Archiv für den Monat: März 2016

Warum Fotos traurig machen

Ich gebrauche selbstgemachte Fotos so, wie ich einem Menschen was vorsinge, zum Beispiel um über eine Melodie zu sprechen, die wir beide kennen: ich will nicht Kunst produzieren, nicht beweisen, dass ich einmal Gesangsstunden hatte, lächerlich, ich brauche kein schön geschnitztes Zeigestöckchen, wenn ich eine Straßenverbindung auf der Landkarte bezeichnen will. Natürlich weiß ich, dass es eine Kunst ist, gute Fotos zu machen; aber es ist zumindest subjektiv vertretbar, Fotos ohne jede Kunstabsicht herzustellen. Etwa so, wie man sich Notizen macht.

Vorgaben zur Kritik:

  1. Fotos geben vor, aus einer schönen Zeit zu stammen, – jeder ahnt den freundlichen Betrug -, die Personen lächeln, sie sollen den Betrachter für sich gewinnen: man wollte die Situation für ein späteres Erinnern festhalten, vielleicht weiß man, bezweckt es sogar, dass man den Betrachter durch schönen Schein manipuliert. Vielleicht wünscht man, dass das Foto so etwas wie Neid erweckt, man vermutet nicht, dass der wahrscheinlichere Effekt Mitleid ist: „Damals ahnte er noch nicht, dass er bald sterben würde!“ Oder sogar Schadenfreude?
  2. Fotos lassen das Elend, den Niedergang, den Zerfall des Alltags in seine heterogenen Einzelteile optisch attraktiv erscheinen. Man hört und riecht ja nichts, weder Stöhnen noch Gestank. Fotos klammern entscheidende Aspekte aus: z.B. die unerträgliche Hitze, die Mückenplage, die schrille Musik aus den Lautsprechern im Hintergrund. Fotos zielen selten darauf, dass man die Phänomene ergänzt, die nicht optischer Natur sind. Oder umgekehrt: sie spiegeln vor bzw. lassen keinen Zweifel zu, dass der Mensch, der eine Flöte an den Mund setzt, sie auch spielt.
  3.  Fotos stammen aus einer anderen Welt, auch wenn ich selbst darauf abgebildet bin und offensichtlich teilgenommen habe. Ich würde nicht soweit gehen wie Hofmannsthal, nämlich zu sagen, ich sei „mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.“ Ich sehe mich ja nicht nur, wie ich damals war (oder wie ich mich sehen wollte – wer weiß, wie viele andere Fotos ich habe verschwinden lassen); ich ergänze unwillkürlich aus der Erinnerung eine bestimmte (oder verschwimmende) Innenansicht. Ich könnte sie durch Notizen aus der Zeit vervollständigen. Und wenn das Foto an einem Festtag entstand, der mir im Gedächtnis haften geblieben ist, z.B. die Silberhochzeit meiner Eltern , kann ich viele Einzelheiten der äußeren Situation rekonstruieren.
  4. Fotos unterliegen krassen Fehldeutungen. Meine Mutter zeigte gern das Bild einer  jüngeren Freundin und sagte, sie habe ein Problem, weil sie keinen Mann „mitgekriegt“ hat. Es war eher ein Zufallsfoto, auf dem die Dame seitwärts in die Landschaft schaute und zudem nicht lächelte, daher war es für jede Projektion sehnsüchtiger Gefühle geeignet. Ich kannte sie allerdings als eine lebenslustige Person und mochte nicht glauben, dass ausgerechnet dieses Foto ihr Innenleben offenbarte. Vielleicht war sie kurzsichtig und wirkte deshalb beim Blick in die Ferne leicht angestrengt. Und es gab für sie gute Gründe, gerade meiner Mutter ein Foto zu schicken, das nicht suggerierte, sie nehme das Leben allzu leicht. Traurig war sie wohl nicht.

