellt, vielleicht in derselben Situation, wie sie der Dichter unmittelbar danach benennt:

„Meist nachts und du bist schon lange / in vagem Säusel und nickst / zu fremder Gäste Belange, / durch die du in Leben blickst.“

Das Gedicht heißt „Destille“. Wir kennen Benns Neigung zum Kneipenmilieu und lieben sein saloppes Parlando, milieugerechter ausgedrückt: diese subkutane Schnoddrigkeit, die als probates Kunstmittel gegen hohle Sentimentalität gute Wirkung tut, etwa so:

„Was man so nennt: Gedankengänge / die ganze Philosophie / das ist doch alles Gestänge / gegen eine Melodie.“

Als Ohrenmensch wird man jedoch dieser Zeilen nicht froh. Der Ton stimmt nicht ganz, es klingt nach halbherzig parodiertem Faust-Monolog. Und auch sonst: das Wort „Gestänge“ klingt verdächtig nach einem reimbedingten Notbehelf. Das „u“ statt „und“, das fast völlige Aufgeben der Satzzeichen in der zweiten Strophe, in ihrer ersten Zeile noch „Gram Wollust Zärtlichkeit“, in der vorletzten jedoch „Gram, Wollust Zärtlichkeiten“ – also ein Komma dazu und der Plural im letzten Wort. Es entsteht der Eindruck, dass es keine Version letzter Hand ist, – immerhin 5 Jahre vor dem Tod des Autors notiert, aber posthum veröffentlicht. Hätte er, der in der Lyrik „das Mittelmäßige schlechthin unerlaubt und unerträglich“ fand, es wirklich so belassen? Auch wenn er gerade jeden Hauch eines subtilen Sprachgestus meiden will wie der Teufel das Weihwasser? Es klingt zumindest naiv, wenn nicht sogar allzu fein kultiviert, wenn der Interpret hinzufügt, „auch in die subtilsten Schöpfungen des Geistes wehten die einfachen Melodien zuweilen hinein. Und kündeten von Schmerz und von Glück. Von Gram, Wollust und Zärtlichkeiten.“

Von Lili Marleen einmal zu schweigen: Die andere Melodie ist nicht einfach, sondern dumm und dreist, und sie kündet von gar nichts, außer vom Terzen-Schmus der 50er Jahre, der an die „unschuldige“ Südsee- und Hawaii-Begeisterung des frühen Jahrhunderts anknüpft. Adano gibt es nicht.

Im Sinne der Zeit jedoch versucht es offenbar der Interpret gerade – im Namen Gottfried Benns – zu fassen:

Historie sei „Mord u. Totschlag von jeher u. in aeternum u. es hat gar keinen Sinn, sie mit moralischen u. intellectuellen Vokabeln zu verzieren.“ Wer wissen will, wie es um seine Epoche bestellt ist, muss keine gelehrten Abhandlungen studieren, sondern braucht nur am Knopf des Radios zu drehen: „Ein Schlager von Rang“, verkündet das Nachlass-Gedicht „Kleiner Kulturspiegel“, „ist mehr 1950 / als 500 Seiten Kulturkrise“.

Aber wofür könnten wir denn soviel 1950 ungefiltert brauchen? Was not getan hätte, wäre eine kluge oder gar intellektuelle Analyse dessen, wie solche Schlagerschablonen dazu beitragen konnten, mit lügenhaften Sehnsüchten die noch frischen Erinnerungen der 40er Jahre aufzuarbeiten.

Ja: Wie wir eigentlich in den 50er Jahren so vieles vergessen konnten…

Quelle: Hier 

Lieben Sie Dvořák?

Weitschweifige Antwort in Dumka-Form / von Jan Reichow (1993)

Dvorak 1  Dvorak 2 Dvorak 3 Dvorak 4 Dvorak 5Dvorak 6Dvorak 7Dvorak 8Dvorak 9Dvorak 10Dvorak 11 Erstveröffentlichung CD Intercord 1993           Später bei TACET HIER 

Fehler-Korrektur: Dvořáks Geburtsort hieß nicht „Nelahozenes“, sondern Nelahozeves (Nalžoves – Mühlhausen) siehe hier. Zum Ort Zlonice, wo der Komponist seit 1853 eine Zeit lang lebte und dem er seine 1. Sinfonie gewidmet hat, siehe hier.

Und die Sinfonie Nr. 9 „Aus der Neuen Welt“ ist natürlich nicht op.90 sondern op.95, das Trio „Dumky“ selbst ist op.90, wie auch sonst korrekt angegeben.

***

Kurzfassung des Textes (nicht der Musik) – in Vorbereitung:

Konzert Dvorak gr

Klaviertrio SG 160508 b

Klaviertrio SG 160508 Fotos: JR

Über den aktuellen Konzertort „Gesenkschmiede Hendrichs“ HIER

JR MODERATION 8. Mai 2016 Trio-Konzert Solingen Gesenkschmiede mit Almuth Wiesemann, Peter Lamprecht und J.Marc Reichow

Beethoven op.1 Nr.3 c-moll

Die zwei Werke, die wir heute abend erleben, sind etwas Besonderes, in ganz unterschiedlicher Weise.

Das eine ist das Werk eines jungen Mannes, der der musikliebenden Welt Wiens und der gesamten Fachwelt zeigen wollte, was in ihm steckt. Beethoven 1795. Opus 1, Nr.3.

Das andere, fast 100 Jahre danach, stammt von einem fast 50jährigen, berühmten Komponisten, der der Welt nichts mehr beweisen musste. Nebenbei gesagt: auch damals schon galt er, trotz seiner großen Sinfonien als Meister der populären Slawischen Tänze, als der typische tschechische Musikant. Als er sein letztes Klaviertrio schrieb, op. 90, musste es nicht so klingen wie ein allerletztes Trio von Beethoven. Es ist großartige Unterhaltungsmusik. Wie die Slawischen Tänze.

Doch der Reihe nach! Zwischen den beiden Werken von Beethoven und Dvořák liegt nicht nur 1 Jahrhundert, sondern auch unsere Pause, der programmgemäß bereits ein gewisser Vergnügungsfaktor innewohnt, wenn auch nicht ganz vergleichbar dem, der in dem Palais des Fürsten Lichnowsky angesagt war. Wenn es ihn, den Fürsten, nicht gegeben hätte (und nebenbei: die Besetzung des Rheinlandes durch die Franzosen), wäre der junge Beethoven nach seinem Wiener Studienaufenthalt 1794 vielleicht ganz einfach wieder nach Bonn zurückgefahren.

