Archiv für den Monat: August 2015

„Mit Gott“

Heute 10.30 h Quartettprobe. Es gibt eine neue Aufgabe: Schumann op. 41 Nr. 1 a-moll. Der langsame Satz (rhythmisch wahrscheinlich nicht leicht zusammenzubringen), – was ist mit dem Beethoven-Anklang? Angeblich auf Adagio IX. Sinfonie bezogen. Aber viel näher an „Heiliger Dankgesang“. Oder denke ich das nur wegen der aufsteigenden Sexte? Ist sie es, an die sich Schumann mit dem handgeschriebenen Eintrag nach dem Scherzo („Mit Gott“) erinnern wollte?

(Fortsetzung folgt in 6 – 7 Stunden. Diese Worte als Selbstverpflichtung.)

Der langsame Satz erwies sich erwartungsgemäß als schwierig (aufgrund der rhythmischen Struktur). Aber auch in den anderen Sätzen (mit Ausnahme des Scherzos) gibt es Verständnisprobleme, die – grob gesagt – darauf beruhen, dass man scheinbar unnötige Härten oder Sprödigkeiten wahrnimmt. Als habe der Komponist partout alles vermeiden wollen, was „auf der Hand“ liegt. Dem kommt man nur bei, wenn man seine Arbeit an „musikalischer Prosa“ kennt, genau wie in den Klaviertrios (!), keine „quadratischen“ Verhältnisse, die in Zweier-, Vierer-, Achtertaktgruppen zu verstehen sind. Andererseits gibt es (scheinbare) Simplizitäten, da scheint etwa im ersten Satz ein Fugenthema einzusetzen, mit nun wieder allzu regelmäßigem Fortgang, und man weiß nicht recht, was dieses Statement sagen will und warum es von jedem Instrument gesagt werden muss.

Man spürt, dass er am späten Beethoven Maß nimmt, ohne der Lage vollständig gewachsen zu sein. (?)

Andererseits gibt es keinen Zweifel, dass dieses Werk „bedeutungsvoll“ ist und dass die äußerlichen Probleme verschwinden werden, wenn man es erst technisch im Griff hat.

Abgesehen von der Merkwürdigkeit, dass der Kopfsatz in F-dur steht, nur die Einleitung in a-moll: ein karger Kontrapunkt, der nach Kanontechnik klingt, jedoch mit auffällig leeren Zusammenklängen, 2. Takt mit Einklang, 3. Takt Quintklang und wieder Zusammentreffen der beiden Geigen auf Einklang, in Takt 12 erhält dasselbe Motiv in der zweiten Violine plötzlich eine Punktierung, die nirgendwo sonst wiederkehrt. Schon in Takt 8 eine unerklärliche rhythmische Variante.

(Fortsetzung incl. Notenbeispiel folgt)

Meine Anfangsbemerkung stütze sich auf folgenden Text, den ich im „Schumann-Portal“ fand (Autorin: Irmgard Knechtges-Obrecht):

Eine effektvolle, aber eigenwillig erzielte und beinahe als „falsch“ empfundene Schlusswendung beendet diesen lebhaften Satz, dem nun an dritter Stelle erst der langsame folgt. Hier artikuliert Schumann seine Bewunderung für Beethovens Werke ausdrücklich, verbindet er doch sein Adagio mit dem Kopfmotiv des Adagio molto e cantabile aus dessen 9. Sinfonie. Zunächst hebt das dreiteilige Adagio mit einer kurzen, geheimnisvoll unbestimmt gehaltenen Einleitung aus den tiefen Registern des Cellos an, bevor sich dann mit Beginn des Hauptteils auch die Grundtonart F-Dur einstellt. In die nun erklingende lyrisch getragene Kantilene webt Schumann nicht nur das Motiv aus Beethovens Sinfonie ein, sondern lässt auch die feierlich-religiöse Atmosphäre von deren langsamem Satz aufleben. Was bei Beethoven als Choralvortrag wirkte, empfindet man jetzt bei Schumann noch weiter fortgeführt zu einem ganz persönlichen, innigen Gebet. Sicherlich nicht ohne Grund schrieb Schumann vor Skizzierung dieses Satzes, am Ende des vorausgegangen in sein Manuskript die an keiner anderen Stelle auftauchenden Worte „Mit Gott“.

Meines Erachtens ist die Begründung des Beethoven-Bezuges (IX. Sinfonie) wenig überzeugend, wenn man nicht den Beethovenschen Streichquartettsatz einbezieht, der tatsächlich „als Choralvortrag“ nicht nur wirkt, sondern auch gemeint ist, nämlich den „Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“. Doch zunächst zur Ausgangssituation, da meine Gedanken fortwährend um die Aussage dieser beiden rot gekennzeichneten Intervall-Motive in Schumanns Adagio kreisen:

Schumann Adagio a Schumann Adagio b

Das erste sorgt für die Assoziation des Adagios der IX. Sinfonie, führt aber auch zum Kopfsatz des Erzherzog-Klaviertrios samt motivischer Arbeit dort, zum Thema der Violinsonate A-dur von Brahms und unvermeidlich zu Stolzings Meistersinger-Lied. Während das zweite unzählige Anrufungen evoziert, die ich im Fall Bach schon einmal notiert habe (betr. die Tirata in Takt 2 der Solosonate g-moll). Siehe dort Seite 412: „Herr Zebaoth“, „Mein Gott“, „Ach Gott“, „Wir beten“, „Erbarme dich“ usw. (vgl. Schumanns Notiz „Mit Gott“), ich erinnere auch an Beethovens Streichquartett op. 18 Nr. 1 Adagio affettuoso ed appassionato (d-moll! Julias Klage um Romeo). Und eben an das Streichquartett op. 132 Molto Adagio. (Siehe im folgenden Beispiel die ersten beiden Töne unter Klammer 3.)

Beethoven Dankgesang Choral

Um die Arbeit nicht ins Uferlose zu treiben, habe ich im folgenden die jeweiligen Einleitungstakte weggelassen und eine wirklich sehr unvollkommene Klavierskizze der Adagio-Themen in Beethovens und Schumanns Werk angefertigt, unterlasse aber jede vergleichende oder abgrenzende Bemerkung. (Festgehalten sei nur, dass ein Vergleich zwischen einer Schumannschen Einleitung und einer Beethovenschen sich schon in Heinrich Schenkers Analyse des Adagios der Neunten Sinfonie auf Seite 200 befindet.) Aufmerksam gemacht sei allerdings auf die eigenartige Möglichkeit, dass die Fortspinnung der Takte 8-10 bei Schumann durch Beethovens Takte 8-10 inspiriert sein könnte.

Beethoven + Schumann Beerthoven IX Adagio Beethoven

Beethoven Schumann Schumann Adagio Schumann

Der Einwand, dass bei Schumann der Ton f“ in Takt 5, der Zielton der „Anrufung“, nicht auf dem Schwerpunkt des Taktes steht, gilt nicht; er wird nachgeliefert, der Gang zum Basston D verdient zunächst alle Aufmerksamkeit. (Eine Verschiebung des Taktschwerpunkts findet man bei Schumann häufig; sie gehört zur Tendenz „musikalischer Prosa“.)

Siehe weitere Aspekte hier.

Zitate zur aktuellen Wagner-Regie

Stephan Mösch über Frank Castorf

… der sich mit seiner Inszenierung von einem dergestalt proklamierten Werkbegriff distanziert und erklärte: „Was wir machen, ist Dynamisierung des musikalischen Originals durch Gegenhandlung.“

Nicht mehr um den (ideologisch fixierbaren und instrumentalisierbaren) narrativen Ablauf eines Stückes soll es gehen, sondern um Fragmente daraus, die mit Kommentaren, Kalauern, anderen Texten, mitunter auch mit einer Fülle des Leerlaufes kombiniert werden. (S.77)

Es geht weniger um Intertextualität als darum, die Grenzen von ästhetischer Erfahrung zu verschieben. Er wolle, „das Leben auf die Bühne bringen“, sagt Castorf. Er suche einen „daseinsanalytischen Ansatz“. Dafür sei ihm das Stück als abgeschlossenes Gebilde zu wenig. (S.78)

„Leben“ erweist sich als Oppositionsbegriff zur Darstellung des tradierten Schauspiels und der damit verbundenen Identifikationsästhetik.

(…) Die Aufführung versteht sich demzufolge nicht als Wiedergabe, sondern als Tat im emphatischen Sinn. (S.78)

Alles, was (als Körpersprache, verbale Mitteilung, szenisches Bild usw.) auf Bedeutung zuläuft, kann unter solchem Vorzeichen als „Unterwerfung unter eine Chimäre“, „blinder Akt des Glaubens“ oder weniger polemisch, als „Identifikation auf Zeit“ gemieden werden. Stattdessen wird Selbstreferenzialität als Mittel genutzt, den theatralen Augenblick neu zu definieren, neu zu erfinden. Damit verbindet sich nicht zuletzt ein Einspruch gegen das Theater als Institution (und institutionalisierter Ablauf) sowie die damit einhergehenden Produktionsfaktoren und Rezeptionshaltungen.

