Archiv für den Monat: April 2016

Grusel-Event bei Mozarts um die Ecke

Auf der Suche nach Flötenuhr und Orgelwalze

Mozart Orgelwalze  Henle-Ausgabe Klavier zu vier Händen

Warum wollte ich unbedingt Genaueres wissen als bei Hildesheimer, Geck, Solomon und all den anderen verdienten Autoren steht? Weil diese Musik so ernst, schön, traurig und triumphal ist – wir haben sie jetzt oft genug vierhändig gespielt, so dass sie ständig wuchs (ich kenne sie ja seit 1966, aber „kennen“ heißt garnichts!) -, ich kann es nicht auf sich beruhen lassen, dass die Biographen das reale Umfeld dieser Stücke gewissermaßen nur mit spitzen Fingern berühren. Ich wusste, mein Leseeindruck täuscht, konnte aber die Assoziation nicht unterdrücken, was ich wohl zu einer Musik sagen würde, die in der Plastinat-Show des Gunther von Hagens plärrend aus einer Musicbox dränge. Nein, der Vergleich hinkt noch und noch, aber die Wiener sollen wie verrückt in die Wachsfiguren- und Sarg-Show gelaufen sein, die da bei Mozarts um die Ecke in einer Wohnung als Mausoleum aufgebaut war, in mystisches Licht getaucht, wobei alle halbe Stunde geradezu jenseitige Klänge aus einem Musikautomaten drangen.

Am ausführlichsten berichtete bisher immer noch Wolfgang Hildesheimer (Frankfurt a.M., Suhrkamp 1980, Seite 362):

Zu den unbefriedigenden Aufträgen dieser Zeit gehören unter anderem drei Werke für ein Instrument, das gewiß nicht viel besser geklungen hat als eine Drehorgel: das „Adagio und Allegro für ein Orgelwerk in einer Uhr“ (K. 594), begonnen im Oktober auf der Frankfurter Reise, beendet in Wien Dezember 1790; das „Orgelstück für eine Uhr“ (Allegro und Adagio, K. 608, 3. März 1791) und das „Andante für eine Walze in eine kleine Orgel“ (K. 616, 4. Mai 1791). Aus diesen unbeholfenen Eintragungen im Werkverzeichnis geht hervor, daß Mozart selbst nicht recht wußte, wie er das ihm höchst unliebsame, „kindisch“ klingende mechanische Instrument eigentlich nennen sollte. Es handelt sich um Aufträge des Grafen Deym für das von ihm geschaffene Wachsfigurenkapinett mit Phantasiegrabmälern jüngst verstorbener Prominenter: eine Art Panoptikum. Die ersten beiden der drei Stücke sind Meisterwerke geworden, nicht nur als souveräne Bewältigung einer unliebsamen Aufgabe, Programmfutter für eine mißklingende Musikdose, nicht größer als eine Wickelkommode, sondern als in sich geschlossene Stücke absoluter Musik, ja, sie leben aus diesem Absoluten, denn hier gab es ja nichts mit instrumentenbedingter Klangfarbe auszudrücken.

Bei Martin Geck (Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2005, Seite 185) fallen die Werke – bei der einzigen Erwähnung –  leider auch irgendwie den Umständen zum Opfer:

Während dem Papa [Haydn] bei der Kanalüberfahrt speiübel wird, sitzt Mozart über Adagio und Allegro KV 594 für ein mechanisches Orgelwerk – eine schon in Frankfurt begonnene, höchst verhasste Brotarbeit. Sie ist gleich den Schwesterwerken KV 608 und KV 616 für das Wachsfigurenkabinett des Grafen Deym bestimmt, des späteren Gatten von Beethovens mutmaßlich „unsterblicher Geliebten“. Oder schreibt er gerade am Streichquintett KV 593 – neben KV 614 eine letzte, hoch experimentelle und doch zutiefst gelassene Antwort auf die Quartettkunst jenes Haydn, der nach seiner Rückkehr aus England keinen Mozart mehr vorfinden wird?

Bei Maynard Solomon (Bärenreiter Kassel 2005, Seite 475) kein Wort zur Qualität dieser späten Werke:

Mozart hatte seinem Vater dessen Ermahnungen, Kompromisse zu schließen, sehr verübelt; er fühlte sich gedemütigt, als Kammerkompositeur des Hofes in erster Linie Tanzmusik für Maskenbälle liefern zu müssen und beklagte den Zwang, zur Verherrlichung des Feldmarschall Laudon, als Teil einer Ausstellung in einem Wachsfigurenkabinett, für eine mechanische Orgel schreiben zu müssen. Jetzt jedoch war er geduldig und entschlossen, sich keine Steine in den Weg zu legen, den er gehen musste. Mozarts Anstrengungen gipfelten in der Darbietung zweier Opernpremieren in zwei verschiedenen Hauptstädten innerhalb eines Zeitraumes von drei Wochen. Ohne sich eine Pause zu gönnen, schrieb er anschließend das Klarinettenkonzert und machte sich sofort an das Requiem.

Und schließlich stieß ich auf die Internet-Leseprobe eines jüngst erschienenen, nicht gerade schmalen Buches, das man besitzen müsste, um auch die bezeichnende Widmung zu finden, – kurz nachdem ich mir auf dem Ramschtisch eines Buchladens in der Stadt wieder einmal Aufnahmen des Klarinettenkonzertes zugelegt hatte (unbedingt empfehlenswert die mit Eric Hoeprich unter Frans Brüggen), Stückpreis je 6,99 Euro:

Mozart Klarinette

Mozart Manno

Mozart Widmung

Der Anfang des Vorwortes (als „Gebrauchanweisung“) gehört bei Eva Gesine Baur zum Programm:

Alles wäre so einfach, hätte Mozart keine Briefe geschrieben. Oder testamentarisch verfügt, sie verbrennen zu lassen. Obwohl nur ein Teil von ihnen erhalten ist, führte Mozart die Nachgeborenen damit selbst auf die Fährte. Auf die Fährte eines Mannes, der seinen Vater belog und finanziell betrog. Der sich in Fäkalsprache und Obszönitäten erging. Der verdiente Künstler mit groben Worten herabsetzte. Der sich unflätig über Menschen äußerte, denen er viel verdankte. Der intrigierte und trickste. Der seine Gläubiger mit Ausreden hinhielt, seine Schwester im Unglück hängen ließ, über das Äußere von Frauen herzog und Unschuldige verleumdete.

Was Mozart in den Briefen von sich preisgab, zerrte ihn aus dem mythischen Dunkel, das Shakespeare bis heute vergönnt ist.