Der Fürst war schon Förderer, Schüler und Logenbruder Mozarts gewesen, seine Frau Christine galt als ausgezeichnete Pianistin, und das Palais Lichnowsky bildete einen musikalischen Mittelpunkt der Wiener Gesellschaft. Beethoven erhielt in diesem Haus schon sehr bald dauernde Unterkunft, und sogar in späteren Jahren bevorzugte er Wohnungen in der Nähe der Lichnowskys, obwohl ihn deren Fürsorge bisweilen zu erdrücken schien. Es fehlte, meinte er, wenig daran, „dass die Fürstin nicht eine Glasglocke über mich machen ließ, damit kein Unwürdiger mich berühre oder anhauche.“. Das Palais Lichnowsky war Schauplatz der symbolkräftigen Szenen, in denen ZITAT „sowohl Haydn als Salieri in dem kleinen Musikzimmer an der einen Seite auf dem Sopha saßen, beide stets auf das sorgfältigste nach der älteren Mode gekleidet, mit Haarbeutel, Schuhen und Seidenstrümpfen, während Beethoven auch hier in der freieren überrheinischen Mode, ja fast nachlässig gekleidet, zu kommen pflegte“. Gar zu gern hätte Haydn hinter Beethovens Namen auf op. 1 den Zusatz gelesen: „Schüler von Haydn“, obwohl die Aktion ‚Kompositionsunterricht‘ ein Fehlschlag war. Der „Großmogul“, wie Haydn ihn nannte, wies jeden Gedanken an eine solche Referenz von sich, nahm heimlich Nachhilfe-Unterricht bei Johann Schenk, später bei Albrechtsberger und (immerhin bis 1802) bei Salieri. Was er von Haydn lernte, stand in dessen Partituren. Im übrigen erschien dieser ihm vielleicht als der einzig ernstzunehmende Konkurrent in Wien. Haydn hatte den Zenit seines Schaffens erreicht, doch erst die Londoner Erfolge zwischen 1790 und 1795 machten ihn in Wien zur unangefochtenen musikalischen Autorität. Seither wurde ein Komponist an Haydn gemessen; man musste ihn verinnerlicht haben und zugleich in irgendeiner Weise überbieten, – an Ausdruck, Kühnheit und Größe. Dafür scheint Beethovens op.1 ein Musterbeispiel.

ZITAT eines Ohren- und Augenzeugen:

„Die drei Trios von Beethoven sollten zum erstenmal der Kunstwelt auf einer Soiree beim Fürsten Lichnowky vorgetragen werden. Die meisten Künstler und Liebhaber waren eingeladen, besonders Haydn, auf dessen Urteíl alles gespannt war. Die Trios wurden gespielt und machten gleich außerordentliches Aufsehen. Auch Haydn sagte viel Schönes darüber, riet aber Beethoven, das dritte in c-moll nicht herauszugeben. Dieses fiel Beethoven sehr auf, indem er es für das beste hielt, so wie es dann auch noch heute immer am meisten gefällt und die größte Wirkung hervorbringt. Daher machte diese Äußerung Haydns auf Beethoven einen bösen Eindruck und ließ bei ihm die Idee zurück: Haydn sei neidisch, eifersüchtig und meine es mit ihm nicht gut.“

Das berichtet der Beethoven-Schüler und Freund Ferdinand Ries, allerdings erst 1838, 11 Jahre nach Beethovens Tod.

Irgendetwas stimmt an dieser vielzitierten Geschichte nicht, denn neue Forschungen belegen, dass Haydn vor seiner Abreise nach London im Januar 1794 lediglich das Trio Nr. 1 kannte, das schon in Bonn geschrieben und in Wien überarbeitet worden war, während Nr. 2 und Nr. 3 erst nach Haydns Abreise skizziert und ausgeführt wurden. Als Haydn im August 1795 von London nach Wien zurückreiste, lagen die drei Trios im Druck vor, – welchen Sinn hätte sein Rat noch haben können?

Beethoven hatte sein op.1 mit Geschick lanciert, er konnte mit breiter Aufmerksamkeit rechnen, als er am 9., 13. und 16. Mai in der Wiener Zeitung die Annonce zur „Pränumeration auf Ludwig van Beethovens drei große Trios“ aufgab. Selbst wenn man die Trio-Aufführungen im Hause Lichnowsky nur vom Hörensagen mitbekommen hatte, Phantasie und Erfindungsgeist des jungen Pianisten aus Bonn waren stadtbekannt und riefen allerlei clevere Ideenverwerter auf den Plan, – in Wien gab es damals immerhin ca. 300 Pianisten, etwa 6000 Klavierschüler, und er hatte Grund, vorsichtig zu sein. ZITAT: „… ich hatte schon öfter bemerkt, daß hier und da einer in Wien war, welcher meistens, wenn ich des Abends phantasiert hatte, des andern Tags viele von meinen Eigenarten aufschrieb und sich damit brüstete“ (Ende 1793).

Nun, die „Pränumeration“ ergab sogleich 123 Bestellungen, im Endeffekt wurden sogar 241 Exemplare des op. 1 verkauft. Beethoven verdiente daran 843 Gulden, was etwa dem Doppelten eines Jahresgehalts entsprach, das er in Bonn bekam. Allerdings waren die Trios wohl auf Lichnowskys Kosten gedruckt worden, und allein der Fürst bestellte 27, die Familie seiner Frau 25 Exemplare. Man ahnt, warum op.1 dem Fürsten Carl von Lichnowsky gewidmet ist und erst op.2, die Klaviersonaten, dem größten zeitgenössischen Musiker, Joseph Haydn.

[im folgenden Infos nach Villla Musica http://www.kammermusikfuehrer.de/werke/184 ]

In der Tat, Beethoven war fast schlagartig in aller Mund, nicht nur in Wien, wenige Jahre später lagen die Trios in Bonn, Leipzig, Mainz, Offenbach, Paris, London und Berlin im Nachdruck vor. Der Erfolg war so nachhaltig, daß er noch um 1830 zu Lobreden auf Beethovens Frühstil Anlass bot. Bezeichnenderweise mit dem Hinweis auf Mozart:

“Erinnern wir uns”, schrieb ein Rezensent anläßlich einer Neuauflage im Jahre 1827, “wie ungleich verbreiteter die Theilnahme an ihm war, so lange er in den bekannten Regionen der Mozartschen Musik weilte.”

Ein Kollege erklärte den Erfolg des Opus I damit, dass “in ihm, wie in wenigen [sonst], die fröhliche Jugend des Meisters sich noch ungetrübt, leicht und leichtfertig, abspiegelt, gleichwohl aber der spätere, tiefe Ernst und die zarte Innigkeit des Verfassers schon zuweilen (und dann, wie schön!) anwandelt, auch, ungeachtet man die Vorbilder der Mozart’schn Klavier-Quartette erkennt, doch Beethovens Eigenthümlichkeit und Selbständigkeit unverkennbar hervor leuchtet und umher flackernde, zündende Funken sprüht.” (Allgemeine musikalische Zeitung, 1829).
Das c-Moll-Trio ist das bekannteste der drei. Es wirkt wie ein ästhetisches Manifest des jungen Beethoven, der hier wesentliche Momente seiner Kunst erstmals umriss: den Ernst und den Anspruch des Kopfsatzes, der schon den Eroica-Schwung ahnen lässt, das Prinzip der “Charaktervariation” im Andante, und ein Menuett, das zum romantischen Scherzo verwandelt ist, schließlich der wilde Elan des Finales.