Es wäre jedoch irrig, aus dieser Bilderfolge einen hermeneutischen Zugriff zu folgern: Die Konkretion und die damit verbundene diegetische Transposition liefen nicht auf eine Neudeutung hinaus, vielmehr lieferten sie einen Rahmen, in dem Konstituenten des Castorf-Theaters greifen konnten. Der Zugang bleibt überaus persönlich, assoziativ, sprunghaft und autobiografisch. (S.80)

Die Tendenz, musikalische und dramaturgische Schlüsselstellen – in Castorfs Terminologie – zu „zerschlagen“, oder , neutraler formuliert, zumindest ansatzweise neu zu formatieren, setzt sich wenig später fort. (S.82)

Störung oder „Zerschlagung“ im Sinn von Dekonstruktionsbestreben richten sich gegen Immanenzen, damit auch und gerade gegen musikalische Schlüsselstellen und déren Autonomität. Wie für die Augen soll auch für die Ohren das Bekannte konterkariert werden, das kompositorisch besonders Geformte und Herausgehobene abgewertet: Störung als Gegenläufigkeit. (S.83)

Er bricht die Musik nicht nur (wie am Schluss des Rheingold), er blendet sie weitgehend aus.

Wo Wagner auf musikalische Verdichtung zielt, bricht Castorf jede prozessuale Entwicklung, evoziert laute Lacher im Publikum. Slapstick („Gegenhandlung“) dynamisiert den musikalisch-dramaturgischen Ablauf nicht nur, er hebelt ihn aus. (S.84)

Das „musikalische Original“ steht, von gelegentlichen Oberflächenreizen abgesehen, kaum zur Diskussion. Es wird in seiner Tiefenstruktur gar nicht erfasst. (S.87)

Quelle Musik & Ästhetik 19. Jahrgang Heft 75, Juli 2015 Klett-Cotta Stuttgart Stephan Mösch. „Die Krokodile sagen alles“ Frank Castorfs Bayreuther Ring und die „Dynamisierung des Originals“ (Seite 77 bis 88)

Dies ist keine Zusammenfassung der komplexen Darstellung von Stephan Mösch, sondern eine Aneinanderreihung charakteristischer Zitate, die zudem im Fall von „Zitaten im Zitat“ die Quellenangaben des Originals (Fußnoten) nicht berücksichtigen. Es lag mir nur daran, die im sachlich analytischen Verlauf zutagetretenden meinungsbildenden Faktoren zum Vorschein zu bringen. Womit sich natürlich nicht die Lektüre des Gesamttextes erübrigt. Im Gegenteil: sie erst ergibt den mit konkreten Beispielen angereicherten Verständnishorizont. J.R.

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Mein Fazit: Was den Regisseur an der totalen Verwirklichung der von ihm gefühlten Aufgabe hindert, ist das, was mich allein motiviert: die Musik Wagners in ihrem linearen, narrativen Ablauf. Aus der Sicht der Regie-Arbeit ist logischerweise nicht zu verstehen, weshalb die Musik unantastbar sein soll, während alles andere – um der Wahrheit und des „Lebens“ willen -aufgebrochen werden darf. Mich stört dieser Widerspruch. Warum kann man mit der akustischen Komponente nicht auch so verfahren wie mit dem Rest der Wagnerschen Vorstellungswelt: warum nicht die Worte verändern, ins Gegenteil verkehren, Geräusche und Elemente der heutigen (musikalischen) Realität einblenden? Dem Auftritt der Plastikente etwa könnten Einsprengsel von Mickey-Mouse-Musik entsprechen. Dort, wo die Sänger schweigen, könnten Dick-und Doof-Dialoge zu hören sein.

In der Tat wäre die Frage, warum nicht längst auch im Konzertsaal die breit konzipierte Ästhetik des Regietheaters Fuß gefasst hat. Warum gibt es dort intakte Werke – auf einer Bühne – angesichts einer Welt da draußen, in der nichts mehr „in Takt“ ist? Warum nicht endlich die ganze musikalische Kunst und ihre lügenhaften Fiktionen durch Realität ersetzen?

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Peter Sloterdijk über Katharina Wagner:

Sie dient bis auf Weiteres als lebender Beweis dafür, dass Talent nicht erblich ist.

Peter Sloterdijk über Frank Castorf:

Dass der Regisseur ein Zyniker und Schlamper ist, weiß man nicht erst, seit er am Hügel seine Visitenkarte abgab. Der aktuelle Kulturbetrieb benutzt Zyniker und Schlamper als Informanten über das, was als Nächstes kommt. Wer ärger schlampt als andere, prägt die nächste Saison. Wer das Publikum heftiger verachtet als andere gelernte Verächter, wird weitergereicht in die nächste Runde.

Peter Sloterdijk über das Bayreuther Publikum:

Gegen die kondensierte Verehrung der Besucher kommt hier niemand auf. Keine Herabsetzung vermag dort die Empörung zu entmutigen. Das musste wissen, wer am Hügel inszenierte. (…) Gleichwohl, mit Wagnerianern soll man über dieses Rheingold reden. Mit Verkehrungen kennen sie sich aus. Sie haben gelernt, das Abwegige „anregend“, das an den Haaren Herbeigezogene „spannend“ und das Misslungene „interessant“ zu finden. Ja, interessant war das Rheingold gewiss. Man kommt mit dieser Feststellung unvermeidlich auf Nietzsche zurück, der sich bezichtigt, zeitweilig der korrupteste Wagnerianer gewesen zu sein. Früher als die übrigen Kulturkritiker hatte verstanden, was das Wesen des Interessanten ausmacht: Es bildet das Produkt aus den drei Stimulanzien der Entnervten – aus dem Brutalen, dem Künstlichen, dem Idiotischen. In heutiger Sprache: Aktion, Spezialeffekte, Sentimentalität. Womit der Turiner Toxikologe die beginnende Massenkultur erschöpfend beschrieben hatte.

Quelle DIE ZEIT 6. August 2015 Seite 39 f “Bayreuther Assoziationen / Eine Reise zu den Festspielen” Von Peter Sloterdijk

Auf dem Boden bleiben!

Bundesliga beginnt

Bundesliga a  Bundesliga b

Keine Wallfahrt!

ZITAT

Als erstes fällt bei den Fans die Erzeugung von Gemeinsamkeit auf. Ähnlich vereinigend wie gemeinsames Trinken wirkt das Absingen von Fußballhymnen, unterstützt von gleichen Bewegungsweisen. Bei den sangeskundigen englischen Fußballfans wird der religiöse Charakter der Gesänge deutlicher als bei den deutschen. Der berühmteste aller Fangesänge You’ll never walk alone wurde nach dem Ersten Weltkrieg während der englischen Cup-Finale im Wembley-Stadion in Erinnerung an die gefallenen Fans gesungen. Beim Absingen dieser Hymne ist heute eine strikte rituelle Ordnung einzuhalten (die auch auf deutschen Fußballplätzen gilt). Die Schals werden mit beiden Händen über den Kopf gehalten und im Rhythmus der Musik langsam hin und her bewegt, wie die Fahnen einer Prozession. Zum Heiligen halten die Fans engen Kontakt. In Marseille pilgerten sie vor dem UEFA-Pokalendspiel zur Wallfahrtskirche Notre Dame de la Garde, um dort eine Kerze zu entzünden. Der FC Sankt Pauli gab unter dem Titel Glaube, Liebe, Hoffnung eine „Fan-Bibel“ heraus. Wissentlich oder nicht hat er die göttlichen Tugenden zu seinem Wahlspruch gewählt, durchaus passend zu seinen Fan-Artikeln, vom Wimpel bis zur Unterhose und zum Pauli-Gartenzwerg.

Quelle Gunther Gebauer: Poetik des Fussballs campus verlag Frankfurt am Main 2006 (Seite 100 f.)

Wer heute nach dem zitierten Wahlspruch beim FC Sankt Pauli selbst sucht, stößt bei den „Kiezhelden“ auf eine Baustelle (hier). Sie wird doch wohl nicht erst nach der schmerzlichen Niederlage gegen Mönchengladbach (vorgestern) eingerichtet worden sein?