Ich mache einen Versuch:

Opa Familie 1915

„Draußen“ herrscht der Erste Weltkrieg. Der Mann ist nur auf Urlaub. Er ist genauso streng, wie er aussieht. Die Mutter sieht keine rosige Zukunft vor sich, sie wird in der Sekte bleiben, die der Mann aufgegeben hat. Der Junge wird als immer noch junger Mann im Zweiten Weltkrieg sterben. Das Mädchen wird sich mit dem Vater überwerfen, schwere Krankheiten erleben und vier Kinder gebären. Sie wird vom Tag des Fotos an noch fast 90 Jahre leben.

Natürlich lächeln sie alle nicht. Das war damals auf dem Lande nicht üblich. Die Sekte hieß übrigens „Ernste Bibelforscher“.

Aber was ich ausdrücken wollte, war etwas anderes. Ich erinnere mich, dass ich dazu einiges nachlesen wollte. Roland Barthes, Susan Sontag, Siegfried Kracauer, – es soll folgen und irgendwie zur Lösung der Titelfrage beitragen.

Nur vorläufig setze ich ein Foto hierher, das von dem ehemals kleinen Mädchen 1952 geknipst wurde, meiner Mutter. Ich vermute es, denn ihr Stuhl ist leer. Links mein Vater, hinten Tante Bertha, übrigens seine alte Tante, die ihn um mindestens 6 Jahre überlebte, und rechts sitze ich und schaue heraus wie mein Vater. Ich glaube, es ist vor allem die trübe Beleuchtung, die mich beschäftigt, es ist das Licht, das traurig macht. Auch die gefüllte Tasse meiner Mutter. In Wahrheit war es heller. Aber das Bild hat auf andere Weise recht.

Familienkaffee 1952

Ein Factum, das – vielleicht unnötig – traurig stimmt: all den Menschen, die wir auf alten Fotos betrachten, ist unbekannt, was vor ihnen liegt. Wir wissen es, wir kennen es – ihr „Fatum“. Vielleicht ist es ihnen aber gleichgültig, weil sie mit diesem Augenblick einigermaßen zufrieden sind? Sie alle leben (noch) und vergewissern sich dessen im Foto. Aus meiner Innensicht: mit 11 Jahren schien mir die Zukunft jenseits der 20, falls ich sie in Betracht zog, potentiell unendlich. Heute erfüllt mich mein damaliges Nichtwissen – fast ebenso wie das der anderen – mit Mitleid.

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Aus Susan Sontag: „Über Fotografie“ (Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1980, 2006)

Seite 14

Fotografieren wird zu einem Ritus des Familienlebens in eben dem Augenblick, da sich in den industrialisierten Ländern Europas und Amerikas ein radikaler Wandel anbahnt. Als jene klaustrophobische Einheit der Kernfamilie, aus einem sehr viel umfassenderen Familienkollektiv herausgelöst wurde, beeilte sich die Fotografie, die gefährdete Kontinuität und den schwindenden Einflußbereich des Familienlebens festzuhalten und symbolisch neu zu formulieren. Jene geisterhaften Spuren, die Fotografien, sorgen jetzt für die zeichenhafte Präsenz der verstreuten Angehörigen. Das Fotoalbum einer Familie bezieht sich im allgemeinen auf die Familie im weiteren Sinne – und ist häufig alles, was davon übriggeblieben ist.

Seite 21

(…) Die Fotografie ist eine elegische Kunst, eine von Untergangsstimmung überschattete Kunst. Die meisten Menschen, die fotografiert werden, haben, gerade weil sie fotografiert werden, etwas Rührendes an sich. Ein häßliches oder groteskes Modell kann rührend wirken, weil es der Fotograf seiner Aufmerksamkeit gewürdigt hat. Ein schönes Modell kann wehmütige Gefühle hervorrufen, weil es, seitdem die Aufnahme gemacht wurde, gealtert, verblüht oder gestorben ist. Jede Fotografie ist ein  memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit

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In einem seiner Essays, die zwischen 1920 und 1931 entstanden, denkt Siegfried Kracauer über das Porträt (s)einer Großmutter aus dem Jahre 1864 nach, die damals ein junges Mädchen war.