Hatte man schon in Mozarts späten Instrumentalwerken, etwa in den Klavierkonzerten, den Eindruck, dass hier ein imaginäres Bühnengeschehen ablief, so erlebte man bei Beethoven vollends die Verwandlung der Musik in großangelegte Dramen, die durchaus nicht dem höfischen Konversationston gehorchten, ja, den Rahmen eines fürstlichen Salons zu sprengen schienen. Gerade das in c-moll, lebenslang Beethovens Trotz-, Zorn-, und Pathos- Tonart.

Seine Trios sind nicht mehr dreisätzig, sondern viersätzig, wie Sinfonien, ebenso die Klaviersonaten, deren Anspruch sich ab op.10 zuweilen schon im Titel ankündigt: Grande Sonate.

Alles ist groß oder geht in die Extreme: das schnellste Tempo ebenso wie das langsamste, die äußerste Lautstärke ebenso wie das fast unhörbare Pianissimo. 1803 schreibt er den längsten Sinfoniesatz, der je bis dahin zu hören war (Eroica) und 20 Jahre später auch eine Bagatelle (op.119,10) von 14 Sekunden.

Das ganze Klaviertrio dauert länger als etwa eine Haydn-Sinfonie, und wir sind froh darüber, kein Takt ist zuviel.

Eine neue Epoche hat begonnen!

PAUSE

JR MODERATION 8. Mai 2016 Trio-Konzert Solingen Gesenkschmiede mit Almuth Wiesemann, Peter Lamprecht und J.Marc Reichow

DVORAK „Dumky“

Die Musikgeschichte ist voll von Schönheit, Geist, Glauben, Leidenschaft und Dissonanzen, nicht immer am Ende aufgelösten. Nur böse Zungen behaupten, dass dies in der Neuen Musik sowieso erst geschieht, wenn die Musik selbst vorbei ist. Ein Novum war aber auch das, was Sie eben am Ende von Beethovens Opus 1, dem dritten Trio in c-moll, erlebt haben: dass die Musik, statt mit starken Schlägen zu enden, immer leiser wird und im äußersten Pianissimo verklingt.

Auch im Leben ist es unterschiedlich: es gibt bekanntlich die Altersmilde und die Altersradikalität.

Und wissen Sie, welches Beethoven-Werk der größte Publikumserfolg war? Die Neunte Sinfonie? Die Missa solemnis? Nein: Wellingtons Sieg bei Victoria, mit den Fanfaren und echten Kanonenschüssen.

Aber es gibt auch diesen tief verwurzelten Antagonismus, wozu denn die Musik eigentlich da ist: uns zu unterhalten oder zu erheben, ob wir Zerstreuung brauchen oder zusätzliche Anstrengung.

Ich kann es auch anders sagen: Chaos oder Konzentration, bloße Aneinanderreihung oder logische Entfaltung, man könnte auch sagen: Deutsche Gründlichkeit oder böhmisches Musikantentum?

Übrigens, der Satz: „Sie sind ein echter Musikant“ kann auch als Beleidigung gemeint sein und heißt dann im Klartext: Nachdenken ist nicht Ihre Stärke! Mal spricht man anerkennend von einer netten Plauderei, und hinterher vielleicht, dass der andere von A-Z drauflosredet.

Es ist wirklich eine Frage des Zusammenhangs und der Akzentuierung.

Sagen Sie einem Geiger nicht: Ihr Instrument klingt aber herrlich. Jascha Heifetz hielt sich dann seine Stradivari ans Ohr und sagte: „Ich höre nichts!“

Das gilt auch für das Cello, das Peter Lamprecht in seiner Doppel- oder Vielfachbegabung sogar selbst gebaut hat.

Und das gilt auch für das Klavier, falls es Ihnen heute besonders gut gefällt: Aber auch im wörtlichen Sinn hätten Sie ganz recht, – das Instrument ist hoch kultiviert, ideal für kleine Säle, Salons oder Wohnräume, kein Konzertpanzer, ein Schimmel-Flügel, von dem bekannten Klavierbauer Peter Stolz perfekt restauriert. Und jetzt kommt das Beste: dieser wunderschöne Flügel ist zu kaufen. Achten Sie auf den Klang, – Sie können ja nachher einmal das Ohr ans Holz legen, es klingt fast von selbst.

Man erzählt gern, wieviel Dvorak der Förderung durch Brahms verdankte, der seinen Einfallsreichtum bewunderte, aber dazu gehörte auch der Rat: „Sie schreiben einigermaßen flüchtig. Wenn Sie jedoch die fehlenden (Kreuze, Bs und Auflösungszeichen) nachtragen, so sehen Sie auch vielleicht die Noten selbst, die Stimmführung usw. bisweilen etwas scharf an.“

Da war Dvorak immerhin schon 37, Brahms nur 8 Jahre älter. Sie waren ganz verschieden.

Nach einem freundschaftlichen Gespräch über Gott und die Welt soll Dvorak einmal ziemlich erschüttert geäußert haben: „Solch ein Mensch, solch eine Seele – und er glaubt an nichts, er glaubt an nichts!“

Aber Brahms hat sich nie auf seine „Ungarischen Tänze“ festnageln lassen, er gab ihnen nicht mal eine Opuszahl! Abgesehen von seiner prägenden Begegnung mit Robert Schumann, der ein glühender Beethovenianer war, spürte er einen unerhörten Druck: „Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört.“

Das ist die typisch deutsche (- österreichische) Situation im 19. Jahrhundert. Sonate! Sinfonie! Sonatenform! Auch in allen Quartetten, Quintetten und Klaviertrios ! Das sind die Standards, an denen auch ein Tscheche oder Böhme gemessen wurde, der in Wien zu reüssieren suchte. Mochten seine „Klänge aus Mähren“ und seine „Slawischen Tänze“ noch so erfolgreich sein. Das geht bis in unsere Zeit: in der Taschenpartitur des Trios, das Sie gleich hören werden, steht, der Komponist habe damit „sein ursprünglichstes und slawischstes Kammermusikwerk geschaffen, er mache sich damit „völlig frei von der deutschen klassischen Form“, – nachdem er sie übrigens im vorigen Klaviertrio – vor sieben Jahren – perfekt erfüllt hatte. Und doch liest man ausgerechnet in einem umfangreichen tschechischen Musikführer der 50er Jahre mit Erstaunen, dass dem Autor Otakar Šourek auch dieses programmatisch „Dumky“ genannte Trio ohne Sonatenform nicht ganz geheuer ist:

„Mag es sich hier auch nicht um ein organisches Tonwerk von Sonatenform im strengen Sinne des Wortes handeln, so tritt doch ganz ersichtlich das Bestreben zutage, die Umrisse der Sonatenform und ihre stimmungsmäßige Ausrichtung beizubehalten. Wir können die ersten drei Dumkas in ihrem Zusammenschluß als einen Einleitungssatz auffassen, in dem allerdings die Sonatenform durch eine zweiteilige oder eine rondoartige dreiteilige ersetzt ist; die vierte Dumka weist mit ihrem ganzen Charakter auf einen langsamen Sonatensatz hin, ähnlich ist die fünfte Dumka eine Analogie des Scherzosatzes, und die letzte Dumkla beschließt das Werk nach Art eines Rondo-Schlußsatzes.“ (O. Šourek)

Was ist eine Dumka?