(Aus dem Vorwort von Eva Gesine Baur Seite 10)

Mozart Baur Mozart rück

Was den oben zitierten, durchaus prominenten Mozart-Autoren nur ein paar Zeilen wert ist, wird in Baurs Buch über mehrere hochinteressante Seiten ausgebreitet, darin auch treffende Worte zu der Qualität dieser Stücke. Darüberhinaus im  wissenschaftlichen Anmerkungsapparat, der allein 125 Seiten umfasst, Zitate aus zeitgenössischen Berichten und der Hinweis auf einen Aufsatz von Hans Haselböck über „Mozarts Stücke für eine Orgelwalze“ in einer Festschrift von 1978. Es gibt noch eine neuere Quelle, von der ich mir ergänzenden Aufschluss erhoffe (beim Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, darüber später mehr – wenn das Exemplar bei mir eingetroffen ist…). Hier folgt der schöne Ausschnitt (Seite 359 f)  aus dem oben abgebildeten Baur-Buch:

 Muss Mozart aufgeben? Von Resignation ist in seiner Musik nichts zu hören. Selbst wenn er nur des Geldes wegen Arbeiten verrichtet. Am 3. März 1791 vollendet er wieder zwei Stücke in f-Moll für die Orgelwalze einer Uhr, ein Allegro und ein Andante. Letztes Jahr hatte er gegenüber Konstanze geklagt, diese Art Arbeit gehe ihm einfach nicht von der Hand. Doch das lag nicht daran, dass er, immer unterwegs zu Neuem, sich nicht für solche Automaten interessiert hätte. Was er an Orgelwalzenuhren kannte, klang nur zu jämmerlich: ja, wenn es eine große Uhr wäre und das Ding wie eine Orgel lautete, da würde es mich freuen. Seine Abneigung hat man aber dem Ergebnis nicht angemerkt, das einen Automaten befähigte, Menschen erschaudern und lächeln zu lassen. Auch in den beiden neuen Stücken bindet Mozart Gegenwelten zusammen. Satztechnische Präzision, wie sie gefordert ist, und tiefe Emotion, wie sie erwartet wird. das Stück soll die Menschen zu Tränen rühren, wenn sie in der Himmelpfortgasse das Mausoleum für General Laudon besuchen. Näher läge es, dort in Gelächter auszubrechen. Der in der Parterre-Wohnung aufgebaute Weihetempel für den letztes Jahr gestorbenen Kriegshelden zeigt vor einer Art Altaraufbau einen Sarg mit Sichtfenster. Blickt man hinein, sieht man eine Wachspuppe in Uniform mit vollem Ordenslametta, um den Sarg stehen allegorischen Trauerfiguren aus Wachs, zu Füßen des Sargs kauert ein ebenfalls wächsernes Mädchen in Pluderhosen, Abbild des türkischen Pflegekinds, das Laudon als Souvenir vom Feldzug gegen die Türken mitbrachte.

Am 23. März ist das Mausoleum, gleich um die Ecke von Mozarts neuem Wohnhaus, eröffnet und sofort bestürmt worden. Drei Tage später meldet die Wiener Zeitung, der Laudon-Tempel sei von 8 Uhr bis nachts 10 Uhr herrlich beleuchtet zu besichtigen. Mit Schlag jeder Stunde lässt sich eine Trauer-Musique hören und wird alle Woche eine andere sein. Diese Woche ist die Composition von Hrn. Kapellmeister Mozart. Die Preise in der ersten Kategorie 1 Gulden, in der zweiten 30 Kreuzer pro Person. Viel Geld für den Durchschnittsverbraucher; für 1 Gulden bekommt er 10 Pfund Rindfleisch, für 30 Kreuzer 5 Pfund. Doch Graf Deym von Stritetz, der Initiator des Ganzen, hat sich nicht verrechnet. Schon in der ersten Woche entrichten die Wiener zu Hunderten den hohen Eintrittspreis, um diese Inszenierung zu erleben, in der jede Stunde einmal Mozarts Musik das bizarre Arrangement in ein ergreifendes Erlebnis verwandelt. Musik, die Gegensätze zusammenbindet: das furchtbar Wilde und das Kunstvolle, das Erschütternde und das Liebliche, den Kampf der Leidenschaften und die Sehnsucht nach oben.

Die kursiv gesetzten Worte sind Zitaten aus Augenzeugenberichten oder Zeitungsnotizen entnommen, die im Anhang vollständig wiedergegeben sind (Seite 508).

Quelle: Eva Gesine Baur: MOZART Genius und Eros / Eine Biographie / Verlag C.H.Beck München 2014 / 978 3406 661327 /

Eine weitere Quelle meiner Quellen-Auslese wäre die oben angedeutete aus dem Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, – dazu einstweilen nur der Werbetext, der darauf wartet, berichtigt zu werden:

Eigentlich sollte Mozarts Adagio und Allegro KV 594 auf einem Orgelautomaten eines opulenten Schaubildes erklingen, das 1791 zum Angedenken des Feldmarschalls Laudon von Graf Deym in Wien präsentiert wurde, doch technische Probleme dürften verhindert haben, dass dieses Werk überhaupt zum Einsatz kam. Die neue CD des Phonogrammarchivs der ÖAW erweckt die Musik dieser Komposition als virtuelle Rekonstruktion wieder zum Leben. Ohne den mit der Rekonstruktion des Nachfolgestücks KV 608 gemachten Erfahrungen wäre es nicht möglich gewesen Mozarts Adagio und Allegro KV 594 klanglich wiederherzustellen, da für dieses Werk zu seiner Aufführungspraxis so gut wie keine zeitgenössischen Nachrichten vorliegen. So werden hier nun vier mögliche Varianten einer klingenden Rekonstruktion von KV 594 vorgestellt, die den ursprünglichen Intentionen des Bestellers und Mozarts wohl sehr nahe kommen dürften. Das besondere ist, dass diese Musik wahrscheinlich nie eine historische Aufführung erlebt hat und nun erstmals im „authentischen Klang“ zu hören ist, der wieder aus den entsprechend gewählten Registern eines wirklichen Orgelinstruments bezogen wird. Ein ausführliches Booklet beleuchtet die Aspekte der historischen Situation im Jahr 1791 und ihre Umsetzung in eine virtuelle Rekonstruktion der Musik.

Weiteres – sobald mir das Exemplar  vorliegt. (Ich bin fast erleichtert, dass die Namen der Herausgeber noch nicht in Baurs Literatur-Liste stehen, die ansonsten eine Fundgrube ist.)

Eine sehr gute Einführung zu KV 594 und „Orgelwalze“ findet man übrigens im Kammermusikführer der Villa Musica Rheinland Pfalz HIER.

Aber wo bleibt das dritte dieser Stücke, KV 616? Siehe z.B. hier. Man kennt es meist weniger, vielleicht weil es am ehesten nur nach Spieluhr aussieht. Es ist zierlich und wunderschön. Und scheinbar harmlos… (nichts ist harmlos beim späten Mozart). Hier der Anfang aus der NMA (Neue Mozartausgabe).

Mozart Orgelwalze III s.a. hier
Zum Abschluss eine Orgel-Version des KV 594 mit Martin Haselböck.

Notiz zu Bartóks Bauernliedern

Wirklich nur eine Kleinigkeit (und ein großer Film als Zugabe)

Bartok Druckfehler

Meine Notiz stammt vom 2. Juni 1981: da hörte (und sah) ich eine Sendung mit dem Pianisten Andor Foldes (WDR 3 22.30 h) und er berichtete, dass Bartók ihn auf einen Druckfehler aufmerksam gemacht habe, was ich damals sofort in meinen Noten vermerkte: im Scherzo (Nr. 5). Auf die Ermunterung, dass eine Neuausgabe den Fehler eliminieren werde, reagierte der Komponist halb resigniert. Er glaube nicht, dass sich noch jemand dafür interessieren würde.

Es ging also darum, dass der in meinem Beispiel eingekreiste Überleitungstakt verdoppelt werden muss: wobei die Achtelpause in eine Viertelpause, die Achtelnoten in Viertel verändert und nach dem zweiten Viertel ein zusätzlicher Taktstrich eingefügt wird. Das ist völlig plausibel, wenn man 11 Takte weiter schaut: wo diese Tongruppe auf 4 Überleitungstakte mit den gleichen Notenwerten ausgedehnt wird.