NOCH EIN ZITAT

Es gibt Situationen im Leben, denen wir gern eine Schlüsselbedeutung zuweisen. In ihrer verdichteten Form erschließen sie bisher verborgen gebliebene Lebensbereiche. Am 28.11.1993 gab es für mich einen solchen erhellenden Augenblick. Reinhold Mokrosch hatte seine zwei Mitstreiter für eine empirische Wertforschung überraschend am Freitagabend zum Fußballspiel des VFL ins Stadion An der Bremer Brücke eingeladen. Obwohl schon seit mehreren Jahren im Wettstreit um die Erforschung von Moralauffassungen miteinander verbunden, wurde erst am diesem Abend deutlich, welche integrierende Bedeutung ein Fußballspiel für eine Forschergruppe haben kann. Der Philosoph in dieser Runde zeigte sich als fachkundiger VFL-Fan, der Sportwissenschaftler mußte sich schon aus beruflicher Sicht engagiert zeigen und der Religionspädagoge gab dem Abend seinen interpretativen Stempel. Als in der Ostkurve nach dem Führungstreffer der Osnabrücker die Wunderkerzen angezündet und sie im Rhythmus des Anfeuerungsgesanges hin und her bewegt wurden, platzte es aus ihm heraus: „Das ist ja wie in der Kirche – nein, es ist in der Form von Ergriffenheit mehr als wir es dort vermögen“ – Woraus sich die ironisch-nachdenkliche Frage ergab: „Ist der Sport die Religion des säkularen 20. Jahrhunderts?“

Damit sind wir vom unschuldigen Anlass „Fußball“ gleich zweimal in höchst problematische Bezirke abgedriftet. Der Samstag soll uns wieder vom Kopf auf die Beine stellen, selbst Adornos Diktum, das alsbald auftauchen wird,  werden wir hoffentlich rechtzeitig abstreifen:

Denn zum Sport gehört nicht nur der Drang Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden … Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue … (ADORNO 1997, 43)

Lassen Sie uns den Vortrag zu den allermerkwürdigsten Aspekten von Spiel und Sport hinter uns bringen! Der Titel: Der Sport – die Religion des 20 Jahrhunderts? Autor: Prof. Dr. Elk Franke. Nachzulesen: HIER.

Neue Ernüchterung 14. August 2015

Eine letzte Saison der Vernunft (Kommentar von Olaf Kupfer in der WZ)

ZITAT

Denn was Fußball-Romantiker[n] den Atem raubt, wird nach dieser Saison wahr: Getrieben von den wahnwitzigen Verhältnissen in England, wo die Clubs der Premier League dank einer exorbitanten Pay-TV-Vermarktung über vielfache Einnahmen der Bundesligisten verfügen, bricht auch die deutsche Liga (DFL) auf zu neuen Ufern: Extrem zersplitterte Spieltage werden schon bald die hektische Betriebsamkeit der Spitzenclubs rahmen, noch mehr Geld zu generieren – um nicht abgehängt zu werden.

Verrückte Verhältnisse kündigen die Manager für den Sommer 2016 an: Von einer Abwanderungswelle gen England ist die Rede. Und von einer Gehaltsexplosion für Spitzenspieler. Vom Ungleichgewicht des Weltfußballs. Da wollen wir es uns doch noch mal gemütlich machen und eine letzte Saison der Vernunft feiern.

Quelle Solinger Tageblatt 14. August 2015 Seite 2 / im Volltext nachzulesen als Leitartikel der Westdeutschen Zeitung WZ HIER.

Bayarena Live 15.26 h  20150815_152634  BayArena Spielunterbrechung 20150815_160754 BayArena Ecke 20150815_164442  BayArena Alleingang 20150815_163209  Fussball x Leverkusen Hoffenheim 15 August 2015

15. August BayArena 15.30 bis 17.15 Uhr Leverkusen:Hoffenheim 2:1 (Handy-Fotos JR)

Nicht rassistisch, sondern religiös

Ein bemerkenswerter Unterschied

Ich erinnere an den Eintrag, die Kirchen in Lemgo betreffend. Man lese noch einmal den Kommentar, den der Kirchenvorstand zum Passions-Relief auf einer kleinen Tafel angebracht hat:

Unser Verhältnis zum jüdischen Volk steht nach wie vor im Schatten der jahrhundertealten judenfeindlichen Haltung sowie der Judenverfolgung und des Mordes an den Juden in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland und in den okkupierten Gebieten.

Es ist an dieser Stelle sicher nicht beabsichtigt, aber man vergisst leicht, dass der rassistische Wahn und der religiöse nicht im gleichen Kontext zu sehen sind. Der eine begründet sich aus der Bibel, der andere aus einer defizitären Biologie, wobei die Frage ist, ob die Juden nur in den Focus der Nazi-Ideologie geraten konnten, weil sie innerhalb der Kirchengeschichte seit alters unter Anklage standen. So schreibt Herbert Rosendorfer:

Ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte darf nicht unerwähnt bleiben. Seit spätantiker Zeit wohnten (wie überall im Römischen Reich) auch auf dem Gebiet des späteren Deutschland Juden. Für Köln ist eine jüdische Gemeinde im früheren vierten Jahrhundert bezeugt. Für karolingische und ottonische Zeit sind solche Gemeinden in vielen Städten des Rheinlandes und Süddeutschlands nachweisbar. Das Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung war relativ gut. Dennoch ist festzuhalten, daß der (nicht rassistisch, sondern religiöse) Antisemitismus, was heute von der Kirchengeschichtsschreibung gern heruntergespielt wird, zum wesentlichen Kern der christlichen Theologie gehörte. Gerechterweise muß dagegen wiederum gesagt werden, daß die wenigen wirklich großen Geister der mittelalterlichen Kirche den im elften Jahrhundert beginnenden Judenverfolgungen entgegentraten, so etwa Bernhard von Clairvaux. In Deutschland kam es in Mainz 1012 zum ersten Progrom, Ende des Jahrhunderts kamen irreguläre Horden, die sich auch Kreuzfahrer nannten, aus Frankreich und Flandern über den Rhein, und da diese Horden – mit Recht – daran zweifelten, je ihr Ziel Palästina zu erreichen, massakrierten sie die näher greifbaren „Feinde Christi“, nämlich die Juden in den rheinischen Städten. In manchen Fällen konnte diese Barbarei von der Obrigkeit abgewehrt werden, aber leider ist zu vermerken, daß die christlichen Deutschen Gefallen an den bequemen und straflosen Judenverfolgungen fanden. Und so zieht sich neben der mehr oder minder glänzenden deutschen Geschichte die blutige, traurige, nach Rauch und Brand stinkende Geschichte der deutschen Judenfeindschaft durch die Jahrtausende hin.

Quelle Herbert Rosendorfer Deutsche Geschichte Ein Versuch Von den Anfängen bis zum Wormser Konkordat / Nymphenburger /München 1998 ISBN 3-485-00792-7 (Seite 229)

Judenfeindschaft Berliner Prospekt 1992 Judenfeindschaft gr Berliner Festspiele Argon Verlag ISBN 3-87024-199-3

Gestaltung: Jürgen Freter (Umschlag unter Verwendung des Plakatmotivs von Gabriele Burde)

ZITAT

In Spanien ging die Inquisition auch gegen die Massen konvertierter Juden vor und legte im 15. Jahrhundert die ersten Grundlagen für den rassischen Antisemitismus. Die Reformation – insbesondere in Deutschland – brachte den Juden wenig Gutes, da der große deutsche Reformator Martin Luther gegen die „verstockten“ Juden lästerte und einige der abstrusesten Vorwürfe in die Geschichte des Antijudaismus einführte. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit ihrer Ideologie der allgemeinen Menschenrechte ebnete dann zwar den Weg zur Emanzipation der Juden, aber ihre dunklere Seite war das Auftreten eines nachchristlichen, weltlichen Antijudaismus, der mit Francois Marie Voltaires antijüdischen Ausfällen seinen Anfang nahm und im Vernichtungsantisemitismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kulminierte.

Der Begriff Antisemitismus selbst wurde 1879 von dem deutschen radikalen Journalisten Wilhelm Marr (1819-1904) geprägt, weniger als ein Jahrzehnt nach der Vollendung der rechtlichen Emanzipation der Juden im kaiserlichen Deutschland.

Quelle Robert S. Wistrich: Vom „Christusmord“ zur „Weltverschwörung“ Motive des europäischen und arabischen Antisemitismus. In: Jüdische Lebenswelten ESSAYS Berliner Festspiele Jüdischer Verlag Suhrkamp Verlag Herausgegeben von Andreas, Julius H. Schoeps, Edward van Voolen BERLIN 1992 ISBN 3-633-54048-2 (Seite 352)

Ein wichtiger Punkt: Aufklärer als Antisemiten (Voltaire, Nietzsche) siehe dazu: Ursula Homann „Voltaire, Nietzsche und die Juden / Waren die Philosophen Hitlers Wegbereiter?“

Rhythmus – eine fast unlösbare Aufgabe

Was soll denn daran unlösbar sein? Jeder Mensch hat Rhythmus.

Das Problem ist die Beschreibung, die Einordnung, die Verallgemeinerung. Ich kann durch zahllose Länder gereist sein, von Nord nach Süd, von West nach Ost, bergauf, bergab und querfeldein, aber sobald ich eine Karte anlegen soll, die für künftige Reisen und andere Menschen brauchbar ist, habe ich ein Problem. Ich habe keine Übersicht. Ein Atlas muss her, ein genaues Verzeichnis usw.; als Reisender bin ich heute natürlich in der glücklichen Lage, all dies in gedruckter Form vorzufinden und mir reich bebilderte Reisebeschreibungen, Skizzen, Hilfsmittel aller Art zuzulegen.