Es wäre müßig, eine Sammlung ukrainischer Dumka-Balladen oder Klagelieder zu durchstöbern, um Familienähnlichkeit mit Stücken aus Dvoraks Trio zu entdecken. Man behauptet ja, „daß der Komponist selbst über das eigentliche Wesen der Dumka im Unklaren verblieb“. (Fiske)

Aber welches war denn das Wesen der Duma (Diminutiv: Dumka, Plural: Dumky), wörtlich „Gedanke“, nachdem sie einmal über die Grenzen ihrer ukrainischen Heimat hinausgewandert war und in anderen slawischen Ländern (Polen!) auch als rein instrumentales Stück von nachdenklichem, melancholischem Charakter auftauchte und zudem in der Kunstmusik eigens stilisierte Modelle mit einer eigenen Tradition gebildet hatte?

In diesen letzteren Bereich gehört offenbar die Kombination mit einem schnellen Tanz (Furiant, Polka o.ä.); die Bedeutungserweiterung des Wortes Dumka erfolgte demnach anders als beim ungarischen Csárdás, der ursprünglich nur als schneller Tanz galt und erst später seine „typischen“ rezitativisch-improvisatorischen Einleitungs- und Zwischenabschnitte erhielt.

Es ist erfindungsreich, ausdrucksvoll und dabei so leicht konsumierbar wie Unterhaltungsmusik. In seinem Aufsatz „Music in America“, – in den USA feierte Dvořák in den folgenden Jahren ja seine größten Erfolge –, da scheute er sich nicht zu bekennen, was er mit Musik geben wollte: „pure pleasure“!

Man sollte wissen: Dvořák hatte von Jugend an mit einem eher trivialen als rustikalen Milieu zu tun gehabt, und er hat damit spielen gelernt wie Chopin mit der Süßigkeit des Salons. Das Kind Antonin spielte Geige und hat in der Dorfkapelle seines Geburtsortes Nelahozeves (Nalžoves – Mühlhausen) mitgegeigt, der Jugendliche dann in der Kapelle des Städtchens Zlonice. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Musik, die doch mehr von der nächsten Großstadt und von deren Notenmaterial als von Dudelsackpfeifern geprägt war, obwohl man denen durchaus noch begegnen konnte.

Jedenfalls waren die Ensembles imstande, nicht nur im Wirtshaus zum Tanz aufzuspielen, sondern auch kleine Serenaden zu geben. Die Leiter waren ausgebildete Musiker, die ersten Lehrer Dvořáks, typische Verkörperungen des böhmischen Kantors, an denen er sich noch lange orientierte. Nach seiner Studienzeit in Prag hatte er keinen anderen Wunsch, als eine Anstellung als Organist zu finden, wie es seiner tatsächlichen Ausbildung entsprach, aber er landete stattdessen in der Musikkapelle Karl Komzák, die in Kaffeehäusern, auf öffentlichen Plätzen und in Biergärten zu Tanz und Unterhaltung aufspielte. Daheim studierte er die Wiener Klassiker. Er war seit jungen Jahren mit den unteren und oberen Koordinaten der musikalischen Welt des Bürgertums vertraut und blieb es auch in gesetzterem Alter. Heute würde man sagen – ohne Berührungsängste.

Zwar war ihm am Nachweis seiner Befähigung zur großen deutschen Form zeitlebens gelegen, aber vielleicht ist es kein Zufall, dass er gerade in dem Moment, als er sie in einer klassischen Kammermusikbesetzung zugunsten einer böhmisch-slawischen Suite ignoriert, mit akademischen und anderen Weihen überschüttet wird: Angebot der Professur am Prager Konservatorium, Mitgliedschaft in der Tschechischen Akademie der Künste, Ehrendoktorwürde der Prager Universität, Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge, Angebot der Direktorenstelle am New Yorker National Conservatory.

Wenn man sein Trio „Dumky“ oder seine amerikanisch inspirierten Kompositionen hört, wird man die Erschließung dieser scheinbar einfachen Linien und Formeln nicht geringschätzen; ebensowenig die wunderbaren agogischen Freiheiten, die seit Ende des 18. Jahrhundert immer mehr aus der großen notierten Musik verbannt wurden und zu denen die Künstler sich hier nun wieder ermächtigt fühlen. Vor diesem Hintergrund kann man auch die grandiose collagenartige Konstruktion der Streichquartette von Leoš Janáček sehen und die erstaunliche Entfaltung der rhapsodischen Monodie bei Bartók.

War Dvořák nur ein Musikant? Ist es das richtige Wort?

Wie auch immer er gefeiert wird, – niemand ist schutzloser gegenüber intellektueller Herablassung als ein genialer Musiker, dem die Worte fehlen; es sei denn einer, der sich auch noch selbst – „Musikant“ nennt.

Janáček, der ihn gut kannte, hat lebhaft der Ansicht widersprochen, Dvořák sei unintelligent gewesen. Im Gegenteil, man habe Dvořák stets in Gedanken vertieft gesehen.

„Seine Intelligenz war aber von ganz besonderer Art“, sagte Janáček, „er dachte ausschließlich in Tönen, anderes war für ihn nicht vorhanden“. An eine solche Rechtfertigung hätte Dvořák nun auch wieder nicht gedacht:

„Obzwar ich genug in der großen Welt der Musik herumgekommen bin,“ meinte er, „bleibe ich doch nur, was ich bin – – – ein schlichter tschechischer Musikant.“ (9.1.1886)

Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass es in des Meisters Sinn ist, wenn ich Ihnen jetzt viel Vergnügen wünsche oder sogar „pure pleasure“.

(TEXT © Jan Reichow 2016)

Musik machen – oder Liebe?

Von der performativen Wende

In einem sehr lesenswerten Text über „Die Qualitätsfrage“ beschäftigt sich Claus-Steffen Mahnkopf mit dem gestörten Verhältnis der Kunstwelt gegenüber der großen Musik. Aufklärung sei ohnmächtig gegenüber der Faktizität des Wandels der Musikkultur.