Nun gibt es eine neue Ausgabe, siehe hier, und ich würde diesen Blogbeitrag gern wieder entfernen, sobald ich dort der Korrektur dieses Taktes begegne oder mir jemand darüber Mitteilung macht. Vielleicht sogar der Verlag selbst? Meine Anfrage läuft……

ZITAT (unter dem oben angegebenen Link auffindbar)

Zur Vorbereitung der vorliegenden revidierten Neuauflage wurden alle verfügbaren handschriftlichen Quellen mit der zuletzt erschienenen Ausgabe verglichen. Die dabei gefundenen Unterschiede wurden analysiert und gegebenenfalls korrigiert. Folgende Handschriften lagen vor: 1. die Kompositionsskizze, 2. die Stichvorlage (eine Kopistenabschrift mit Bartóks eigenhändigen Zusätzen). Abzüge der Schlusskorrektur, welche einige Abweichungen von der Stichvorlage erklären könnten, wurden nicht gefunden. (P. Bartók)

***

Kaum zu glauben: Eine halbe Stunde später traf die Antwort des Verlages ein. Einen solchen Service habe ich buchstäblich noch nie erlebt!

Im originalen Text des Vorwortes von Peter Bartók geht es demnach wenig später folgendermaßen weiter:

Möglicherweise wünschte Béla Bartók, daß Takt 11 des Scherzos langsamer als notiert ausgeführt wird. In einer gedruckten Ausgabe, die sich im Besitz des verstorbenen Pianisten Andor Foldes befand, merkte der Komponist mit Rotstift an, daß dieser Takt im halben Tempo zu spielen sei: Viertelpause und Viertelnoten, auf zwei Takte aufgeteilt, anstatt Achtel in nur einem Takt.

Herzlichen Dank an Katja Kaiser, Editorial Department / Historical Archive / Universal Edition AG Forsthausgasse 9 / 1200 Wien, Austria

Ich möchte den Blogbeitrag also doch nicht entfernen, sondern zu weiterem Nutzen des Komponisten verlängern. Vielleicht finde ich die Original-Notation des Liedes?

Bartok Ungarisches Volkslied

Hierin S.197 der Text, S.316 die Melodie des Liedes aus dem das Scherzo gemacht ist:

Bartok Scherzo TextBartok Scherzo Melodie

Zudem erinnere ich an einen beeindruckenden Film über den Volksliedsammler Béla Bartók…

Den Hinweis auf diese youtube-Quelle verdanke ich JMR.

Mumbai April 1998

Eine Erinnerung

Mumbai 1998

Mumbai 1998 Drum Lesson

Mumbai 1998 Ken

Mumbai 1998 Clive Bell

Mumbai 1998 Tel

Mumbai 1998 Ken & Clive

Mumbai 1998 Ken Toast Ken Zuckerman und Clive Bell

Fotos: JR

Mit Ken Zuckerman und Clive Bell (27.04.1998!) hatte ich interessante Interviews, aus denen sich eine anrührende Sendung für den WDR ergab. Wenn möglich, werde ich Teile daraus hier wiedergeben. Das Thema der Konferenz war: GURU-SHISHYA-PARAMPARA (die Lehrer-Schüler-Generationenfolge).

Reale Berührung und Virtual Reality

Ich erinnere mich, wie es mich einst zum Widerspruch reizte, bei Adorno zu lesen, es sei beklagenswert, dass man Türen oft nicht mehr behutsam öffnen und schließen könne, also mit einer Klinke, sondern nur noch mit einem Knauf, der das bloße Auf und Zu mit einem Klick bestätigte. (Mit Sicherheit war es anders formuliert.) Für mich war klar, das es unterschiedliche Knäufe gibt oder geben könne, also auch solche, die über einen Spielraum verfügen, der mit Feingefühl und Muskelsinn durchmessen werden kann.

Wie dem auch sei: eine Serie von Klicks auf die Schreibtastatur ist etwas anderes als ein sorgfältiges Abfahren der Buchstaben eines Wortes mit einem Füllfederhalter, der in der Hand liegt und einen leichten, aber dauernden Druckkontakt mit dem Papier vermittelt. Gewiss: „etwas anderes“, – aber werde ich deswegen auf die Tastatur verzichten und die ganze Post per Hand erledigen? Es ist kaum anzunehmen, dass dies die „menschliche“ Qualität des Briefes erhöhen würde. (Vielleicht aber die suggestive Aussage?) Der Adressat muss mich entziffern können, ich muss ihm das zumuten dürfen.

Das Schreibgefühl in der Hand verrät nicht einmal dem Schreibenden etwas über die eigene emotionale Beteiligung. Vielleicht bemerkt er nur, dass sein Zugriff unangemessen ist, er wird die Technik des flüssigen Schreibens reflektieren, nicht die Bremsvorrichtungen.

Der schwitzende, muskulär überaktive Geiger versteht nichts von der Energie, die etwa ein Brahms in Musik gegossen hat. Eine andere Sache, ein Extremfall, ist die vom Komponisten gewollte Überforderung des Interpreten, wie etwa durch Bartók in seiner Etüde, von der man sagt, sie diene der Zerstörung der Finger des Pianisten.

Beim Handhaben eines Musikinstrumentes würde ich natürlich nicht analog zum Schreiben argumentieren. Ich würde von der Berührung der Saite reden, dem Unterschied zwischen rechts und links, der spürbaren Vibration, der Reibung, dem notwendigen Widerstand. Und wenn mir jemand entgegnete, es sei ja schon mit den Tasten des Klaviers oder gar der Orgel ganz anders, könnte ich immerhin noch auf die psychologische Wirkung des Tastenkontakts verweisen: so lange ich die Orgeltaste wirklich niederdrücke, „fließt“ der Ton. Aber gewiss, die Mechanisierung beginnt genau an dieser Stelle. Warum soll es ein ganz anderes Phänomen sein, wenn ich den Tonverlauf zum Beispiel in ein System einspeichere und per Knopfdruck abrufe?

Michelangelo Hände Einzigartige Nicht-Berührung

Zweifellos ist das Thema Berührung, Hautkontakt, Sinnlichkeit en vogue, wobei viel für die Wahrscheinlichkeit spricht, dass es in Wechselwirkung mit dem Thema Mechanisierung und Virtualisierung steht. Man kann sich zunächst kundig machen, indem man die entsprechenden Stichworte googelt, beginnend etwa bei Wikipedia mit Berührung, fortfahrend mit Körperkontakt oder übergehend zu taktiler Kommunikation. Es ist der Anregung kein Ende, in schlimmen Fällen kann es unvermittelt zu latenter Erregung führen und uns fragen lassen, wo das Subkutane beginnt und wo dann das bloße Körpergefühl sich nicht mehr von der seelischen Balance unterscheiden lassen will. Und was ist nochmal Vergeistigung? Wenn Bilder entstehen? Oder müssten wir nicht bei den Sinnen verweilen, zunächst zwischen Hautsinnlichkeit und den Sinnen des Auge bzw. Ohres strikt unterscheiden, und dann ebenso strikt zwischen diesen beiden? Und vor allem zwischen geistiger Realität, Imagination und Virtual Reality.

Siehe auch Auditive Wahrnehmung und Universalien der Musikwahrnehmung , Wahrnehmungstäuschung.