In der Musik aber gibt es wenige Ansätze zur Schaffung brauchbarer Atlanten, – der entscheidende Punkt: die Ungreifbarkeit der (nur) klingenden Areale -,  noch weniger in der Unterabteilung Rhythmus, weil jeder zu wissen oder zu fühlen glaubt, was „Rhythmus“ ist. Und doch hat kaum einer mehr als eine Handvoll Rhythmen im Sinn. Dieses Buch ist der erste „Atlas“ seiner Art, das gigantische Unternehmen eines einzelnen Forschers, der um seine Einzigartigkeit weiß:

Dem Autor wäre es möglich, seitenweise über die Insuffizienz der Musikwissenschaft in Sachen Rhythmus zu schreiben … (S.119)

Die große Frage: wird er auch Leser finden, die ihn verstehen und sein Ordnungssystem gedanklich nachvollziehen, und die es dann auch mit den Ohren umzusetzen vermögen? Vorausgesetzt ist eine unstillbare Neugier, ein Wille das zu verstehen, von dem jeder sagt: da ist nichts zu verstehen, du musst es fühlen. Den Rhythmus, den hat man im Blut! Und fertig!

Es ist aber wie mit Sprachwissenschaft. Wer schon einmal etwas über Linguistik gehört hat, z.B. von Noam Chomsky, der wird nicht sagen: Es genügt, eine Sprache (oder mehrere) zu sprechen und zu verstehen. Alles andere ist doch Erbsenzählerei. Mitnichten, – selbst der Laie vergleicht Sprachen und Ausdrucksweisen. Denk-Stile.

Zweifellos werden viele Leute dieses Buch aufschlagen, durchblättern und sagen: 2 Drittel davon sind ungenießbar, bloße Listen (Seite 121 – 357). Die anderen aber wissen, dass es die unverzichtbaren Belege für die atemberaubende Stringenz des Textteils sind. Einziger Nachteil: auch diese Stringenz klingt nicht, und es gibt nicht das kleinste Notenbeispiel, nur diese Reihen aus römischer Eins, x und Punkt. Das vielleicht unerfüllbare Desiderat der Zukunft: eine riesige Datenband, die alle aufgelisteten Musikstücke und jeden erwähnten Rhythmus per Mausklick hörbar macht, d.h. greifbar und begreifbar.

Hendler Cover Hendler Cover rück

Hendler Cover rück Text www.allitera.de ISBN978-3-86906-770-4 Leseprobe incl. Vorwort

Aus absolut selbstbezogenen Gründen löse ich aus dem Vorwort (das vom WDR-Redakteur Bernd Hoffmann stammt) einen bestimmten Abschnitt heraus, womit auch betont sei, dass ich in Sachen dieser Buchempfehlung äußerst befangen bin:

Hendler Vorwort Hoffmann

Die Abteilung Volksmusik, von der hier die Rede ist, ging auf eine Vorform der 50er/60er Jahre zurück, die erst seit 1970 begann, konsequent über das „Areal“ der bearbeiteten deutschen Volks- und Chormusik hinauszuschauen. Mitte der 90er Jahre wurde sie konsequenterweise in Redaktion Musikkulturen umbenannt, als die sie heute noch existiert. Das vorliegende Buch wurde mir am 5. August überreicht, als ich bei meinem Mitarbeiter und Nachfolger (seit 2006) Dr. Werner Fuhr den wahrscheinlich letzten WDR-Beitrag meines Lebens produziert hatte (Sendetermin 13. Oktober 2015 Soundworld WDR 3 Thema Afghanistan 1974, Autor Bernhard Hanneken). Was danach aus unserem – so kann man wohl sagen – Lebenswerk wird, werden wir – aus dem angeblichen Ruhestand, in dem wir uns dann beide befinden – wohl noch eine Weile interessiert beobachten.

Ich werde mir einen eigenen Zugang zu diesem Buch schaffen, indem ich es mit Themen verbinde, die mich ohnehin wieder beschäftigen. Die afghanischen Rhythmen haben mich damals gehindert, meine Notationen fortzusetzen, die ich recht eifrig betrieben hatte. Ich war mir nicht sicher und vermisse auch jetzt die Behandlung eines wiederkehrenden Problems, das vielleicht gar keins ist: die „verzogenen“ Rhythmen, deren Charakteristikum darin liegt, den Elementarpuls an einer bestimmten Stelle zu dehnen oder zu stauchen. Musterbeispiel: der „bulgarische Rhythmus“ bei Bartók (Mikrokosmos IV): jeder Klavierlehrer hält seine Schüler an, die 7 Achtel alle gleich zu spielen 1 2 1 2 1 2 3 / 1 2 1 2 1 2 3 etc. und nicht etwa die letzte 123-Gruppe als Triole. Bartók selbst aber spielte sie tatsächlich minimal „zusammengefasst“! So hat er es bei den Volksmusikern gelernt!

Maximilian Hendler hat einige Stücke unserer Afghanistan-CD rhythmisch präzise bezeichnet; ich werde sie daraufhin untersuchen, eventuell unter Zuhilfenahme meiner geliebten Notenschrift. (Ich liebe sie trotz irreführender Suggestionen – die man einkalkulieren kann -, allein wegen ihrer heuristischen Funktion. Die ethnographischen Einwände sind mir bekannt.)

Hier also der Blick in Hendlers Liste; die Stücke, die mir vertraut sind, habe ich durch einen blauen Pfeil gekennzeichnet.

Hendler Afghanistan (bitte anklicken)

Es handelt sich um die Tracks 1, 2, [5],6, [7], 10, 11,17 der CD, die hier abgebildet ist. Tr. 5 „Farkhari-Lied“ steht auf der vorhergehenden Seite, Tr. 7 „Meine Geliebte geht im Garten“ folgt auf der nächsten Seite der Hendler-Liste.

9. August 2015

Es hat mich nicht losgelassen: der gestrige Tag begann mit afghanischen Reminiszenzen (Fotos sichten) und endete mit einem überlangen Fest unter Freunden und Nachbarn in der Wipperaue, wobei ich viel an Afghanistan gedacht habe. Aber erst heute kam ich auf die Idee, in alten Aktenordnern zu suchen (habe ich nicht damals Transkriptionen angefertigt? sozusagen als Vorübung für die Afghanistan-Reise 1974, also wahrscheinlich ab Ende 1973, die Blätter sind undatiert). Den stärksten Eindruck hatten im Vorfeld zwei Lyrichord-Schallplatten gemacht. Idee: hat Max Hendler sie auch untersucht? Natürlich! man schaue auf die Liste oben rechts unter Afghanistan-Tadschiken: 0722-B/6 „Ghichak and Zerbaghali“ – und am Ende der Zeile steht die Rhythmus-Formel!!! Formzahl 7 !!! Und genau dieses Stück habe ich damals notiert und habe es noch nicht als das „Farkhari-Lied“ erkannt, das mir in Mazar-e-Sherif so oft begegnen sollte: Ghichak bzw. Ghitchak (spr. Rittschack) ist das Streichinstrument, Zerbaghali (spr. Serbaraali) die Trommel. Der Ghitchakspieler ist es, der auch singt. Das große Notenblatt musste ich hier im Scan mittig teilen, man lese also in jeder Zeile vom linken Halbblatt aufs rechte. Achtung: in der Mitte ist eine winzige Verdopplung zurückgeblieben.

Lyrichord Afghan Trankr links  Lyrichord Afghan Trankr rechts

Immerhin, – das vermag die verpönte Notenschrift: ich habe das Lied auf Anhieb wiedererkannt.Und wer Noten lesen kann, wird es auch einigermaßen nachvollziehen können, wenn er die neuere Network-CD-Aufnahme Tr. 6 „Farkhari-Lied“  dagegenhält (bei Hendler unter Afghanistan-Badakhshan aufgelistet, weil die Sänger aus Badakhshan stammen). Die heutige Rhythmus-Problematik war mir damals durchaus nicht fremd, wie die selbstkritische Bemerkung zeigt, die ich hier noch zur besseren Lesbarkeit vergrößere:

Lyrichord Kommentar JR

Und zu guter Letzt folgt die Quellenangabe von der Rückseite des Notenblattes:

Lyrichord Quellenangabe

Ich glaube, allein Maximilian Hendler kann ermessen, welchen Anteil der vor Jahrzehnten beiseite gelegten Arbeit er mir nun mittels seines neuen Buches erneut auflädt, zudem mit der latenten Forderung, sie in einen neuen, weltweiten Zusammenhang zu stellen. Warum? Weil er sein Buch nun einmal als „Atlas der additiven Rhythmik“ bezeichnet hat, und da steht man ungern da mit einem Einzelrhythmus in der Hand und sagt: jaja, [2+2+3], den hätte ich schon mal, den kann mir keiner mehr wegdiskutieren.