Die Postmoderne agierte mit der Verleugnung von Wahrheitsansprüchen performativ (also nicht argumentativ); der Turbokapitalismus wirkt bis in die hintersten Winkel der Köpfe und Herzen der Kunstakteure hinein. Die Folgen sind ein bequemes Mittelmaß und ironischerweise ein besonders unangenehmer Geniekult, nämlich der der wenigen verbliebenen „großen Komponisten“. Das  Mittelmaß zeigt sich nicht nur in der Produktion, sondern auch bei den Akteuren, denen Toleranz gegenüber Schlamperei mehr zählt als die Insistenz auf Problembewältigung.

Er sieht zwei Ursachen für das gestörte Verhältnis der Kunstwelt gegenüber der Idee der großen Musik. Die erste sei die Angst.  Und er fragt, ob es die Angst vor hoher libidinös-erotischer Bindung sei, die „entsteht, wenn Musik uns erst einmal und dann für das ganze Leben verführt hat“. Zumal wenn wir sie, als „große Kunst“, nicht mehr mit der Idee eines sinnvollen, erfüllten und gehaltvollen Lebens zu verbinden vermögen, „ja mit einer Kultur der Liebe“. Und in einem mutigen Sprung zieht er eine Verbindung zu dem, was man mit „Liebe machen“ umschreibt, einmal „um ihn oder sie, biblisch gesprochen, zu erkennen – oder einfach um Spaß zu haben.“  Der Vergleich ist nicht unergiebig, aber mir geht es an dieser Stelle um die zweite Ursache. Mahnkopf widmet sich hier dem, „was Hanno Rauterberg in einer glänzenden Analyse des Kulturbetriebs Postautonomie nennt.“ Ich zitiere das gern, weil es mich in meiner Lektüre weiterführt (siehe hier) und einen weiteren Zusammenhang schafft. Bemerkenswert das Wort von der performativen Wende.

Der Zeitgeist – die ubiquitären Verstrickungen des Kapitals, der gesteigerte Narzissmus der Akteure (Künstler, Kunstvermarkter, Kunstaussteller, Kunstberichterstatter), die symbolischen Potenzen der Mediengesellschaft, die Erschöpfung der großen Theorien – ist so mächtig, dass die Kunst zu angepasster, sich andienender, mitverdienender Gesellschaftskunst wird, die ihre Eigenlogik aufgibt und damit ihre Souveränität aufgibt. Auf eine ähnlich kenntnisreiche Studie des zeitgenössischen Musiklebens werden wir wohl noch lange warten müssen, können jedoch hochrechnen: Auch hier hat der Zeitgeist zu einer Anpassung und zu immer subtileren Formen gefälschten Bewusstseins geführt.

Wir müssen uns eingestehen, dass der Modus des Betriebs nach der performativen Wende, mithin das Primat des Machens, eine Korrektur, obwohl sie dringlicher denn je ist, nicht vorsieht. Das Verschwinden einer autonomen professionellen Musikkritik (*Anm.) und eines intellektuellen Diskurses auf der Höhe der Wissenschaft, in dem die systemrelevanten Entscheidungen wie Kompositionsaufträge, Repertoirebildung, Anerkennung nicht primär unter dem Aspekt der Qualität getroffen werden. Qualität ist diesem Modus zufolge eine sekundäre „Tugend“.

Hierbei gibt es drei Verlierer. Das Publikum bekundet durch konzentriertes Zuhören, mithin Stille im Saal und den entsprechenden Applaus sehr wohl ein Gespür für Qualität. Allein, es entscheidet nicht, hat keine Macht. Und die Interpreten, die, von einer Uraufführung zur anderen gejagt, kaum ein Stück richtig erlernen und verstehen können und auf eigene Repertoirebildung verzichten müssen.

Verlierer ist auch der Komponist. Musikalische Kreativität außerhalb des Systems der Aufführungen, mithin des Musikbetriebs, kommt kaum weit. Mag man eigene Instrumente und klangliche Apparaturen kreieren, die für die Rezeption von Musik unverzichtbare Öffentlichkeit fehlte.

Quelle Claus-Steffen Mahnkopf: Die Qualitätsfrage / in: Musik & Ästhetik Heft 78 April 2016 (Seite 88 f)

*Anm.: Mahnkopf verweist an dieser Stelle auf den Essay von Julia Spinola zur Frage Schafft sich die Musikkritik ab? (Siehe Musik & Ästhetik 66 (2013).

Lautstärke in alter Zeit

Regelung und Rekonstruktion akustischer Verhältnisse  

(In Arbeit seit Ende März)

Natürlich ist es von größtem Interesse, an welche Konzerträume Beethoven gedacht hat – ganz unabhängig von seiner beginnenden Taubheit -, wenn er sich die Realisierung seiner Werke vorgestellt hat. Das Fortissimo des Orchesters musste umwerfend mächtig, ein Tremendum, aber auch das feinste Pianissimo sollte wahrnehmbar sein.

Konzerträume vorn Konzerträume rück

In diesem Moment (7.4.16 10:27 h !!!) erreicht mich eine Mail mit dem folgenden Inhalt. (Ich ergänze die Meldung später in einer Anmerkung am Ende des Beitrags):

Ein klanglich besonderer Ansatz gelingt dem Orchester Wiener Akademie und seinem Leiter Martin Haselböck. Mit „RE-SOUND Beethoven“ werden die orchestralen Werke Beethovens an den Originalschauplätzen der (Erst-)Aufführungen in einen klanglichen Kontext zur Architektur gestellt. Originalinstrumente sowie Anekdoten über die Aufführungspraxis und den historischen Programmablauf zu Zeiten Beethovens bilden dabei das Fundament. (JR: s.a. HIER)

Des weiteren spielte die Geräuschwelt außerhalb des Saales durchaus schon eine Rolle, so dass man u.U. Konzerte nur im Winter stattfinden ließ, – wenn auch der Musiker J.G. Müthel ein Unikum gewesen sein mag (Zitat Wikipedia):

In den letzten Lebensjahren zog sich Müthel mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurück, schien sich aber trotzdem in Riga wohlzufühlen, da er mehrere Angebote aus Deutschland ablehnte. Bekannt wurde die Anekdote, dass er sich zuletzt nur noch im Winter als Pianist öffentlich hören ließ, da nur dann der Schnee das Gerassel der vorbeifahrenden Wagen auf ein für den Künstler erträgliches Maß dämpfte.

Auch das Beispiel Schopenhauer ist bekannt, der das Peitschenknallen der Kutscher als schlimmsten Feind der Gedankenentwicklung anprangerte.

Die antike Welt, in der es – im wörtlichsten Sinne – von politischer Tragweite war, wie weit die Stimme trug, man denke an die Übungen des Redners Demosthenes, der das starke Reden am brausenden Meer und im raschen Lauf bergan übte, oder auch mit Kieselsteinen im Mund (siehe hier), an die Bedeutung des Marktes, der Agora, des Forums, wo der Politiker von vielen Menschen direkt gehört werden konnte, aber auch an die ausgeklügelte Akustik der Theater, das allerdings ein geschlossener Ort war, den man aufsuchen musste, – keine „unwillkürliche“ Öffentlichkeit, die sich zu bestimmten Tageszeiten – fluktuierend – auf den großen Plätzen im Zentrum bildete. Dort bedurfte es nur noch der Ausrufer oder der starken, signalgebenden Instrumente, die oft genug den Vornehmen oder den Herrscher vorbehalten waren (wie auch bestimmte Farben), um Aufmerksamkeit zu heischen oder zu erzwingen. Man denke auch an Stentor, den „großherzigen, mit der ehernen Stimme, der so laut zu rufen pflegte wie fünfzig andere“ (Homer, Ilias 5,784–791).