Hand Richard Sennett: Handwerk / Berlin Verlag 2008 ISBN 978-3-8270-0033-0 (432 Seiten) / Dies ist der Beginn eines sehr interessanten Kapitels, – mit ein paar kleinen Webfehlern drin. Darüber an anderer Stelle. Über den fragwürdigen (!) Bezug Kant und Hand siehe hier.

Der Augenmensch David Hockney machte mit der krasseren Seite der Virtual Reality in einem Interview kurzen Prozess:

Mich kam kürzlich ein Experte mit einer dieser neuen, großen Virtual-Reality-Brillen besuchen, ich setzte sie auf und sah ein Monster neben mir. Ich hätte das Monster gerne berührt, aber ich hatte keine Hand mehr. Man hat in dieser Virtual Reality gar keinen Körper. Das ist fatal. Und auch lachhaft, das ist keine Realität. Aber diese Technik ist eine gute Erfindung für die Welt der Pornografie, da will man große Busen und große Ärsche sehen. Für Pornos braucht man Volumen. Ich wüsste jedenfalls, wie man guten Porno in 3-D drehen würde.

Und ergänzte die Idee mit einem historischen Überblick, – es gebe nämlich mit der Virtual Reality noch ein anderes Problem:

Wo bleibt die gemeinsame, die geteilte Erfahrung? Fünfhundert Jahre lang war die Kirche der Hauptlieferant für Bilder. Wenn man Bilder sehen wollte – und das wollten die Menschen schon immer -, dann ging man in die Kirche und traf dort andere Menschen. Die Bilder in diesen Kirchen wurden damals als so lebhaft empfunden wie später die Filme. Als die Massenmedien erfunden wurden, folgten die Massen den Bildern und verließen die Kirche. Aber auch Kino und Radio waren noch wie die Kirchen geteilte Erfahrungsräume. Heute aber hat jeder seinen eigenen Bildschirm, die geteilte Erfahrung verschwindet. Stars waren im Jahrhundert der Massenmedien jene Menschen, die man auf Bildschirmen und Leinwänden sah. Heute sehen die meisten auf ihren Individualschirmen nur noch die eigenen Freunde.

Quelle DIE ZEIT Beiheft KULTURSOMMER 18.April 2016 (Seite 16-19) „Ich bin ein Anarchist“ In London stellt der große Maler David Hockney seine neueste Werkgruppe vor: 92 Porträts von Freunden. Ein Gespräch über seine Malerei, 3-D-Pornografie und dumme Präsidenten. Von Tobias Timm.

Wie ist es mit den „geteilten“ Erfahrungsräumen der Musik? (… bleiben sie imaginär „gemeinsame“ Räume?)

(Fortsetzung folgt)

Vom Schamanen

Material zum Film

Im SPIEGEL wurde darüber berichtet und in der ZEIT. Lesenswert, den Film habe ich mir vorgemerkt. Und ihn zum Anlass genommen, mir eine Veröffentlichung des Berliner Phonogramm-Archivs aus dem Jahr 2006 wieder vorzunehmen. Zu Theodor Koch-Grünberg siehe auch Wikipedia hier. Siehe auch Wikisource hier.

ZITAT aus dem ZEIT-Artikel von Andreas Busche:

Der Film handelt aber auch in einem unmittelbaren Sinn von einer Bewusstseinserweiterung: Es werden mehr psychedelische Substanzen konsumiert als in den Acid-Filmen des chilenischen Psychomagikers Alejandro Jodorowsky. Gleichzeitig besitzt die Psychedelik Guerras eine politische Dimension. Der Regisseur bezieht sich auf einen Grundlagentext der Kolonialliteratur, Joseph Conrads Herz der Finsternis, sowie dessen berühmteste Adaption Apocalypse Now von Francis Ford Coppola. Auch die Bilder, die Guerra dem kolonialisierten Unbewussten entreißt, bieten guten Stoff für Albträume.

ZITAT aus der Süddeutschen Zeitung vom 21. April 2016 Seite 12 (Martina Knoben):

So einen Film hat es noch nicht gegeben. „Der Schamane und die Schlange“ ist Abenteuerkino, spirituelle Reise, ein fiebriger Traum und Dokument einer vergessenen Kultur. Der alte Schamane hat das Wissen seiner Vorfahren vergessen, erst die Begegnung mit Evan hilft ihm, sich zu erinnern. Dies ist auch das Credo des Films, der die Kultur der Amazonas-Indianer bewahren und davon erzählen will – weil die Indianer es nicht mehr können, weil sie ihr Wissen nur mündlich überliefert haben und viele Stämme ausgerottet wurden.

Angeblich sind die beiden Hauptdarsteller zufrieden mit dem Film. Das grundsätzliche Dilemma einer solchen Reise bleibt bestehen: Auch Ciro Guerras Blick ist ein Blick „von außen“, sein Film will eine Kultur auf eine Weise festhalten, die ihr selbst völlig fremd ist. Der Regisseur ist sich dessen sehr bewusst, das beweisen nicht zuletzt seine Anspielungen und Parodien auf andere Dschungelfilme. Einen Ausweg aber gibt es nicht, Guerra simuliert ein Eingeständnis der Indios: Als Théo vom jungen Karamakate ein Foto* macht, empfindet dieser das Bild als „Chullachaqui“, als eine leere Hülle seiner selbst. Aber er erlaubt Théo, es mitzunehmen.

Theodor Koch-Grünberg Theodor Koch-Grünberg Evan Schultes_amazon_1940s s. hier

Zitat Wikipedia zu Koch-Grünberg:

Aus seinen Tagebüchern und Reiseaufzeichnungen Vom Roroima zum Orinoco schöpfte 1927 der brasilianische Autor Mário de Andrade für seinen Roman Macunaíma – Der Held ohne jeden Charakter (Macunaíma: o héroi sem nenhum caráter), eines der Hauptwerke der modernen brasilianischen Literatur. Ebenfalls auf die Aufzeichnungen Koch-Gürnbergs (sic!) über seine Reisen im Amazonasgebiet stützt sich der kolumbianische Film Der Schamane und die Schlange (Originaltitel El abrazo de la serpiente) von RegisseurCiro Guerra, der 2016 für den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film nominiert wurde.

Zum Studium eines Werkes: hier  „Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens“ (1921)

Zum Studium der dort aufgenommenen Musik:

Film Schamane Phono

Koch-Grünberg CD Editorial

*Stichwort: Phonographie als Zerstörung des Schamanen-„Zaubers“

Anders war die Situation allerdings bei den Aufzeichnungen der Schamanengesänge (bei Koch-Grünberg: ,Zauberärzte‘). Vor allem der Schamane Katúra blieb misstrauisch und erkundigte sich besorgt, warum der Forscher ,seine Stimme mit sich nehmen wolle‘. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Krankenheilung aus indianischer Sicht u.a. Kontaktaufnahme mit der Welt sowohl hilfreicher als auch gefährlicher Geister darstellt, während der der Schamane bzw. seine Seele unter Singen, dem Geräusch des Begleitinstrumentes sowie vor allem über das Trinken von Tabaksaft seinen eigenen Körper verlässt, um in anderen Sphären einen Kampf mit dem Verursacher der Krankheit zu führen, ein Kampf, bei dem es nicht selten um Leben und Tod geht. Nur mit Unterstützung von Häuptling Pitá wie auch dem Versprechen eines großen Messers als Gegenleistung willigte Katúra schließlich in die Tonaufnahmen ein, bestand allerdings darauf, dass diese heimlich vonstatten gingen und anschließend nicht den anderen Dorfbewohnern vorgeführt würden. Mit stark näselnder Stimme sang er sodann in einem verschlossenen, halbdunklen Raum in das Aufnahmegerät, wobei er in der rechten Hand ein Bündel Zweige hielt, mit dem er auf dem Boden den Takt klatschte und in der linken die bei Heilungszeremonien so wichtige Zigarre inhalierte. Als auch diese Aufnahme anschließend in kleinem Kreise – neben Katúra und Koch-Grünberg waren lediglich Häuptling Pitú und der Indianer Pirokaí noch anwesend – vorgespielt wurde, war die Reaktion wie folgt: „Katúra macht ein bestürztes Gesicht, als ihm seine eigene Stimme klar und deutlich entgegen schallt; Pitá schüttelt sich vor Lachen“ (Koch-Grünberg 1917:53, Vgl. auch 1923:119f.).