Die Enkel lachen über die Tracht, die nach der Verflüchtigung ihres Trägers allein den Kampfplatz behauptet – eine Außendekoration, die sich verselbständigt hat -, sie sind pietätlos, und heute kleiden die jungen Mädchen sich anders. Sie lachen und zugleich überläuft sie ein Grausen. Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, aus dem die Großmutter verschwunden ist, meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft. Zwar ist die Zeit nicht mitphotographiert wie das Lächeln oder die Chignons, aber die Photographie selber, so dünkt ihnen, ist eine Darstellung der Zeit. Wenn nur die Photographie ihnen Dauer schenkte, erhielten sie sich also gar nicht über die bloße Zeit hinaus, vielmehr – die Zeit schüfe aus ihnen sich Bilder.

Das Wort geht mir nach: „Sie lachen und zugleich überläuft sie ein Grausen.“ Ein paar Seiten weiter folgt eine ähnliche Beobachtung:

Als die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt worden ist aber statt der Großmutter jener Aspekt. [Welcher, bleibt hier unzitiert, siehe unten. JR]  Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist.

In diesen Sätzen steckt für mein Empfinden mehr Realität als in dem ganzen Photo-Buch von Roland Barthes („Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie“ 1980). Auch der folgende:

Die aktuelle Photographie, die eine dem gegenwärtigen Bewußtsein vertraute Erscheinung abbildet, gewährt in begrenztem Umfang dem Leben des Originals Einlaß. Sie verzeichnet jeweils eine Äußerlichkeit, die zur Zeit ihrer Herrschaft ein so allgemein verständliches Ausdrucksmittel ist wie die Sprache. (S.29)

In diesem Fall bezieht sich Kracauer auf eine Filmdiva seiner Zeit, was sich aber leicht transponieren lässt. Weiter mit Blick auf die Großmutter (mit Blick auf das zweite Foto oben könnte ich auch sagen: der Junge da oben – scheinbar jung -, bin doch ich gewesen, heute fast 25 Jahre älter als mein Vater damals, als er noch 7 Jahre zu leben hatte):

Das Gespenst ist komisch und furchtbar zugleich. Nicht das Lachen nur antwortet der veralteten Photographie. Sie stellt das schlechthin Vergangene dar, aber der Abfall war einmal Gegenwart. Die Großmutter ist ein Mensch gewesen, und zu dem Menschen haben Chignons und Korsett, hat der hohe Renaissance-Stuhl mit den gedrehten Säulen gehört. Ein Ballast, der nicht niederzog, sondern bedenkenlos mitgenommen wurde. Nun geistert das Bild wie die Schloßfrau durch die Gegenwart. Nur an Orten, an denen eine schlimme Tat begangen worden ist, gehen Spukerscheinungen um. Die Photographie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat. Durch das Bild ist bewiesen, daß die fremden Attrappen als ein selbstverständlicher Zubehör in das Leben einbezogen worden sind. Sie, deren mangelnde Transparenz auf der alten Photographie erfahren wird, haben sich mit den durchsichtigen Zügen früher unzertrennlich gemischt. Die schlimme Verbindung, die in der Photographie andauert, erweckt den Schauder. (…) Auch die Wiedergabe alter Schlager oder die Lektüre einst geschriebener Briefe beschwört wie das photographische Bildnis die zerfallene Einheit neu herauf. Die gespenstische Realität ist unerlöst. Sie besteht aus Teilen im Raum, deren Zusammenhang so wenig notwendig ist, daß man sich die Teile auch anders angeordnet denken könnte. Das hat einmal an uns gehaftet wie unsere Haut, und so haftet unser Eigentum noch heute uns an. Wir sind in nichts enthalten, und die Photographie sammelt Fragmente um ein Nichts. Als die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich anbot. Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist.