Die Frage, in welchem Radius man den Redner auf dem Forum Romanum verstehen konnte, hat durchaus politische Bedeutung und bewegt heute durchaus die Wissenschaft:

HIER http://www.digitales-forum-romanum.de/wp-content/uploads/2014/06/Muth-Susanne-Holger-Schulze_Wissensformen-des-Raums_CZ-55_7-11.pdf

Zurück in die ewige Gegenwart: Beethoven bzw. Beethoven und seine historischen Konzerträume! Folgenden Termin vormerken 10. April 2016, 09.45 – 10.45 Uhr im WDR Fernsehen.

Pressetext:

Alle Symphonien Beethovens wurden in Wien uraufgeführt. RESOUND Beethoven bringt diese auf Instrumenten ihrer Entstehungszeit erstmals in die prachtvollen Theater und Konzerträume ihrer Premieren zurück. 

In der Präsentation der Konzerte wird dabei besonders darauf geachtet, die Intensität der Uraufführungen wiederzubeleben: Orchesteraufstellungen, Platzierung des Chores vor dem Orchester, ja selbst die Positionierung des Publikums soll mithelfen, die von der heutigen Musikpraxis doch sehr unterschiedlichen Aufführungsstil wiederzubeleben. 

Partner in der musikwissenschaftlichen Aufbereitung der Konzertserie ist die Universität Wien (Univ. Prof. Dr. Birgit Lodes) .
In der Kombination von Konzerten und Vorlesungen soll  auch die bereits in der Vergangenheit beim Publikum mit großem Interesse aufgenommene Kooperation mit den Wiener Vorlesungen (Univ. Prof. Dr. Hubert Christian Ehalt) fortgesetzt werden.

http://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-klassik/sendungen/re-sound-beethoven-100.html bzw. HIER

Weitere in der Rubrik ZEITGESCHICHTE anklickbare Informationen:

International ausgewiesene Beethoven-Forscherinnen und -Forscher thematisieren anschaulich inhaltlich übergeordnete Aspekte zur Musik und Musik-Rezeption Beethovens zu seiner Zeit. Nach einer Klangreise durch Beethovens Konzerträume wird seine symphonische Umgebung in Wien genauer erkundet. Dann werden Fragen zur Interpretation seiner Werke erörtert, um schließlich Beethovens engmaschiges Netzwerk aus Förderern und Mäzenen kennenzulernen.

Univ.-Prof. Dr. Klaus Aringer
“wie geschwinde die Pauken umgestimmt sind” – Beethoven und das Orchesterinstrumentarium seiner Zeit ›

Univ.-Prof. Dr. Markus Grassl
“Listening in Vienna – Wie hörte man Beethoven zu seiner Zeit?” ›

Univ.-Prof. Dr. Birgit Lodes
“Beethovens berühmte Akademie im Festsaal der alten Universität – ein WiederHören” ›

Univ.-Prof. Dr. Stefan Weinzierl (Autor des oben abgebildeten Buches)
“Der Festsaal der Alten Universität und die Konzerträume Ludwig van Beethovens in Wien” ›

Univ.-Prof. Dr. Birgit Lodes
“Die Widmungsträger von Beethovens Symphonien” ›

Virtualität

Innere und ausgelagerte Gedanken

Die Musik läuft wie keine andere „Gedankenkunst“ (um es in aller Vorsicht einmal so zu benennen) Gefahr, missdeutet und ihres Realitätsgehaltes beraubt zu werden. Man hört oder sieht es ihr nicht ohne weiteres an, dass sie mit mimetischen Vorstellungen arbeitet und auch körperlich verstanden werden muss. Der Anfang der Musik könnte heißen: aghat – „schlagen“, „verwunden“.

Die schöne indische Lehre von der Herkunft der Musik aus einer Welt der Stille, dargestellt von Vidya Rao (Music today, New Delhi 1992), von mir in vielen WDR-Sendungen zitiert:

Nadbrahma Music Appreciation Vol.1

Im Jahre 1989 hatte ich mich mit den esoterischen Theorien des Joachim E. Berendt auseinandergesetzt, die sich damals einer merkwürdigen Popularität erfreuten. Selbst ein Philosoph wie Peter Sloterdijk hat sich vor den Karren spannen lassen und seltsam verschlungene Worte der Anerkennung gefunden, was mit seinen eigenen Indienerfahrungen und -missverständnissen zusammenhängen mochte (vgl. „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung“1987). Für mich war die Nada-Brahma-Formel für immer unbrauchbar geworden, ich sah die Klarheit und Größe der indischen Musik, der meine jahrelange Arbeit gegolten hatte, in ein gefühliges Ungefähr verzerrt. Die ganze Polemik findet man hier, Berendt sah sich zu ausführlichen privaten Stellungnahmen genötigt, für mich war die Angelegenheit mit deren Veröffentlichung erledigt. Und die heutigen Performance-Inszenierungen klassischer Musik, die von ferne an esoterische Musikaufführungen von einst – etwa in der Balwer Höhle – erinnern mögen, haben ein ganz anderes Niveau (Levit, Grimaud).

„Damit das Wort ‚Klang‘ in diesem Zusammenhang vollends klar wird, muss realisiert werden: ‚Klang‘ existiert für das wissenschaftliche Denken durchaus auch als Abstraktum. So empfinden ihn auch die Musiker: Bevor sie ihn spielen, lesen sie ihn in der Partitur. Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren. Erst dann ’speisen‘ sie ihn ein in ihr Instrument. In genau diesem Sinn ’speist‘ das Universum ständig Klänge in jedes einzelne seiner ‚Instrumente‘ – vom Atom, und vom Gen bis zum Planeten und Pulsar.“ (Joachim E. Berendt)

Diesen Rollenwechsel des Klanges, des in der Partitur gelesenen, sollten wir nachklingen lassen: „Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren.“ Oder so ähnlich.

Lieber Professor h.c.! Für einen Musiker liegen zwischen diesen Nadas ganze Brahmas. Ich kann ein wenig Partitur lesen, und das heißt: Ich stelle mir den Klang vor. Wenn mir aber jemand erklärt, das s e i  bereits der Klang, verzeihen Sie, so möchte ich ihm all meine abgenutzten Lieblingsschallplatten um die Ohren knallen oder ihn zu einem gemalten Mittagessen ins Museum einladen.