Quelle CD (s.o.) Bookletbeitrag von Michael Kraus: Theodor Koch-Grünberg: Phonographische Aufnahmen im nördlichen Amazonien. (Seite 21)

(Ergänzungen folgen)

Ein Vorschlag, Chopin zu verbessern

Nur für aufgeklärte Pianisten

Chopin verschlimmbessert Mittelteil Impromptu Op.29 „gesäubert“ (s.u.)

Brief an K. zu op.29

Du fühltest Dich also an das andere Impromptu (cis-moll) erinnert, nur dass Dir hier (im As-dur) vieles weniger glatt einging, vor allem wenn der Mittelteil beginnt, – so merkwürdig stockend in der linken Hand, mit nachgelieferten Basstönen, leeren Stellen am Taktanfang, unnötigen Dissonanzen zwischen Melodieton rechts und Akkord links und anderes mehr. Man hat den Eindruck, er ist erst auf der Suche nach der richtigen Melodie, sie gelingt ihm nicht richtig. Daher diese Ausweichungen … und schließlich der Neubeginn eine Oktave höher.  – Tja, das habe ich mir fast gedacht, deshalb habe ich versucht, die Melodie von Anfang an zu verbessern, nur in der linken Hand habe ich alles beim alten gelassen. Fürs erste jedenfalls. Ich frage mich (und Dich), warum die linke Hand eigentlich die Melodie nicht geradlinig unterstützt. Sondern ihr immer wieder den Vortritt lässt. (Das hört ja später auf, da gibt es dann keine Pause mehr auf der ersten Zählzeit. Warum nicht?)

(Ein Blick auf die – in der Erinnerung – fast verwechselbaren Melodien:)

Chopin Impromptu cis-moll Mittelteil op.66 (posth.) *1834 publ. 1855

Chopin Impromptu Fis-dur F-Teil op.36 *1840

Weshalb diese typologische Ähnlichkeit noch nirgendwo behandelt wurde, ist mir ein Rätsel. Stattdessen immer wieder die Erwähnung Bellinis. Hat schon jemand seine Melodien daraufhin untersucht? Zu den Impromptus und zur verspäteten Veröffentlichung des op.66 siehe zunächst Wikipedia hier. Dort ist auch dessen Anfangsmotiv mit einem angeblich ähnlichen von Moscheles zusammengestellt. Wesentlicher scheint mir jedoch die Abwandlung dieses Motivs, dergestalt, dass es – wie auch das am Anfang von op. 29  – auf den Kern der Ur-Melodie verweist! Vollends wunderbar wird die ökonomische Inventionsarbeit des Komponisten, wenn man diesen As-dur-Anfangstakt nach Ges-dur transponiert und dann auf die ersten Takte des Impromptu op. 51 schaut.

Impromptu cis Motiv op.66 Impromptu As Motiv op.29 Impromptu Ges Motiv op.51

Und weiter!

Impromptu As Melodie op.29 Übergang zum Mittelteil und Melodie orig.

Alle Beispiele aus der von mir präferierten Ausgabe Paderewski / Instytut Fryderyka Chopina Polskie Wydawnictwo Musycznet Warschau 1949 / Sämtliche Werke 1960 erworben in Ost-Berlin.

Brief an K. zu op.29

Als nächstes käme der Schritt, in Worte zu fassen (freie Fahrt für Phantasie!), was der Komponist von hier an mit der schrittweise verfremdeten Melodie sagen will. Warum spielt er sie nicht einfach von A-Z, wie ich das oben angedeutet habe? Warum unterbricht er sich selbst, moduliert so geheimnisvoll, kehrt zurück, warum sagt er die Dinge immer wieder zweimal, einmal stark, einmal den eigenen Worten (Tönen) nachsinnend, warum geht er nicht direkt auf die Spitzentöne zu, nach denen er aufwärts „die Hände reckt“?  Was ist das Ziel seiner Aussage? Das Fortissimo oder die Rückkehr ins atemlose Figurenwerk? Virtuosität oder Unrast! Charmante oder – panische Unrast. Ja, ist es denn überhaupt heiter gemeint? Und am Schluss – der zerfallende Choral – ist das wirklich ein auflösendes, erlösendes Ende?

Du findest selbst die Antwort.

Liebe K., ich habe noch einen Vorschlag, Chopin bei seinem Impromptu zu Hilfe zu eilen, – er hat sich verzählt: er setzt lauter Vier-Takt-Gruppen hintereinander, das ist klar, aber dann plötzlich, in Takt 16 verzählt er sich. (Achtung: möglicherweise bluffe ich?) Oder er kann sich nicht bremsen, wenn er einmal chromatisch in Fahrt ist, – da hilft nichts, es wird doch einfach zuviel!!! Schon bin ich zur Stelle und kann Überflüssiges nahtlos heraustrennen, schau nur:

 Impromptu As leicht verkürzt

Siehst Du, jetzt sind wir pünktlich bei der Wiederkehr des Anfangs. Die Pünktlichkeit ist eine deutsche Tugend, von der weder Polen noch Franzosen viel halten. Da dürfen wir nachhelfen!

Du sagst: es ist gar keine Wiederkehr, er geht jetzt einen ganz anderen Weg?! Siehst Du, auch mit der Logik hapert es bei diesen Romantikern… Ein guter Formaufbau verläuft wie eine gute Melodie, nämlich quadratisch.

Streng logisch denkende Musiker nennt man daher auch Quadratköpfe.

April in Sizilien

War es wirklich „Goethes mystisches Erlebnis“? 

So stand es doch in der Zeitung, – als Überschrift eines Essays von Walter Bauer – 1937!

DAZ Walter Bauer Überschr 1a DAZ Walter Bauer Überschr 2a

Es hat mir Lust gemacht, einmal nach Sizilien zu reisen. Oder wenigstens Goethes „Italienische Reise“ zu lesen, oder sagen wir aus dem Zweiten Teil erstmal nur den Abschnitt Sizilien. Genau heute war’s, nein gestern vor …. , am 16. April 1787, als er in Palermo über Odysseus und eigene „Nausikaa“-Pläne nachdachte.

Da wir uns nun selbst mit einer nahen Abreise aus diesem Paradies bedrohen müssen, so hoffte ich, heute noch im öffentlichen Garten ein vollkommenes Labsal zu finden, mein Pensum in der »Odyssee« zu lesen und auf einem Spaziergang nach dem Tale am Fuße des Rosalienbergs den Plan der »Nausikaa« weiter durchzudenken und zu versuchen, ob diesem Gegenstande eine dramatische Seite abzugewinnen sei. Dies alles ist, wo nicht mit großem Glück, doch mit vielem Behagen geschehen. Ich verzeichnete den Plan und konnte nicht unterlassen, einige Stellen, die mich besonders anzogen, zu entwerfen und auszuführen.