Quelle Siegfried Kracauer: „Die Photographie“ (Seite 21 bis 40) in: „Das Ornament der Masse“ / Essays / suhrkamp taschenbuch Frankfurt am Main 1977 (1963)

Ein altes Foto, das nicht traurig macht (sondern?), aus dem Album meiner Mutter:

Lohe 1929 Zeppelin Lohe bei Bad Oeynhausen 1929

Des Philosophen ornamentale Rhetorik

Zur Genese vorkultureller Polemik

Man wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis Herfried Münklers Kritik an den beiden Philosophen Sloterdijk und Safranski eine Erwiderung bekommen würde (siehe auch hier). Verwundern konnte jetzt nur die Länge der Sloterdijk-Suada, die vielleicht nur darin ihren Grund hat, dass die Überschrift bereits inhaltlich erschöpfend wiedergibt, was im Gedächtnis haften bleibt: „Primitive Reflexe / In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Abweichungshass“.

Das Stichwort Beißwut signalisiert bereits, dass eine feine Unterfütterung möglich wird, Prisen substantiellen biologischen Sandes im Getriebe der philosophisch umgeleiteten Reflexe. Vielleicht auch nur große Metaphern, die man diesem Philosophen mit Vorliebe um die Ohren haut: Beißwut und Reflex gleich „Hund, Pawlowscher“…

Man gewinnt den Eindruck, dass es dem Autor in seinem Artikel quälend lang um die Demonstration des eigenen Niveaus geht, wobei er jedoch auf einige Gags zweifelhaften Geschmacks nicht verzichten mag:

ZITAT

Man darf davon überzeugt sein, Pawlow hätte die Entwicklung der deutschen Debatten mit größtem Interesse betrachtet. Er würde sich in seiner reflexologischen Grundansicht bestätigt fühlen, sofern es tatsächlich oft nichts anderes als Auslöser-Zeichen sind, die bei Teilnehmern an aktuellen Diskussionen den Speichel fließen lassen, sollte es auch bereits digitaler Speichel sein. Bei manchen semantischen Stimuli wie „Grenze“, „Zuwanderung“ oder „Integration“ ist die Futtererwartung des erfolgreich dressierten Kulturteilnehmers so fest fixiert, dass der Saft sofort einschießt. Solange auf Foren genässt wird, darf man vermuten, die Absonderungen blieben harmlos. Pawlows Hund hat nie jemanden gebissen, selbst wenn man ihn mit leeren Signalen abspeiste.

Das geht durchaus in die Nähe historischer CSU-Entgleisungen, die seit Franzjosefs Zeiten vor animalischen Anspielungen nicht zurückschreckten. Der Hinweis, dass Münkler kein kleiner Kläffer ist, im Gegensatz zu einem gewissen Kölner Philosophen, steht noch bevor. Aber die hinrichtende Vokabel für böse Lesarten der von Ornamenten überbordenden Texte liegt schon bereit: Nuancen-Mord.

ZITAT

Man hat zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet, dass in einer alphabetisierten Zivilisation das Lügen eine Variante entwickelt: das absichtliche schlechte Lesen, das heißt die praktische Ausübung des Nuancen-Mords. Es sind naturgemäß politisierte oder politologisierende Intellektuelle, die bei diesem Vergehen die Täterstatistik überproportional bevölkern. Sie fallen dadurch auf, dass sie Ideen umzingeln wie Frauen in Silvesternächten.

Lese ich schlecht? Oder sogar recht und schlecht? Wer hat nun Ideen umzingelt und wer die Frauen in der Silvesternacht? Ist der Mann bei Troste? Wenn er endlich im letzten Viertel seines Textes auf dessen Anlass und Zweck zu sprechen kommt, tut er so, als sei das nur ein beiläufiges Impromptu:

ZITAT

Ein kurzes Wort will ich anfügen zu der Polemik von Herfried Münkler gegen Safranskis und meine Äußerungen über deregulierte Migrationen und übers Ufer getretene Flüchtlings-“Ströme“. Der Fall hat eine aparte Seite, da Münkler kein kleiner Kläffer ist, wie ein Philosophie-Journalist aus der Narren-Hochburg Köln, der offensichtlich immer noch nicht weiß, wer und wie viele er ist. Münkler jedoch hat sich als Autor von Statur erwiesen. Umso erstaunlicher bleibt seine Fehllektüre-Leistung, die er in einem Artikel dieser Zeitung vor wenigen Wochen zum Besten gegeben hat.