Dieses Insistieren auf dem realen Klang hat ihn offenbar am meisten irritiert, auch wenn er das „Um-die Ohren-Knallen“ wohl als verbale Aggression empfunden hat, während ich es natürlich nur gedanklich-metaphorisch gemeint hatte. Wie denn sonst??? – Andererseits würde ich gern weiterhin über die Natur des Klangs in unserer Vorstellung nachdenken. Denn in der Tat kann das innere Hören mit erstaunlicher Intensität erfahren werden. Das gilt aber in gleicher Weise für viele andere Vorstellungen, die wir keinesfalls mit den realen Vorgängen gleichsetzen.

Damals hätte ich ein nützliches Büchlein zitieren können, das dem ganz pragmatischen Umgang mit notierter „Opusmusik“ gilt: Partiturlesen / Ein Schlüssel zum Erlebnis Musik / Von Michael Dickreiter (Goldmann Schott 1983). Es beginnt (Seite 7) folgendermaßen:

Sind Noten eigentlich Musik? Ist eine Partitur – die übersichtliche Zusammenstellung aller Orchesterstimmen, auch der Solo- und Chorstimmen einer Komposition – nur die Summe vielfältiger Anweisungen, was jeder Musiker zu spielen hat, oder ist die Partitur selbst schon Musik? Fest steht immerhin, daß die meisten Komponisten ihre Werke schreiben, ohne ein Musikinstrument zu Hilfe zu nehmen, daß Musiker, aber auch viele geübte Laien, sich durchaus vorstellen können, wie eine Komposition klingen wird, auch wenn sie die Partitur nur lesen. In ihrem Bewußtsein entsteht dabei nämlich ein Klangbild, das freilich akustisch nicht vorhanden ist. Ist diese Vorstellung Musik? Auch wenn Musik erklingt, erleben wir sie ja nicht als Schwankungen des Luftdrucks, sondern wir erleben sie bewußt sozusagen nach einer „gehirngerechten“ Umwandlung der physikalischen Schwingungen durch das Gehör. So werden gelesene und gehörte Noten erst im Bewußtsein des Menschen zu Musik, Partiturlesen ist wohl auch eine Form des Musikerlebens.

Also doch?

Natürlich. Wie eben schon gesagt. Niemand bezweifelt die Kraft des Gedankens, der Idee, der (bloßen) Vorstellung, des scheinbar realen Bildes im Kopf. Ich erinnere mich genau, wie ich bemerkte, dass es eine von mir quasi losgelöste Existenzform annahm, lange bevor ich in die Schule kam. Lange? Vermutlich zwischen meinem fünften und sechsten Lebensjahr.

Vorausgegangen waren nächtliche Angstträume, die wohl mit körperlichen Zuständen zu tun gehabt haben, Mangelernährung in den letzten Kriegsjahren, kombiniert mit Bildern und psychologischen Machtmodellen (Phantasien von Herrschaft und Unterwerfung), die aus Grimms Märchen und ähnlichem Vorlesestoff (Tiergeschichten!) stammten. Eines Tages kam etwas Neues hinzu: Ich wollte gar nicht warten, bis ich abends im Bett lag, sondern legte mich am hellichten Tag aufs Sofa und schloss die Augen, um meine eigenen Geschichten zu sehen (ich habe sie noch nicht Film genannt, weil ich noch keine Filme kannte, nur Hörspiele). Dass meine Großmutter in Schrecken geraten würde, hatte ich geahnt.

(Fortsetzung folgt)

Die Zitate hier einbeziehen und fortsetzen (S.K.Langer)
E.M.R.-Aufsatz s.u.
Julian Jaynes‘ Idee

ZITAT E.M.R. (26.02.16):

Cathrin Kahlweit schreibt, die Virtualität des Netzes ersetze eigene Aktivitäten und die eigene Identität. Je nachdem, auf welche Weise man das Internet nutzt, behält sie Recht. Wer seinen fiktiven Rollenspielcharakter stundenlang durch eine virtuelle Welt spazieren lässt, kann sich schnell in dieser Fiktion verlieren und das im Virtuellen erlebte als wirkliche eigene Erfahrungen wahrnehmen. Oft genug hört man zufällig in der Öffentlichkeit Gespräche mit, in denen es darum geht, wer wie viele Personen mit welchen Waffen umgelegt habe, und erst im Laufe des Gesprächs wird dem unfreiwilligen Zuhörer klar, dass mit „Ich“ eine aus Pixeln zusammengesetzte Figur, die mit Tastenkombinationen über den Bildschirm gesteuert wird, gemeint ist.

Trotzdem gibt es durchaus Möglichkeiten, sich im Internet selbst zu verwirklichen. Im Internet kann ich eine Fotografin sein, ich kann zur Aktivistin werden, indem ich per Mausklick Petitionen für Greenpeace oder Amnesty International unterschreibe, ich kann zur Autorin, Musikerin oder Komikerin werden oder zu allem gleichzeitig. Wenn ich die Anerkennung für meine Werke bekomme, fühlt sich das alles real an. Trotzdem erweist es sich als kompliziert, die realen Dinge von den weniger realen zu unterscheiden, wenn alles im Internet stattfindet.

Durch das Internet wird einerseits alles öffentlich gemacht, andererseits herrscht aber auch eine gewisse Anonymität. Selten kann man mit Sicherheit sagen, dass das virtuelle Gegenüber wirklich der ist, der er vorgibt zu sein. Umgekehrt kann er dies auch nicht beurteilen. Fragwürdig ist auch, ob man selbst weiß, wen man online darstellt. Mit der Zeit kann sich ein Verlangen danach entwickeln, nur seine besten Seiten preiszugeben – oder aber einige bessere Seiten hinzuzufügen, so dass der Bildschirm eine Art Fassade zur Außenwelt ist.

Quelle Schulaufsatz Stuttgart 26.02.16 Eos (17 Jahre)

Zur Alten Musik gestern und heute

Neue Pläne

HIER

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Fritz Neumeyer gilt vielen als Vater der historischen Aufführungspraxis, da er ernst gemacht hat mit den Originalinstrumenten, also vor allem mit den Tasteninstrumenten, für die die alte Musik geschrieben worden ist. Er hat ein halbes Jahrhundert überschaut und beeinflusst. Aber was in den Generationen nach ihm geschah, hätte ihn sicher nicht wenig verwundert, vor allem was an rhythmisch-agogischer Freiheit gewagt wurde, und ganz besonders: im Tempo. Am Ende ging es nicht allein um die historisch korrekte Verortung der Werke, um den Klang, um Erforschung und Amalgamierung der Ornamentik, sondern auch um die Befreiung von „Inkrustationen“. Als Ensemble-Mitglied plädierte „Onkel Fritz“ gern für einen natürlichen Zugang zur Musik, er neigte nicht zur Exzentrik, zur Selbstinszenierung, zur Verblüffung des Auditoriums. Aber wenn man seine feinsinnigen Marien-Kompositionen und die Bearbeitungen lothringischer Volkslieder kennt, weiß man, dass er zwar ein sanfter Revolutionär war, der aber auch den Gestus des wilden Lindenschmieds umzusetzen wusste.