Soweit Goethe. Und nun zu mir. Woher die Lust in seine Zeit abzutauchen? Ein Gang durchs Haus trieb mich in die Nähe seiner Sämtlichen Werke, die ich zweifach und dreifach besitze – zunächst die vom dtv Verlag 1962, dann auch – dank Dagmar Steinküller – die Erstausgabe von 1829, nicht weit davon einige Folianten z.B. von Johann Gottfried Kiesewetter, Kants „Meisterschüler“, eine lesenswerte Logik  aus dem Jahre 1824, und darin wiederum fand ich die Zeitungsseite vom 25. April 1937, die ich vorsichtig entfaltete: ein Artikel, rechte Seite, betraf Kant („weshalb er uns auch heute noch etwas zu sagen hat“ / von Hans Kudszus). Ich lese mich aber auf der linken Seite fest, wundere mich über die Zeitung DAZ und über den Schriftsteller Walter Bauer. Suche nach verborgener Ideologie und finde keine, – vielleicht die Neigung, eine Mystik zu entdecken, wo sie kaum vorhanden war? Oder nur in der möglicherweise unbegründeten, Goethe nur unterstellten Fixierung auf „die ungeheure Größe des staufischen Traumes vom Reich, als er vor dem Sarkophag aus Porphyr dunkel wie Blut stand?“

Lesen Sie doch die linke Spalte der zweiten Kopie, die mit dem 2. April beginnt:

DAZ Walter Bauer 1 Titel

DAZ Walter Bauer 2 (bitte jeweils anklicken)

Nach der Lektüre der linken Spalte bitte zunächst zur ersten Kopie zurückkehren und dort mit dem Anfang der rechten Spalte fortfahren, plus Fortsetzung in der nächsten Kopie und der ganze Schluss in der folgenden Kopie.

DAZ Walter Bauer 3

Was steht nun wirklich über dieses Erlebnis bei Goethe?

Castel Vetrano, Sonnabend, den 21. April 1787.

(…)

Die Gebirge in Nordost stehen alle reihenweis, ein einziger Gipfel, Cuniglione, ragt aus der Mitte hervor. Die Kieshügel zeigen wenig Wasser, auch müssen wenig Regengüsse hier niedergehen, man findet keine Wasserrisse, noch sonst Verschwemmtes.

In der Nacht begegnete mir ein eignes Abenteuer. Wir hatten uns in einem freilich nicht sehr zierlichen Lokal sehr müde auf die Betten geworfen, zu Mitternacht wach‘ ich auf und erblicke über mir die angenehmste Erscheinung: einen Stern, so schön, als ich ihn nie glaubte gesehen zu haben. Ich erquicke mich an dem lieblichen, alles Gute weissagenden Anblick, bald aber verschwindet mein holdes Licht und läßt mich in der Finsternis allein. Bei Tagesanbruch bemerkte ich erst die Veranlassung dieses Wunders; es war eine Lücke im Dach, und einer der schönsten Sterne des Himmels war in jenem Augenblick durch meinen Meridian gegangen. Dieses natürliche Ereignis jedoch legten die Reisenden mit Sicherheit zu ihren Gunsten aus.

Man kann letztlich nicht sagen, dass diese wenigen Zeilen ein „mystisches Erlebnis“ bezeugen. Diese Tendenz entspringt offenbar dem Zeitgeist des Autors Walter Vetter, ebenso wie seine Rede von der „Größe des staufischen Traumes“, den ich in Goethes Text nicht zu entdecken vermag. Der Dichter beschäftigte sich nicht mit politischen Visionen, vielmehr vorrangig mit dem alltäglichen Leben, dem Treiben des niederen Volkes und vor allem – Gesteinsarten. Wenn er schreibt: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem“ (Freitag, 13. April in Palermo) – so hat er doch gerade vorher ausführlich von Marmor und Achaten, weichen und harten Steinen, unmittelbar danach vom Klima sowie vom Essen und Trinken geschrieben. Im Nachwort des Wissenschaftlers Harald Keller steht ganz richtig:

Ein Jahr, nachdem Goethe aus Italien zurückgekehrt war, brach die Französische Revolution aus. Er hat also Italien gerade eben noch als das Renaissance- und Barockland unter den politischen Verhältnissen des „ancien régime“ gesehen, kurz bevor hier die französischen Revolutionsheere eine Ordnung umstießen, die so lange gewährt hatte, daß sie vielen als gottgewollt erscheinen mußte.

(…)

Des Dichters Verhältnis zur geschichtlichen Welt (…) ist auch in Italien zwiespältig wie immer. Italienische Staats- und Lokalgeschichte hat ihn nicht interessiert (….). Gegenüber dem politisch-historischen Geschehen erweist er sich auf dem Schlachtfeld von Panormus als unwirsch und ungeduldig.

Quelle Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise / Erster und zweiter Teil / dtv Gesamtausgabe 25 München 1962 Nachwort (Seite 317 f und Seite 321)

Warum dieser Artikel? Nichts als eine Übung zu Goethe und NS-Zeit.

Nachtrag 23. Mai 2016

Noch etwas wäre erwähnenswert: die „Ur-Pflanze“, aber auch diese ist nicht „mystisch“, und zu diskutieren wäre eher, ob es eine Idee ist oder ein aus der Realität abstrahiertes (konstruiertes) Modell. Friedenthal schildert es so:

Im Garten zu Palermo stehen unter freiem Himmel Pflanzen in Kübeln, die sonst hinter Fenstern in Töpfen aufbewahrt werden. Sie scheinen ihm in der Luft aufzublühen, sich deutlicher zu entfalten. Und so fällt ihm ‚die alte Grille‘ wieder ein, ob sich unter ihnen nicht die’Ur-Pflanze‘ entdecken ließe. ‚Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?‘ Er hat eigentlich an einer NAUSIKAA dichten wollen, unter dem antiken Himmel, jetzt ist der poetische Vorsatz gestört, ein ‚Weltgarten‘ hat sich aufgetan statt des Gartens des Alkinoos. ‚Warum sind wir Neueren doch so zerstreut, warum gereizt zu Forderungen, die wir nicht erreichen noch erfüllen können?‘ bemerkt er nachdenklich. Seine NAUSIKAA bleibt Fragment, die Ur-Pflanze wird sein Traum und seine Plage für Jahrzehnte.

Quelle  Richard Friedenthal: Goethe – sein Leben und seine Zeit / Piper & Co. Verlag, München 1963 (Seite 318)

Im indischen Zentrum der Musik

Kaushiki Chakraborty und Ajoy Chakrabarty

Eine Auswahl zur Einführung

Biographische Links Wikipedia u.ä. KC hier und hier, AC hier und hier

Zur Problematik der Tanpura (eine Problematik gibt es allenfalls aus westlicher Sicht; während es sich – gerade vor diesem Hintergrund – über das Harmonium zu diskutieren lohnt).