Und man glaube nicht, dass es übersichtlicher wird, wenn wir nun auch die Melodie mit in die Betrachtung einbeziehen. Oder doch – zunächst schon:

Die bisherige Darstellung impliziert, dass sich der Beginn der Melodie mit der 1 einer Elementarzahl deckt. Diese Regel gilt allerdings nicht für alle Subareale der additiven Rhythmik in gleichem Ausmaß. Vor allem hinsichtlich der balkanischen und orientalischen Musik kann endlos darüber gestritten werden, ob das, was die Europäer eine „Melodie“ -eine horizontale, nachsingbare musikalische Einheit – nennen, eine melische Realisierung rhythmischer Formeln oder eine rhythmische Realisierung eines Maqams (= einer modalen Struktur) ist. De facto verhält es sich jedenfalls so, dass in dieser Großregion Modus und Rhythmus zusammentreten müssen, um eine als „Melodie“ zu empfindende Einheit zu ergeben. Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten.

Dieser Tatbestand ändert sich, wenn Afrika südlich der Sahara und Lateinamerika ins Auge gefasst werden.

Quelle Maximilian Hendler a.a.O. Seite 25 („Anmerkung 3: Wo ist die 1 ?“)

Man kann also nicht mehr umhin, weit mehr ins Auge zu fassen als das, was einem zuvor eher „zufällig“ begegnete. Jedenfalls nicht mehr, wenn man einmal mit diesem Atlas in der Hand durch die imaginäre Welt der rhythmischen Ordnungen gereist ist.

Zum Abschied (für heute) folge hier die Formel, die Hendler dem „Farkhari-Lied“ zuteilt:

Hendler Farkhari-Formel

(Von wegen Abschied: da geht mir ein Licht auf, und wieder sitze ich hier mit einem Riesenproblem. Ist es möglich, dass ein und dasselbe Lied in rhythmischer Hinsicht einmal mit dieser Formel und einmal mit jener zu charakterisieren ist?* — Aber darüber diskutiere ich ausschließlich mit Max, der beide Klangquellen kennt – und noch einige Zehntausend mehr…)

Hendler Liste Detail

* Vielleicht kann ich selbst die Frage beantworten: die präzise Formel ergibt sich nicht aus dem Lied, der Melodie, sondern aus der Begleitung, deren Rhythmus – je nach Begleiter – unterschiedlich gegliedert sein kann. Fest steht in diesem Fall eben nur die Formzahl 7.

Bayreuth: Tristan und Isolde

Merkzettel

Ich hatte von einem „Schwarzen Freitag“ gesprochen, ein bisschen Sarkasmus muss sein. Korrekterweise darf ich hinzufügen, dass es auch ein „Himmelblauer Samstag“ werden könnte. Die Uhrzeiten differieren. Mach ich den Tag zur Nacht, die Nacht zum Tage, man gebe nur acht, es passt ohne Frage.

HIER das eine, HIER das andere. Es ist beides EINS. Vermutlich.

Wagner Bayreuth groß 5403023_3d09e007bee4afbad0e5cab552375ba3_1280re0 Bild: BR/Stadt Bayreuth

„Steht aber doch immer schief darum…“ (Margarete in Goethes Faust.)

Freitag: ab 16:00 Uhr / BR Video Live-Stream direkt aus Bayreuth (ausschließlich in Deutschland). / Samstag: ab 20:15 Uhr 3sat Fernsehen.

Tristan BR Screenshot 2015-08-07 18.22.52(2)

Tristan Vor Liebestod Screenshot 2015-08-07 21.52.35 Vor und nach dem „Liebestod“

Tristan Liebestod Screenshot 2015-08-07 21.57.56 Tristan Liebestod 2 Screenshot 2015-08-07 21.57.59

In der Tat: sie lebt und geht ohne Widerstand mit IHM. Oder heißt das: nur ihr Körper?

Tristan Schluss Klavierauszug : was Richard dazu meint…

Wie heteronom sind Ich …

… und wenn ja, wie viele von mir?

So vor uns hinplappernd, improvisieren wir heute gern über die private Kernspaltung und ziehen dann doch am Automaten nur eine Fahrkarte, als seien wir Einzelfahrer. Denn unser Alltag befindet sich selten auf derart hohem Niveau, dass Artaud, Derrida oder Castorf daran Wohlgefallen hätten.

Ivan Nagel drückte es einmal – 1994 in einer Laudatio auf den letztgenannten – folgendermaßen aus:

Diese Regie sehe die „Heteronomie des Wirklichen“. Weil Autonomie des Subjekts nur „fiktiv und lügenhaft“ zu haben sein, bedeute der Weg zu „Wirklichkeit und Wahrheit […] das Verbot, uns eine einheitliche Welt und einen sie wahrnehmenden, begreifenden, einheitlichen Menschen vorzutäuschen“. Die Rezeptionsperspektive bleibt somit als einzige verbindliche Instanz: Alles setzt sich frei und unterschiedlich im Kopf des Zuschauers zusammen – aus heteronomen Faktoren. Die Aufführung versteht sich demzufolge nicht als Wiedergabe, sondern als Tat im emphatischen Sinn.

Quelle Stephan Mösch: Die Krokodile sagen alles / Frank Castors Bayreuther Ring und die „Dynamisierung des Originals“. In: Musik & Ästhetik 19. Jahrgang, Heft 75, Juli 2015 Klett-Cotta Stuttgart (Seite 77) [die Anführungsstriche innerhalb des zitierten Textes bezeichnen Wortfolgen von Ivan Nagel].

Ja, die „Tat im emphatischen Sinn“ – dagegen kann man seit Goethes Faust nichts mehr einwenden, statt „Wiedergabe“ könnte ich allerdings auch „Wiederkäuen“ sagen, und so weiß ich ohne nachzudenken, was ich zu wählen und was ich zu lassen habe.

Wenn es so desolat um die Wirklichkeit steht, und gewissermaßen zur Strafe auch noch um die zweite Wirklichkeit des Kunstwerkes, was soll ich mit Leuten anfangen, die vom Individuum sprechen, ohne uns gleichzeitig darüber zu informieren, dass es doch auch nicht weniger „fiktiv und lügenhaft“ zu haben ist als die Autonomie des Subjekts; ich verweise auf Artikel wie SUBJEKT oder INDIVIDUUM und zitiere dann unverdrossen den Philosophen Rüdiger Safranski:

Goethe, der genau wußte, was für die Bildung eines Individuums erforderlich ist, schreibt in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“:

Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Ziele vermag er einzusehen und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.

Goethe hat, wie so oft, auch hier das Richtige getroffen. Es gibt eine Reichweite unserer Sinne und eine Reichweite des vom Einzelnen verantwortbaren Handelns, einen Sinnekreis und einen Handlungskreis. Reize, so kann man mit großer Vereinfachung sagen, müssen irgendwie abgeführt werden. Ursprünglich in der Form einer Handlungs-Reaktion. Handlung ist die entsprechende Antwort auf einen Reiz. Deshalb sind auch der Sinnenkreis, worin wir Reize empfangen, und der Handlungskreis, in den sie abgeführt werden, ursprünglich miteinander koordiniert. Aber eben nicht gut genug koordiniert. Auch hierbei sind wir Halbfabrikate. Wir müssen nämlich selbst ein Filtersystem entwickeln, das Reize, auf die man gar nicht angemessen zu reagieren braucht, wegfiltert. Unsere Sinne sind vielleicht zu offen. Unser diesbezügliches Immunsystem ist nicht ausreichend. Auch das gehört zur Arbeit an unserer zweiten Natur: die Entwicklung eines kulturellen Filter- und Immunsystems.

(Fortsetzung folgt)

Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt am Main 2004 (S. 77f):

Genau dies ist es offenbar, was Castorf anstrebt: So viele Reize zu schaffen, dass unser Filtersystem außer Kraft gesetzt wird. Gleichgültig, ob wir dadurch tat-mächtiger werden oder wie gelähmt in uns zusammenfallen. Hauptsache, er war Herr seiner Tat und unser aller Herr. „Fiktiv und lügenhaft“ könnte es dann erst recht sein zu behaupten: „Alles setzt sich frei und unterschiedlich im Kopf des Zuschauers zusammen – aus heteronomen Faktoren.“ (s.o.)

Nichts setzt sich zusammen. Das was an geistigem Knochengerüst vorhanden war, auch die Musik, die einen gewissen Zusammenhang zu bilden schien, wird gnadenlos dekonstruiert, allein durch die offenbare Missachtung und Ignoranz. Was machen wir mit den psychologischen Bruchstücken? Wie schütteln wir sie ab?