Immerhin: anders als bei Precht sieht er hier nur eine Fehllektüre-Leistung und keinen Nuancen-Mord.

Das alles ist unbegrenzt ausbaufähig, jedes Detail kann paraphrasiert werden. Bis endlich die Stretta der letzten Sätze eine natürliche Coda ergibt:

ZITAT

In der Zwischenzeit, denke ich, sollte Herr Münkler die Gelegenheit nutzen, seine okkasionellen Ungezogenheiten zu überdenken. Offenbar stammen seine polemischen Thesen (er war erregt genug, meine und Safranskis Sorgen-Thesen als unbedarftes „Dahergerede“ zu bezeichnen) doch auch zum Teil aus der Sphäre der vorkulturellen Reflexe, nicht zuletzt aus dem Revierverhalten und dem Streben nach Deutungshoheit. Sind unsere Sorgen nicht zu real, als dass sie auf die Ebene von Gezänk zwischen Krisen-Interpreten gezogen werden dürften? Es kann nicht wahr sein, dass ausgerechnet unter Intellektuellen die unbedingten Reflexe gegenüber den bedingten die Oberhand gewinnen.

Bleibt nur noch eine Nacharbeit auf dem Felde der Kläffer-Komplexe: Was unterscheidet nochmal die bedingten von den unbedingten? Man schaue hier. Und was den Hund schlechthin angeht, hier!

Quelle der Zitate DIE ZEIT 3. März 2016 Seite 39-40 Primitive Reflexe In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Abweichungshass. Eine Antwort an die Kritiker. Von Peter Sloterdijk.

Nachtrag 21. März 2016

Ich hätte mir denken können, dass es nicht bei der Entgegnung des Philosophen bleiben würde, und erst mit der neuerlichen Antwort des Politologen wird aus dem polemischen Wortwechsel ein hochinteressanter Diskurs über strategisches Denken und gedankliche Ausweichmanöver. Stoff genug für ein methodisches Seminar. Ich würde viel darum geben, wenn sich auch Rüdiger Safranski dazu äußern würde.

DIE ZEIT 10. März 2016 Seite 42 Weiß er, was er will? Der Philosoph Peter Sloterdijk hat sich vorige Woche in der ZEIR gegen die Kritik von Herfried Münkler gewehrt und ihn einen „Kavaliers-Politologen“ der Kanzlerin genannt. Eine Antwort / Von Herfried Münkler.

Kölner Phase (unrepeatable)

Steve Reich hören lernen

In der Kölner Philharmonie hat sich ein Skandal ereignet, endlich mal, da muss man nicht immer wieder von dem Skandal 1913 beim „Sacre du printemps“ anfangen, oder ich mit meinem Lieblingsbeispiel, das ich 1960 nur vom Tonband eines Freundes gehört habe: Moses und Aron in Berlin unter Hermann Scherchen. Die Proteste bei der Uraufführung waren offenbar live über den Sender gegangen: als Scherchen den protestierenden und randalierenden Zuschauern zurief: „…dann muss ich Sie denen zurechnen, die meine Autoreifen zerschnitten haben und die gedroht haben, mir Vitriol ins Gesicht zu schütten!“ – Ich eilte zu Beginn meines Studiums sofort in eine Aufführung, die ruhig verlief, sehr eindrucksvoll (mit Josef Greindl), mir schien auch, dass nicht Schönbergs Musik die Menschen so erregt hatte, sondern der Tanz ums Goldene Kalb, die Nacktheit der tanzenden Menschen in ihren fleischfarbenen Trikots, ihre bacchantisch zur Schau gestellte, überzeugend gespielte Lüsternheit.