Unser „Problem“ ist es, die ständige Gegenwart des Grundtons (des Grundtonklangs) hinzunehmen oder besser: als schön und hilfreich wahrzunehmen. Für die indische Seite steht die Notwendigkeit außer Frage, und so sind die hier ausgewählten Stellungnahmen vielleicht für uns nicht zentral, aber zu weiteren Überlegungen anregend: 1) Seit wann gilt gerade die Tanpura in der Raga-Musik als unentbehrlich, 2) Gab es ein Problem mit der Tanpura in der Hand einer Frau? Merkwürdig die Betonung der Freiheit…

  1. Der Sänger Shri Dinkar Kaikini (1997)

Tanpura Daikini s.a. hier und hier

2) Die Sängerin Neela Bhagvat (1997):

Tanpura Neela a  Tanpura Neela b s.a. hier

Quelle: Sangeet Research Academy Workshop on „Tanpura“ Organised by ITC – SRA (Western Region) 6th July 1997 Venue NCPA, Nariman Point, Mumbai – 400 021 / Papers Seite 49 (Kaikini), Seite 57 (Bhagwat)

Musikalische Meinungsmache – indisch

(in Arbeit)
Lassen Sie sich auf fremde Musik ein? Sie ist nicht fremd.
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Kaushiki Screenshot 2016-04-16 09.29.17 (abrufbar nach dem folgenden Text)
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Gewiss, ich glaube dieser Künstlerin alles, egal, ob jemand eine abweichende Meinung dazu vertritt. Ich habe sie selbst in Konzerten erlebt, kenne viele Aufnahmen von ihr, habe versucht, einiges auf westliche Art zu analysieren und bin immer wieder bezaubert von dem Live-Erlebnis, auch wenn es, als Youtube-Aufnahme nicht die technische Qualität der CD oder gar der Realität bieten kann. Ich vermute aber, dass genau diese Aufnahme auch Menschen hinreißen kann, die noch keine große Erfahrung mit indischer Musik haben: es ist eine Einheit von stimmlicher Perfektion und zugleich von so souveräner wie freundlicher Suggestion, wie man sie selten bei westlichen Musikern oder Sängerinnen erlebt. Kaushiki Chakraborty spricht singend mit ihrem Publikum, ohne wie eine schauspielernde Bühnenfigur zu wirken. Es würde uns nicht wundern, wenn sie uns zwischendurch eine Tasse Tee anbieten und dann mit größtem Ernst ihren Gesang fortsetzen  würde. Versuchen Sie doch nur  8 Minuten lang sich einspinnen zu lassen in diese Zauberkünste der indischen Musik. Und kommen Sie dann zurück, um die Fachsimpelei einiger indischer Kenner klaglos hinzunehmen. Es ist nicht ohne Nutzen. Vor allem, wenn Sie sich auf einen detaillierten Vergleich mit der anderen Sängerin einlassen wollen, die im Gespräch genannt wird und deren Interpretation weiter unten folgt.

HIER Die Sängerin KAUSHIKI CHAKRABORTY mit „Rangi Sari“, einem Thumri in Raga Pahadi

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Es ist nicht uninteressant, mehr oder weniger unfreiwillig Zeuge eines Gedankenaustausches zu werden, das Insider-Charakter hat. Aber nicht kompetenter sein muss als das, was man bei uns in Konzertpausen zu hören bekommt. Meinungen eben…

KC: leicht zu erraten – ist das Kürzel für den Namen der Sängerin. Der Name Chakraborty (auch in anderen Schreibweisen) ist im übrigen weit verbreitet. Zu „Shobha Gurtu“ siehe weiter unten. „Shobaji“ = Koseform ihres Vornamens. Thumri ist ein leichter Gesangsstil, auch „semi-classical“ genannt. (Eine ausführliche Arbeit darüber findet man hier.) „Asmita Parva“ ist offenbar eine Art Festival in Mahuva (Gujarat).

Narayan Svor:
I have heard much better Thumri by KC. This one she has botched up pretty badly. In this presentation she has deviated from the aesthetics experimenting with many ‚unmusical‘ expressions. She just does not seem to be honest and sincere in this performance. Too casual approach. She can learn aesthetics of presentation just by listening to this thumri sung by legendary Shobha Gurtu.

Ajayverdhan Maury

 Ajayverdhan Maury

 

Narayan S

Narayan an Ajayverdhan
I am shocked to receive your unexpected response. It seems that you completely misunderstood my point. I have been listening to this little ‚gem‘ of classical vocal singing ever since she appeared on the stage. Believe me she has sung this and other thumris much better in the past. I am not comparing her to the stalwarts you mentioned. I do not know where you got that silly idea. I am not degrading her at all. All I said that this thumri ‚Rangi Sari‘ has been immortalized by late legendary Shobhaji and Kaushiki can absorb the beautiful aesthetic nuances just by listening to Shobhaji’s rendition. Hope you get my point this time (if I am lucky). It is quite possible that you have not heard Shobhaji’s ‚Rangi Sari‘. If you did, then you would understand my points. Good luck.

Shreenivas Mate'

Shreenivas Mate:
 
I agree. Shreenivas श्रीनिवास स्थपति

Bishakha Chakraborty

Bishaka Chakraborty an Narayan S.:
You are right…. Shobaji sang it with more heart and leaves us spell bound with clarity of her voice and nuances of the raag. KC seems to loose many notes here and there in alaps.

Narayan S

Narayan Svor an Bishaka Chakraborty:
I am glad you understood my honest criticism of KC’s. I know she is a fantastic female vocalist today but this one she did not do justice. You probably have the same sensitivities like me. Thanks.

IndianClassical97

„Indian Classical 97“:
Yes. The same thumri, she sang exceedingly well in the Asmita Parva.

Abhishek Singh

Abhishek Singh an Narayan Svor:
You are correct, Sir,  and I fully agree with you. Thumri is a different style of singing which lies in semi classical music category in which the use of taans are limited and only used for ornamenting the bol or words. But here she is deviated enough with long taans and showing her taiyari or taans. I think she needs to take a break and revive the aura.

 

Narayan S

Narayan Svor an Abhishek Singh:
You said my thoughts in a very nice manner. We are both on the same wavelength and I do feel she should pay attentions to our comments. I strongly feel she can learn a lot by simply listening to Begam Akthar, Girija Devi, Shobha Gurtu, Bade Ghulam Ali etc who were great thumari singers in the history.

Abhishek Singh

 Abhishek Singh an Narayan Svor:
Sir, among these names there is also a name of my guruji that is pt channulal mishra ji…. he is awarded as thumari samrat and these is a soul in his singing….

IndianClassical97

 „Indian Classical 97“ an Abhishek Singh:
Taking a break, is slightly on the harsh side, I think. She is a beautiful and amazing artist. It’s just that excess of any one one particular thing is not good. It drains the overall feel of Indian Classical Music.

***

Zur Sängerin: Shobha Gurtu / in Wikipedia HIER und HIER

Zum Text:

Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
(Saari/Saree is a traditional dress of women in India)
Mohe Maare Najariya Sawariya Re
My beloved is throwing gazes at me
(My beloved is throwing arrows of his gaze at me)
Mohe Maare Najariya Sawariya
My beloved is throwing gazes at me 

Hmm... Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me 

Rangi Saari… Gulaabi… Gulaabi Chunriya…
My beloved coloured my Saree pink
Haan...