(Fortsetzung Safranski:)

Was geschieht mit Reizen, die nicht mehr handelnd beantwortet und abgeführt werden? Der Abgebrühte hat sie vielleicht durch Abbrühen unschädlich gemacht. Aber auch bei ihm werden diese Reize Spuren hinterlassen. Wenn sie nicht weggefiltert werden, lagern sie sich irgendwo in uns ab, in einem neuen Bereich des Unbewußten, einem Unruheherd mit frei beweglicher Erregungsbereitschaft, nur lose mit ihren jeweiligen Gegenständen verbunden. Man wird, wie Goethe feststellte, zerstreut. [JR: dekonstruiert?] Aber es handelt sich um eine erregte Zerstreuung – wie nach einer Explosion. Man muß sich das so vorstellen: Jeder ist zunächst in seiner Arbeit und sonstigen Lebenstätigkeit konzentriert, zusammengedrückt; wenn dieser Druck nachläßt, in der sogenannten Freizeit, bersten diese vom Druck Befreiten auseinander und stürzen sich auf die tausend Bilder von Ereignissen, die sie eigentlich nichts angehen. Wie auch immer, der Medienkonsument erlebt die globale Welt als Schauplatz seiner Erregungen auf der Suche nach immer neuen Gelegenheiten. Globalisierung, die über die Medien nach innen schlägt, begünstigt latente Hysterie und Panikzustände.

Quelle Safranski a.a.O. Seite 79 f.

Nachwort 5. August 2015

Wagner erleben … bedeutet nicht Frei-Zeit? und noch weniger Freiheit.

Vielleicht brauche ich aber in Richard Wagners Werk nicht eine weitere Explosion auf der Bühne, sondern erst nach dem Schlussakkord und dem Verlassen des Festspielhauses – im Kopf, auf dem Nachhauseweg und im stillen Kämmerlein?

Früher sprach man allzu leicht von Bewusstseinserweiterung. Aber könnte man wirklich bei einer Sprengung – sagen wir – des Dionysos-Mosaiks in Köln von einer Mosaikerweiterung sprechen?

Nachwort 6. August 2015

Die neue ZEIT ist da! Pflichtlektüre und als erstes zu lesen: „Bayreuther Assoziationen / Eine Reise zu den Festspielen“ Von Peter Sloterdijk. Eine hinreißende, würdige Nachfolge der Schriften Nietzsches zum „Fall Wagner“. 

ZITAT

Ein Wort über die Walküre dieses Sommers soll nicht fehlen. Dass der Regisseur ein Zyniker und ein Schlamper ist, weiß man nicht erst, seit er am Hügel seine Visitenkarte abgab. Der aktuelle Kulturbetrieb benutzt Zyniker und Schlamper als Informanten über das, was als Nächstes kommt. Wer ärger schlampt als andere, prägt die nächste Saison. Wer das Publikum heftiger verachtet als andere gelernte Verächter, wird weitergereicht in die nächste Runde.

Es war das Glück dieser Walküre, dass dem Regisseur zu ihr nichts einfiel, außer dass er dem maßlos monologisierenden Wotan ungefähr zur Halbzeit seiner polemischen Tirade einen Stuhl unterschieben ließ. Man hatte ansonsten Lust, ihm zu gratulieren, wie wenig er die Sänger behinderte. Gegen das Stück war er gleichgültig genug, um Kunstaugenblicke zuzulassen. Fast war man bereit, für seine Lustlosigkeit dankbar zu sein. Sie ließ Raum dafür, dass der Dirigent zum Blühen brachte, was Paul Bekker einst die „instrumentalen Instinkte“ Wagners genannt hatte.

Ein Wort noch zu dem Publikumsverachtungsstandort Bayreuth. Gegen die kondensierte Verehrung der Besucher kommt hier niemand auf. Keine Herabsetzung vermag dort (…)

Ich breche ab: wer nie im Leben DIE ZEIT gelesen hat, vielleicht weil er/sie Musiker/in ist und üben muss, – heute sind die Seiten 39 – 40 hilfreicher als ein ganzer Etüden-Band. Es ist eine Übung des musikalischen Denkens par excellence. Und ein Königsweg, Wagner trotz Bayreuth zu lieben.

Schwarzer Freitag mit Tristan

Ich habe mir den kommenden Freitag frei gehalten: Ich will das aktuelle Bayreuther Angebot „Tristan und Isolde“ vorurteilsfrei auf mich wirken lassen. Die Situation ist günstig, ich habe Zeit mich wenigstens einen vollen Tag vorzubereiten. Denn eins steht fest: Tristan ist für mich wahnsinnig aktuell.

Und damit habe ich unversehens das intelligenteste Statement der Wagner-Ur-Enkelin Katharina zitiert. Man lese die Überschrift HIER.

Tristan Klavierauszug

Dies sei der Beginn meiner heutigen Übung. Ich werde auch wieder stundenlang aus dem Klavierauszug spielen, wie damals, ja, wie einst im Mai. Da musste sich meine Freundin das endlos anhören. Ich bin ja auch nicht völlig unbedarft (wenn ich das mal hervorheben darf): Im Jahre 1964 habe ich meine sogenannte Staatsarbeit über den Tristan geschrieben und kann die heutige Gelegenheit gerne benutzen, mich ein wenig von ihr zu distanzieren: ich habe mich zwangsläufig weiterentwickelt, während die aktuellste Nachfahrin des Komponisten damals noch mehr als 10 Jahre warten musste, um überhaupt geboren zu werden. Inzwischen lernte ich allerdings Friedelind Wagner kennen, – flüchtig muss ich zugeben -, sie protegierte intensiv den amerikanischen Cellisten George Neikrug, und in diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass ich ihr und ihm auch mal den Anfangsteil des Konzertstücks „Tzigane“ von Ravel auf der Geige vorgespielt habe. Aber das ist eine Geschichte für sich; in diesem Zusammenhang ging auch meine Freundschaft mit Dietmar Mantel in die Brüche, der in Neikrugs Biographie vorkommt, während ich die große Gönnerin darin vermisse. Gut, ich schrieb damals an der hagiographischen Arbeit „Die literarischen und philosophischen Anregungen zu Wagners ‚Tristan‘ und ihre Wiedergabe bzw. Umbildung in diesem Werk“ (Juli 1964), und dies waren meine inhaltlichen Punkte:

Tristan JR

Ich habe dann die Ferienkurse in Darmstadt besucht, bei Siegfried Palm das frühe Trio (Kammersonate 1948) von Henze und das Klavier-Trio von Charles Ives studiert (mit Edith Frieser und Christian de Bruyn), wir haben im Zeltcafé den schweigsamen Carl Dahlhaus kennengelernt und den freundlich-gesprächigen Rudolf Stephan; ihn habe ich gefragt, was er von Curt von Westernhagen hält, dessen Wagner-Buch ich gründlich studiert hatte, und er sagte: „Das ist ein Troglodyt!“ Auf Nachfrage erfuhren wir, dass dieses Wort „Höhlenbewohner“ bedeutet, was ich mit Wagners Lindwurm assoziierte. In der Tat gilt der Autor als „einer der übelsten Rassefanatiker, die Wagners Werk im Dienste der Ideologie der Nazis auf Kurs schrieben“. (Davon wusste ich nichts, mich hatte nur das gehässige Kapitel über Nietzsche gestört.)

ZITAT

BR-KLASSIK: Welche Kenntnisse – beispielsweise philosophischer Art – setzt das Verstehen Ihrer „Tristan“-Inszenierung voraus?

Katharina Wagner: Ich hoffe, dass man keine Kenntnisse haben muss, um die Inszenierung zu verstehen. Das ist sowieso immer so eine Frage: Muss man eine Inszenierung verstehen? Man nimmt sie wahr und empfindet sie hoffentlich. Es gibt da ja auch keinen Beipackzettel, wo man sagt: So gehört es sich. Man hofft immer als Regisseur, dass man Bilder gefunden hat, die die Leute bewegen. Und das ist hoffentlich gelungen.

BR-KLASSIK: Und sich auch durch sich selbst eigentlich vermittelt – ohne dass man etwas wissen muss über den philosophischen Hintergrund, den es ja beim „Tristan“ auch gibt?

Katharina Wagner: Richtig, den gibt es. Den haben wir auch nicht außer Acht gelassen. Aber ich glaube, man braucht ihn nicht. Ich hoffe sehr, dass man ihn nicht braucht, um diese Inszenierung empfinden zu können. Das ist der andere Punkt. Natürlich gibt es viel philosophischen Hintergrund – auch zu dieser Inszenierung. Es ist schön, wenn man den sieht. Aber ich hoffe, die Inszenierung vermittelt sich auch ohne den Hintergrund.

Quelle: siehe BR nochmals HIER.