Nichts von alledem in Köln! Im Konzert des Ensembles Concerto, offenbar vor einem Publikum, das gewöhnt ist, in Konzerte Alter Musik zu gehen und das sich dieser Tatsache auch im Verlauf des Konzertes bewusst bleiben will, geschah das Unglaubliche: es wurde das gespielt, was im Programm vorgesehen und auch während des Konzertes im Programmheft nachzulesen war. Was dann aber passiert ist, muss ich nicht aufschreiben, man kann es leicht nachlesen: in Spiegel online, (jedoch: nicht „abgebrochen“, sondern „unterbrochen“!), man studiere auch die Kölner Medien (und klicke sich darin weiter) z.B. hier und vor allem die Beiträge von Seiten des Ensembles Concerto auf Facebook, klicke in den Bericht des Solisten („Noisy dissent disrupts a harpsichord recital“) und in die Stellungnahme des Cellisten Alexander Scherf hier.

Ein Jahr bleibt nun Zeit, die Schande wieder gut zu machen und am 1. März 2017 bestens präpariert aufs neue in die Kölner Philharmonie zu wandern. Mahan Esfahani: auch ich will dabeisein! Im Namen der persischen Musik! Und im Namen der Mbira-Musik Zimbabwes! Im Namen des Bach-Kanons auf dem Haussmann-Porträt!

Es ist nur ein kleiner Ausschnitt – aber keine Kapitulation vor dem Publikum – ein Appetizer – man kann die CD erwerben und die „Piano Phase“ nicht nur vollständig hören, sondern vor allem das Hören üben. Es ist nie falsch, das Hören auch als eine Aufgabe zu betrachten, Musik ist nicht nur eine Bringschuld des Interpreten, sondern ebenso eine Holschuld der Rezipienten. Wenn sie nicht hören (wollen), was da vor sich geht, können sie es nicht dem Interpreten anlasten, der sein Bestes gibt.

Dem Programmheft wäre übrigens durchaus Anregendes zum Prinzip „Wiederholung“ zu entnehmen gewesen:

Auch wenn sie mit ihren Phasenverschiebungen mitunter sehr spielerisch erscheint, ist sie doch eng mit geistigen und spirituellen Fragen verknüpft. Für Piano Phase trifft das in besonderer Weise zu. Einerseits ist es sehr reizvoll, dem musikalischen Verlauf aufmerksam zu folgen, andererseits rufen die Klänge bei entsprechender Einlassungsbereitschaft einen Zustand meditativer Versenkung hervor – wobei beides gleichzeitig erfolgen kann. Steve Reich abstrahiert in Piano Phase von Annäherung und Entfremdung, indem er eine einheitliche Melodiesequenz subtil auseinanderdriften lässt.

(Egbert Hiller)

Wenn man die Struktur auch technisch besser versteht, hätte man die Chance, eine besondere Wahrnehmungsweise zu entdecken. Und ich schwöre: wer es genau weiß, wird mit höchster Aufmerksamkeit, ja, mit Spannung zuhören, was nicht heißt: das Stück hat die gleiche Relevanz wie ein Bach-Konzert. Darum geht es nicht. Nein, ohne dieses Werk wäre unsere Alte Musikkultur nicht in Gefahr. Aber mit der plumpen Verweigerung ist keinesfalls das Abendland verteidigt, – sondern die schiere Dummheit hätte wieder einmal gesiegt.

Als Ziel meiner Überredungskunst noch ein spezieller Hinweis, von besonderem Interesse für Klavierspieler, die imstande sind, mit ihren zwei ineinanderwirkenden Hände eine einfache Tonfolge einzustudieren. Zwei Seiten aus Hans Peter Reutters Satzlehre HIER.