Jao Ji Jao, Karo Na Batiya…
Go away, don’t make false/sweet talks
Jao Ji Jao, Karo Na Hi Batiya… 
Go away, don’t make false talks
Jao Ji Jao, Karo Na Batiya…
Go away, don’t make false talks

Ae Ji Baali, Ae Ji Baali Hai Mori Umariya
I’m in my prime youth
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me

Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me 

Rangi Saari Ho…
He coloured my Saree
Pehni Saari Gulaabi Chunariya Re
I’ve now worn that pink Saree
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me

Text gefunden – hier:

http://www.bollynook.com/en/lyrics/13995/rangi-saari-gulaabi/

Noch ein diskutabler Ton bei Bach

Wohltemperiertes Clavier II in Cis-dur bzw. Des-dur

Praeludium letzter Teil (kleine Fuge ab Takt 25)

Bach WTC II Cis

Ich mache hier nur dingfest, was ich seit Jahrzehnten in meinen Noten stehen habe, eine Korrektur – schlechten Gewissens, und oben sieht man die Handschrift, die solches verursacht. Gut lesbar: zweites System, dritter Takt, Mittelstimme, drittes Sechzehntel – ist das cis‘ (in Des-dur-Ausgaben das des‘) wirklich richtig? (Nicht irritieren lassen durch den versetzten Notenschlüssel: die rechte Hand muss eine Terz tiefer gelesen werden!) Siehe auch folgendes Beispiel, darin zweites System, vierter Takt:

Bach WTC II Cis Druck

Die hineingeschriebene Zahl 25 bedeutet 25. Takt und Ende des ersten Praeludium-Teils, die hineingeschriebene 1 heißt erster Takt der kleinen Fuge, die wie der erste Teil aus 25 Takten besteht.

Meine alte Übe-Ausgabe von Kroll (Edition Peters):

Bach WTC II Des Kroll

Ich lasse den Leser, die Leserin damit vorläufig allein. Sagen Sie ruhig: Warum denn nicht dieser Ton in Takt 35?? Warum der Terzenwahn, warum soll die Mittelstimme sofort mit einer Unterterz dabeisein? Ja, genau, das meine ich! Aber nur beim Spielen, beim Hören bin ich vielleicht zufrieden…. oder? Ich bin der Sache noch nicht nachgegangen… mal sehen… Ton Koopman und Andras Schiff.

***

Leider: von beiden besitze ich nur WTC I, von Evgeni Koroliev jedoch auch WTC II. Er spielt nicht meinen Ton, und ich muss zugeben, in seinem flotten Allegro-Tempo stört nichts daran. Aber in einem Fugengebilde kann letztlich nicht das täuschbare Ohr die letzte Instanz sein, sondern die Grammatik, ja, selbst der Buchstabe, meine ich. Ich werde die Sache weiterverfolgen (s.u.), andererseits auch nicht so wichtig nehmen wie im Fall des einen Tones im ersten Satz der ersten Violin-Solo-Sonate. Dort scheint mir schwer verzeihlich, wenn jemand – gegen bessere Argumente – beim strittigen Ton verharrt. (Siehe hier!)

In der Tat ist die Geschichte dieses Praeludiums, wie sie von Alfred Dürr dargelegt wird, ergiebig genug, und sie gewährt gerade dank der Variabilität dieses Vor-Spiels einen Zugang zum experimentellen Bereich des Schaffensprozesses. Ähnlich wie das C-dur-Praeludium, an dessen Stelle dieses nach Cis-dur transponierte (!) Stück vielleicht einmal hat stehen sollen.

Hier nur soviel:

Das Cis-Dur-Präludium ist das einzige Klangflächenpräludium reinen Wassers des WK II, und auch daß es eine im Tempo beschleunigte Coda besitzt, hat es mit vielen Präludien des WK I gemeinsam – auch wenn der Unterschied hier besonders kraß ist, so daß (…) auch an ein zunächst ohne nachfolgende Fuge konzipiertes Stück gedacht werden kann.

(…)

Als eigentlicher Schluß erweist sich Takt 20 (= 6, subdominanttransponiert); die darauffolgenden vier Takte stellen den Übergang zum Allegro her. Dieses Allegro (nur in der Cis-Dur-Version so bezeichnet), ein dreistimmiges Fugato, erweist sich bei aller Knappheit als reizvolles Kabinettstückchen mit Exposition (T. 25-34, Kadenz auf der Tonika), II. Durchführung mit Themenumkehrung (T. 34-41, Kadenz auf der Dominante) und reprisenartiger III. Durchführung (T. 41-44 = 25-28) samt nachfolgender Coda – dies alles auf kleinstem Raum.

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel Basel London etc. 1998 (Seite 266 f)

Ich habe mir das jetzt in meine alte Kroll-Ausgabe rot eingetragen: als „Kabinettstückchen“ übe ich es seltsamerweise mit neuem Impetus. Übrigens füge ich den Achtelvorhalt aus Takt 26 auch an den anderen Stellen ein, also Takt 27, 31, 38, 42, und 43.

Bach Des Fugato

Ich glaube, es war ein notwendiger Prozess, mich von einem schnell gefassten und dann eingebrannten Vorurteil zu lösen. Das geschah beim Üben und Abwägen. Der eine Ton hat sich letztlich als irrelevant erwiesen, meine Auflösung in Terzenparallelen war für eine polyphone Arbeit zu simpel gedacht. Im langsamen Tempo gespielt, zeigt sich, dass die Mittelstimme des Taktes 35 samt Abwärts-Terz korrespondiert mit der Bassstimme des Taktes 36 und ihrer Abwärts-Terz.

Aber dieses Praeludium hat sich als eine Fundgrube anderer Art erwiesen. Der nächste Schritt wird sein – so äußerlich das scheint – es nicht mehr in Des-dur zu lesen, sondern in Cis-dur. Die Struktur des Klangflächen-Teils zu erfassen, Christoph Bergners Taktgruppen-Gliederung überprüfen: das Ohr sagt etwas anderes als seine Zahlen…

Chr. Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von J.S.B. / Hänssler Neuhausen-Stuttgart 1986

Youtube-Versionen anbieten – z.B. Evelyne Crochet hier oder Nikolai Demidenko (Angela Hewitt)  hier, die absurd schnelle Fuge bei Demidenko. Hässlicher Klang (aufnahmetechnisch). Der Übergang im Praeludium zum Allegro: es besteht kein Anlass, den ersten Akkord (bei 11:04 als „Break“-Effekt) hart anzuschlagen, so auch bei Koroliev. Bach hat die Tempobezeichnung allegro mit Bedacht erst über die Sechzehntel, also den Themenbeginn, gesetzt. Die Fermate am Ende bedeutet nicht, dass man den Schlussakkord sinnlos lang aushalten soll; er muss im Verhältnis zum allegro-Tempo bzw. ritardando (falls man es macht) stehen. Besser: den Abstand zur Fuge genau nehmen, nicht irrational. Z.B. 1 Takt Schlussakkord, 1 Takt Pause, nächste Zählzeit = Achtelpause des Fugenbeginns.

Kriterium für gutes Fugenspiel: Deutlichkeit! Vorbildlich bei Koroliov. Mögliche Temporelation im Ganzen: Die Viertel des Praeludiums gehen im „allegro“ als ganze Takte weiter und sind in der Fuge wieder als Viertel-Zählzeit gültig, wobei dies durchaus nicht im metronomischen Sinn gelten muss.

Das Werk ist ein erratischer Bestandteil des WTC II, nämlich in Vorformen bis in die Weimarer Zeit (1708-1717) zurückreichend. Fast der ganze Rest ist ja nach 1738 enstanden.

Ich werde diesen Beitrag einfach abbrechen.