Was sagt die Kritik? Ich wähle aus Pflicht und Neigung die FAZ:

Katharina Wagner, ab dieser Spielzeit Alleinherrscherin auf dem Hügel, hat ihre gepflegten Krallen eingezogen. Nach den streitbaren (und bis zum Schluss auch beim Bayreuther Publikum heiß umstrittenen) „Meistersingern“, darin sie erstmals in der Geschichte der Festspiele (noch vor Stefan Herheims „Parsifal“) auch die nationalsozialistische Verstrickung der Wagnerfamilie mitinszeniert und eine Festwiesen-Bücherverbrennung gezeigt hatte, zelebriert sie jetzt einen unpolitischen, zeit- und zahnlosen „Tristan“. Sie wurde mit einhelligem Jubel am Premierenabend belohnt. Das Beste, was man über diese Inszenierung sagen kann, ist: Sie ist mehrheitsfähig. Kein Sofa in dieser Republik, von der aus man sich diesen früh-müden „Tristan“ am 8. August, wenn 3Sat landesweit live aus dem Festspielhaus überträgt, nicht gemütlich reinziehen könnte.

Quelle Frankfurter Allgemeine 27.7.2015 „Diese Leidenschaft braucht keinen Liebestrank“ Von Eleonore Büning.

Kleine Korrektur: „Kein Sofa in dieser Republik, von dem aus …“ Ich nehme das so genau, weil auch meines daheim gemeint sein könnte.

Und zitiere eine andere Passage, die spezifischer die Regieleistung betrifft:

Nach Heiner Müller und Christoph Marthaler ist Katharina Wagner nun schon die dritte Regisseurin, die in Bayreuth einen geometrisch-abstrakten Symbol-„Tristan“ zelebriert, mit Tableaux, darin sich wenig oder nichts mehr bewegt. Hoffen wir, dass damit keine Tradition begründet wird! Was die Personenregie anbelangt, schwankt die Regisseurin zwischen statischem Rampensingen à la Müller oder sinnfreiem Aktionismus à la Marthaler. Beides kommt vor. Zumal Isolde tut manchmal seltsam aufgescheuchte Dinge. Einmal, im Raumschiff-Kerker, baut sie aus etwas Schrott und einer Decke eine Art Zelt, das sie mit Glühbirnchen schmückt und dann wieder einreißt. Falls dies die Liebesnacht illuminieren sollte, so war es zweifellos eine traurige.

Aber es ist nicht diese Liebesnacht, die mich vorweg betroffen macht, sondern die Diffamierung des betrogenen, freilich vom Ur-Richard vielleicht allzu edel konzipierten Freundes Marke:

Doch leider, am Ende, als Isolde sich ausgesungen hat, reicht König Marke ihr den Arm und führt sie heim, als sein angetrautes Weib, das sie nun mal ist.

Da hatte ich mir doch damals, als ich meine Tristan-Arbeit beendete, einen mystischeren Ausblick erhofft. Andererseits – mit Blick aufs Bayreuther Publikum – auch wieder nicht.

Tristan Ende JR

Ob nun „Tristan“ oder „Ring“: Eines gelobe ich – beim Castorf -, bis Freitag will ich endlich klarer sehen, was ich von den dramaturgischen Gegenentwürfen des Regietheaters halten soll. Der entsprechende Aufsatz liegt bereit und enthält schon viele Unterstreichungen:

Die Krokodile sagen alles Frank Castorfs Bayreuther Ring und die „Dynamisierung des Originals“ Von Stephan Mösch. In: Musik & Ästhetik, 19. Jahrgang, Heft 75, Juli 2015, Klett-Cotta Stuttgart (Seite 77-88).

Nachtrag 8. August 2015

Zur Frage „Was geschieht nach dem „Liebestod?“ siehe screenshots HIER.

Regional – global – fatal

Wie sich „das Ganze“ vom Geist ins Geld begab

ZITAT Rüdiger Safranski:

Man muß sich den epochalen Politisierungsschub um 1800 als eine Vorform des heutigen Globalismus vergegenwärtigen. Damals wurde das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen neu konfiguriert. Die Sinnfragen, für die einst die Religion zuständig war, werden jetzt an die Politik gerichtet: ein Säkularisierungsschub, der die sogenannten ‚letzten Fragen‘ in gesellschaftlich-politische verwandelt: Robespierre inszeniert einen Gottesdienst der politischen Vernunft, und im Preußen der Befreiungskriege von 1813 zirkulieren zum erstenmal die Gebetsbücher des Patriotismus, der sich anschickt, zum Nationalismus zu werden.

Die Politisierung war die erste dramatische Einengung in der Wahrnehmung des Ganzen. Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht sich die zweite: die Ökonomisierung. Den Anspruch auf Schicksals- und Deutungsmacht erhebt jetzt der Ökonomismus, für den das Gelten von Werten zum Geld und die Wahrheit der Welt zur Ware wird. Tatsächlich verbinden ja das Geld und der Warentausch alles mit allem und dringen in die verborgensten Winkel der Gesellschaft und der Individuen ein. Wenn das Geld für so verschiedene Dinge wie Bibel, Schnaps und Sexualverkehr einen gemeinsamen Wertausdruck schafft, dann kann man darin eine Verbindung zum Gottesbegriff des Nikolaus von Kues entdecken, für den Gott die coincidentia oppositorum, den Einheitspunkt aller Gegensätze bedeutet. Indem das Geld zum Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich, wie einst Gott, über die Mannigfaltigkeit der erscheinenden Welt. Es wird zu einem Zentrum, wo das Unterschiedene und Entgegengesetzte ihr Gemeinsames finden. Die Zirkulationsmacht des Geldes hat den Geist überflügelt, dem man einst nachsagte, er wehe, wo er will…

Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt am Main 2004 (S. 66f)

[Nachzutragen: die private Globalisierung meiner Musikwelt]

Global brutal  Global brutal Covertext Frankfurt am Main 2002

Aus einer Besprechung von Hans Martin Lohmann am 22.7.2002 im Deutschlandfunk:

Man zerschlage eine lokale Selbstversorgungsökonomie im Namen des „freien Marktes“, degradiere den Staat zum Empfänger von Weltbankkrediten (die natürlich an strenge Auflagen im Sinne eines globalen Marktliberalismus gebunden sind), zwinge den Staat zu einem permanenten Schuldendienst, der nur mit immer neuen Krediten, also neuer Verschuldung, aufrecht erhalten werden kann, zwinge ihn weiterhin zur Deregulierung staatlicher Daseinsvorsorge und zu deren Privatisierung – und nenne das Ganze „Marktreform“, Demokratisierung und good governance. Chossudovsky spricht angemessenerweise von „Marktkolonialismus“ und „ökonomischem Völkermord“, der nebenbei von enormen Umweltzerstörungen begleitet und im Bedarfsfall – die Ereignisse des 11. September 2001 lieferten den geeigneten Anlass – um den Modus des Krieges ergänzt wird.

Inzwischen gibt es ein neues Referenzdatum, wie man weiß, oder mehrere, seit 2008. Aber schon in diesem Buch von 2002 (engl. Version 1997 !) gab es in Teil VI („Die Neue Weltordnung“) das Kapitel „Die globale Finanzkrise“. Und heute verkleidet sich das Problem als „Handelsabkommen“ oder TTIP. ZITAT:

In der Tat: Regionalität ist für den Welthandel kein Ziel, man will ja gerade mehr Austausch zwischen den Kontinenten. Davon hat der kleine Milchbauer aus dem Schwarzwald nichts – seine Produktion in die Vereinigten Staaten zu liefern rentiert sich nicht. Umgekehrt lohnt es sich hingegen für amerikanische Großfarmen durchaus, Rind- und Schweinefleisch nach Europa zu schicken, weil sie eben billig genug produzieren können, billiger als jeder Kleinbauer irgendwo in Europa.

Die neue Form des Freihandels wird also zwangsläufig auch unsere Ernährung verändern. Das Höfesterben wird weitergehen, weil die Kleinen dann noch weniger konkurrenzfähig sind. Alle Welt redet zwar davon, wie wichtig regional erzeugte Lebensmittel sind, weil sie Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen nützen – aber mit dem Freihandelsabkommen wird genau diese regionale Produktion bekämpft. Denn an ihr haben jene Konzerne von Nestlé und Danone über Bayer und Pfizer, die besonders eifrig Lobbyarbeit zu TTIP betrieben haben, einfach kein Interesse. Im Gegenteil: Vielfalt an Lebensmitteln und Geschmäckern ist ja geradezu Gift für sie. Sie leben davon, Massenware in großem Stil herzustellen, die sich überall verkaufen lässt.

Quelle Süddeutsche Zeitung 1./2. August 2015: Das große Misstrauen Handelsabkommen schaffen es selten in den öffentlichen Diskurs. Dafür sind sie zu kompliziert. Das ist beim TTIP anders. Der Plan, mit Europa und Nordamerika den größten Freihandelsraum zu schaffen, versetzt viele Menschen in Alarmstimmung. Warum? Vielleicht weil dem freien Markt zu viel geopfert wird. Von Franz Kotteder.

Das ist natürlich dramatischer als das Schwinden der Vielfalt in der Musik, in den Medien, in den Kulturprogrammen. Fatal genug, dass kein Unglück allein kommt. Aber selten so klar angekündigt und offenbar von so vielen gewollt oder hingenommen. Ich erinnere mich an die Zeit vor 10 Jahren, was hat sich an der Besorgnis geändert? War ich vielleicht noch zu naiv? Siehe hier: Was wird von der Vielfalt bleiben? Ein Vortrag über Globalisierung und musikalisches Bewusstsein.