Die Trompeten des Tutanchamun

Hintergrund einer SPIEGEL-Geschichte

Es gibt immer mal wieder Gelegenheit für jedermann, als Seiteneinsteiger Zugang zur Musikethnologie zu finden. Aber es scheint nicht zu genügen, einer wirklich fremden Musik zu begegnen, sie soll möglichst auch noch aus der tiefsten Tiefe der Geschichte aufsteigen, darüberhinaus aber doch mit Klavier und Sinfonieorchester aufführbar sein, so dass man sie leichter fassen kann.

Ein Urteil ist nicht schwer: Jemand, der eine Leier zusammengebaut hatte, deren Pläne er einem 3400 Jahre alten Dokument verdankte, entlockte ihr elegische Tonfolgen und meinte: „Es klingt sehr fremdartig, aber es ergibt Sinn.“

Ja, wenn wir nur wüssten, was das ist: musikalischer Sinn. Dann hieße es hier wohl korrekterweise: es ergibt keinen Sinn.

Der SPIEGEL brachte jüngst einen Bericht, der solche Fragen wieder aufwarf, und es ging los, mit Pauken und Trompeten:

Mehr als 3000 Jahre lang waren sie verstummt. Dann erweckte ein britischer Militärtrompeter die Instrumente wieder zum Leben: In einer Liveübertragung der BBC ließ er die Trompeten des Tutanchamun erklingen.

Die beiden Instrumente, das eine silbern, das andere aus Bronze, waren im Grab des Pharao gefunden worden.

Die Vorführung des BBC bewies, dass ihnen die Jahrtausende in der Gruft nichts anhaben können. Voll, durchdringend, lebendig klangen ihre Fanfaren. „Die silberne Stimme hallt aus einer glorreichen Vergangenheit zu uns herüber“, verkündete der Radiosprecher. 150 Millionen Menschen weltweit hörten zu.

Es war ein Gänsehautmoment der Archäologie. Und er wird einzigartig bleiben. Ein Praxistest wie an jenem Sonntagnachmittag des Jahres 1939 wird sich wohl nie wiederholen lassen. Denn kein Kurator wäre mehr bereit, eines der wenigen erhaltenen Musikinstrumente des Altertums dafür herauszugeben.

Quelle DER SPIEGEL 13/2016 Seite 112 Hymne auf die Göttin In Mesopotamien erklangen einst Trommeln, Harfen, ganze Orchester. Jetzt ist es Forschern gelungen, den Klang der jahrtausendealten Musik zu rekonstruieren. Von Johann Große.

Heute ist ein ähnlicher Tag: angeblich steht es kurz bevor, dass man Einblick in bisher unbekannte Hohlräume des Tutanchamun-Monuments bekommt. Die Totenkammer der Nofretete? Einerseits wieder ein neuer „Gänsehautmoment“, zweifellos. Andererseits schreiben wir den 1. April.

Es kann nicht schaden, ein paar Hinweisen nachzugehen. Gibt es die Trompeten des Tutanchamun? Haben sie Mundstücke, die einen Hinweis zur Anblastechnik und zum Klang geben? Siehe zunächst unter „Scheneb“ in Wikipedia.

Und nun etwas näher an die BBC-Quelle: Recreating the sound of Tutankhamun’s trumpets  Hier

Tatsächlich ist im Text zweimal vom Mundstück die Rede. Der Sohn des Trompeters Lucas, der das Originalinstrument 1939 gespielt hat, erzählt: „I was astonished with the quality of it, he said. How the original trumpeters played them is totally beyond me… [my father] used modern mouthpieces but the actual expertise he used is quite astonishing.“ Es ist aber auch die Rede davon, dass man von einem früheren Fehlversuch wusste, als nämlich die silberne Trompete einmal vor König Farouk gespielt werden sollte: „[The] story goes that the precious instrument shattered, possibly because of a modern mouthpiece being inserted to play it. According to Mr Keating’s colourful account, Mr Lucas was left as shattered as the trumpet and needed hospital treatment. The instrument, at least, was repaired.“

Die Geschichte gibt Anlass zu Zweifeln: man muss sich nur erinnern, welche Bedeutung der Pionier der „neuen“ Alten Musik, Nikolaus Harnoncourt, der Form des Mundstücks bei Blechinstrumenten beimaß, so kann man sich leicht vorstellen, wie authentisch der Klang eines altägyptischen Instrumentes mit modernem Mundstück sein kann. Man muss auch nur eine afrikanische Trompete wie die Kakaki gehört haben, um damit zu wissen, dass eine alt-ägyptische Trompete keinesfalls so klingen wird wie die in Verdis „Aida“. Aber das weiß gewiss auch die Autorin der BBC-Sendung, Christine Finn. Hören Sie ihre Sendung HIER , am besten gleich auf 0:55 vorfahrend.

***

Merkwürdig, wie im Spiegel-Artikel die Geschichte von der pharaonischen Trompete mit der des uralten Saiteninstrumentes aus Mesopotamien verbunden wird. Nicht genug, dass man über diese Instrumentenkörper verfügt, man suggeriert, dass man auch ihres Geistes habhaft werden kann. Denn jeder weiß, dass es damals wie heute letztlich um Töne geht, also wohl auch um Musik. Wie wenn es nur zweitönige Fanfaren wären? Oder ein vieltöniges Gewaber? Nein, man weiß doch, – glaubt genau zu wissen, was es damit auf sich hat:

… wie keine andere Form der Kunst spricht die Musik direkt die Gefühlswelt an: versöhnliche Melodien wecken Sehnsüchte, aufputschende Rhythmen versetzen in Elstase, verschlungene Harmonien entführen in mystische Sphären. Was könnte besser geeignet sein, einen Zugang zum Lebensgefühl untergegangener Kulturen zu öffnen?

Mein Vorschlag: versuchen Sie es doch der Einfachheit halber zunächst mit lebenden Kulturen, – begeben Sie sich beispielsweise nach Nouakchott und hören Sie sich die diffizile Kunst der mauretanischen Griots an, „mit Originalinstrumenten“ und nicht nur im Vorübergehen, sondern täglich 3 Stunden lang, – was ist dann mit dem Lebensgefühl, den Gefühlswelten, den Sehnsüchten, Ekstasen und verschlungenen Harmonien? Da ist alles vor allem eines: fremd, fremd, fremd und will kein Ende nehmen. Und all die großartigen romantischen Projektionen funktionieren gerade in der Musik nicht eine Viertelstunde!

Und dann hören Sie sich die älteste Musik der Welt an, ein Fake sondergleichen, der auch im App DER SPIEGEL angeboten wird (ab 1:16):

Wie sagte doch Wotan vor Zeiten? Eines nur will ich noch: das Ende – das Ende!