Und hier die Nutzanwendung:

Ausführende: Tinnitus Piano Duo / Tine Allegaert & Lukas Huisman

Nachtrag 3. März 2016: Das seltsame Echo des Kölner Eclats

Kölner Skandal im ST 160303

Ein so großer Bericht auf Seite 3 einer ganz gewöhnlichen Tageszeitung über ein außergewöhnliches Konzert? Ja, und von einem Journalisten, der sonst politische Kommentare schreibt (lesenswerte). Ich vermute, dass also übergeordnete Gründe zum Tragen kommen sollen, keine musikalischen. Das Bild ist ein Blickfänger, die Unterzeile suggeriert jedoch, dass der Musiker auf eine „erzwungene Unterbrechung seines Konzertes“ in dieser Weise reagiert habe: nämlich provokativ schlafend. Verachtung zeigend. War es so? Ist es nicht eins der üblichen Künstlerfotos, die den Interpreten in ungewöhnlichen Posen zeigen, um eine allzu biedere Sicht auf die Podiumssituation zu unterlaufen? Wie hier zum Beispiel:

Mahan Esfahani kl Foto: Marco Borggrefe 2009

Ärgerlich wird es, wenn der längere Teil des verbalen Berichtes unter dem Stichwort „Argwohn des Kulturbetriebes gegen das eigene Publikum“ steht und dann ausgerechnet Handkes programmatische „Publikumsbeschimpfung“ aus dem Jahre 1966 heranzieht. Damals war die Provokation unmissverständlich künstlerisches Ziel der Veranstaltung, wie auch oft bei den Happenings jener Zeit. Es ist aber einfältig, im Zusammenhang mit der aktuellen Situation zu schreiben: „Misstrauen und Verachtung des Publikums gehörte immer schon zur intellektuellen Folklore.“

Im Kölner Konzert wurde ein heute durchaus normales Programm präsentiert, nicht provokativer als etwa Beethovens „Eroica“. Und wenn ein Segment des Publikums – zur Kaffeezeit am Sonntagnachmittag – deutlicher als sonst zeigt, dass es vom Ernst des Spieles auf der Bühne noch nie gehört hat, kann das eigentlich niemanden erschrecken. Aber erst recht nicht zur freundlichen Verständigung mit diesem Segment ermuntern. Ich habe ein ähnlich – sagen wir – kühn aufgebautes Programm an einem Abend (!) in der Kölner Philharmonie erlebt (mit dem Kelemen-Quartett ) und habe nicht nur über die Interpreten, sondern auch über das hoch motivierte, ja, ideale  Kölner Publikum gestaunt.

Nachtrag 19. März 2016

Ein verspätet veröffentlichter Leserbrief im Solinger Tageblatt erinnert mich an die Möglichkeit, Steve Reich im Konzert eines Ensembles, das mit der engagierten Interpretation Alter Musik bekannt geworden ist, ganz anders wahrzunehmen, als es mir, der ich nicht dort war, einleuchtend erschien. Und auch anders als es dem Briefschreiber, mit gutem Grund, berichtenswert erscheint:

Cembalo Philharmonie ST 160318 Solinger Tageblatt 18/03/2016

Steve Reichs „Piano Phases“ (1967) ist ein fast 60 Jahre altes Stück, das immer wieder zu einer Ohren-Übung einlädt, aber es ist alles andere als ein Klassiker, den man immer wieder zu hören wünscht, sagen wir: wie Ligetis „Atmosphères“ (1961). Es gibt – wenn man es einmal kennt -keine neuen Facetten daran zu entdecken. Und wenn die Einführung des Cembalisten etwa (ich weiß es nicht!) den Eindruck erweckt hat, dass das Publikum vorweg eine Nachhilfestunde braucht, kann man sich einen gewissen Unmut erklären, der auch durch einen zu Hilfe eilenden Herrn aus dem Publikum nicht unbedingt gemindert wird.

Um nicht die falsche Klientel zu bedienen, habe ich übrigens im Artikel ganz andere (von mir durchaus gewünschte) Heiligtümer einer öffentlichen Aufführung beschworen:  „Im Namen der persischen Musik! Und im Namen der Mbira-Musik Zimbabwes!“ Und mit der Erwähnung des Bach-Kanons (BWV 1072) meinte ich eine Wiedergabe in perpetuo, die ihn wie (!) eine minimalistische Musik wirken lässt (vgl. u.a. auch Conlon Nancarrow).

Aber ich bin nicht überzeugt, dass man ein typisches Publikum der Alten Musik im Konzert erwecken muss, – übrigens erst recht nicht mit einem Stück von Górecki.