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Nachhaltiges aus der Popwelt

In der Wochenendausgabe der SZ lese ich ein Interview mit Fred Kogel. Da springt kein Funke über, muss ich sagen. Obwohl es ein paar winzige Gemeinsamkeiten gibt. („Delilah“ Ende der 60 Jahre, „Prince“ Ende der 80er Jahre). Daran waren vielleicht die Kinder oder die Kindheit schuld. Aber was jetzt hängen bleibt, ist die volle Dröhnung, die sein vierjähriges Kind bekommt:

Absolut, ich wollte ihn ja eigentlich unbedingt schon zum AC/DC-Konzert in München mitnehmen. Meine Frau hatte aber Bedenken: die Lautstärke! Jeden Morgen auf dem Weg ins Büro nehme ich den Leo ja mit in den Kindergarten im Auto, das ist unsere Musikzeit. Ich glaube, er ist der einzige Vierjährige, der sich komplett auskennt in der Armada zwischen Rod Steward, Led Zeppelin und Mark Ronson. „Uptown-Funk“, das liebt er. Genauso wie Prince, da ist er voll drin, zumindest Luftgitarre beherrscht er.

Ich fürchte, seine Frau hat recht, – der Instinkt, sich die Ohren zuzuhalten, wenn sie Schaden nehmen, wird dem Vater zuliebe („unsere Musikzeit“!) desensibilisiert. In 40 Jahren wird sich der Kleine womöglich nicht mal mehr beim Vater bedanken können …

Und wie war’s in dessen Kinderzeit?

Ich komme ja aus einem musikalischen Elternhaus. Mein Vater war Opernsänger, meine Mutter Ballettmeisterin und Solotänzerin in Frankfurt. Ich kann heute noch 50, 60 Opernpartien auswendig singen, weil ich als Kind oft zehn Mal in den Inszenierungen am Gärtnerplatz war, in denen mein Vater auftrat. Meist saß ich in der Intendantenloge gleich neben der Bühne. Meine Lieblings-Spielopern sind die Opern meiner Kindheit, „Der Barbier von Sevilla“, „Hoffmanns Erzählungen“ oder „Zar und Zimmermann“.

Das ist schön und gut, aber die Frage, wie sich diese frühkindliche Prägung ausgewirkt hat, bekommt eine Antwort, die dringend einer Korrektur bedarf:

Bei mir war es ein wenig wie bei Obelix, der in den Zaubertrank gefallen ist: Ich habe die komplette Ladung Klassik abbekommen. Kein Wunder, dass irgendwann die Gegenreaktion kommen musste. Ich bin zum Rocker mutiert, auch aus dem Gefühl heraus, gegen den Musikgeschmack meiner Eltern revoltieren zu müssen.

Falsch! Das war keine komplette Ladung Klassik, sondern eine komplette Ladung Spielopern! Und das ist ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Man könnte ja sogar behaupten, dass das typische Opernpublikum ein komplett anderes ist als das Publikum der klassischen Sinfonie- oder gar der Kammerkonzerte. Und wenn man dann noch der Ansicht ist, dass man damals das falsche Instrument gelernt hat, nämlich Klavier, und nie erfahren hat, dass dieser schwarze Kasten einem – dank realer Imaginationsfähigkeit –  die ganze Welt der Musik zu erschließen vermag, dann bezieht man eben seine Weisheit aus dem „Pullacher Supermarkt, die hatten dort immer einen Plattenständer“…

Natürlich kann diese Musik ein Leben lang neue und neueste und noch neuere Erfahrungen produzieren, die allerdings niemals tiefer in das hineinführen, was Musik im „eigentlichen“ Sinne ausmacht. Woher sollen es die Jugendlichen auch wissen? Die Frage lautet ja nur: Ist Musik für die heutigen Jugendlichen noch ein Statement? Und Fred Kogels Antwort ist entsprechend dürftig:

Ich glaube schon, vor allem im Hip-Hop und im Rap. Da gibt es eine enge Verbundenheit der Fans zu ihren Musikern. Das typische Produkt in den Charts hat aber einen starken Marketing-Charakter. (…)

Ich habe früher noch auf den Erscheinungstag einer Platte gewartet. In der Bravo hatte ich meist schon davon gelesen, es gab ja nicht so viele Informationsquellen. Man musste sparen, um sich die Platte leisten zu können, man war froh, sie in den Händen zu haben. So etwas schafft Emotionen. Der größte Unterschied zu früher ist, dass Teenager heute meist nur für eine kurze Zeitspanne eine enge Beziehung zu einzelnen Musikern oder Bands aufbauen. (…)

Ja, man muss sich nur die Facebook- und Youtube-Erscheinungen ansehen. Sängerinnen wir Rihanna oder Taylor Swift, die über riesige Fankreise weltweit verfügen, haben die digitale Verfügbarkeit perfektioniert. Diese Phänomene leben mehr vom Lifestyle und vom Look als von der Nachhaltigkeit der Musik. (…) Aber die Flüchtigkeit ist kein neues Phänomen, auch bei uns gab es früher Bands wie [xyz]. Haben die nachhaltige Musik gemacht? Nein.

Quelle Süddeutsche Zeitung 1./2. August 2015 (Seite 54) Fred Kogel über MUSIK.

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag 3. August (Aspektwechsel anstelle einer Fortsetzung)

Aus dem Blog von Berthold Seliger (Hier):

31.07.2015 – 13:54

In der „FAS“ schreibt die formidable Klassik-Expertin Eleonore Büning einen interessanten kleinen Aufsatz zum Thema „Warum schreiben Popkritiker über alles, nur nicht über die Musik?“ (steht leider nicht online, kann/will die FAZ/FAS nicht…)
Frau Büning weist darauf hin, daß Popmusik musikalisch sozusagen einfallslos ist, daß sie sich der musikalischen Bausteine, die seit dem 17. Jahrhundert vorhanden und bekannt sind, mehr oder minder ohne Verfeinerung oder gar Weiterentwicklung bedient: „Die Bausteine für eine Rockballade oder einen Schlager unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen für ein Schubertlied oder eine Gluckarie oder ein Monteverdimadrigal oder ein neapolitanisches Volkslied oder ein jiddisches Wiegenlied: Kadenzformel, Dreiklang, Terzfall, Sextsprung, Lamentosekunde, Auftakt und Synkope – was halt die gute, alte Musikrhetorik so an emotionalen Stimulantien hergibt. Das funktioniert seit Jahrhunderten tadellos…“
Mal abgesehen davon, daß ich bezweifle, daß die meisten Popmusiker und Popkritiker auch nur eine Ahnung von Kadenzformeln, Terzfall, Sextsprung oder Lamentosekunden haben (und damit meine ich nicht, daß sie nicht wissen, wie das heißt, sondern, daß sie diese Stilmittel weder kennen noch bewußt einsetzen…), hat Frau Büning völlig Recht, wenn sie sagt: „Das Wesentliche am Pop ist nicht die Musik, es ist die mit musikalischen Mitteln geweckte große Emotion, es sind die dadurch transportierten mehrheitsfähigen Bekenntnisse, Identifikationsmodelle, Lebenswelten, Selbstdarstellungskonzepte.“
Und daß sie von einem Popkritiker erwartet, daß er uns solche sozialen und politischen Phänomene, eben: das Gesellschaftliche an der Popmusik erklärt. In der Realität (und wenn ich über die Musikkritik nöle, dann immer in dem Wissen, daß es da draußen auch ein paar wirklich hervorragende PopkritikerInnen gibt, die BalzerBruckmaierWalter und wie sie alle heißen – eben die geliebten und bewunderten Ausnahmen, die die Regel bestätigen…), in der Realität also passiert leider das Gegenteil: Endloses Zitieren von Songtexten und das noch endlosere Name-Dropping sind die Regel. Nochmal Eleonore Büning:
„Was nützt es, zu wissen, in welcher inzwischen aufgelösten Band Y oder Z der Rhythmusgitarrist der Gruppe O, P oder Q schon mal vorher gespielt hat, wenn schon die Gruppen A oder B nur den Leuten bekannt sind, die neben dem Kritiker in der Fankurve saßen? Manchmal denke ich, diese hochnäsigen Kollegen von der Popmusikfraktion, die schon so jung so verknöchert herumschwadronieren, verstecken sich und ihre Meinung hinter Gebirgen von Namen aus demselben Grund, aus dem sich die klassischen Musikkritiker früher hinter Wällen aus Adornozitaten versteckt haben: Es handelt sich um Verteidigungswälle. Adorno nannte solche sich abkapselnden Gruppen von Musikliebhabern, die mit ihrem exklusiven Musikgeschmack unter sich bleiben wollten: ‚Ressentimenthörer’.“