Archiv für den Monat: März 2015

Die sogenannte Realität

Ich interessiere mich neuerdings für die Cayman Islands. (Ich war noch nie in der Karibik.)

Die Gipfel eines unterseeischen Gebirges, des bis nach Kuba reichenden Kaimanrückens, bilden die Inselgruppe. Ihren Namen verdanken die Inseln den hier lebenden Echsenarten, den Kaimanen, die man zu Beginn mit Krokodilen verwechselt hatte.

1503 von Kolumbus entdeckt, nachdem er von der geplanten Route abgewichen war. Später britisches Überseegebiet. Hauptexportmittel waren über lange Zeit Schildkröten und Muscheln. So lese ich in Wikipedia.

Aber ehrlich gesagt, was mich aufmerksam gemacht hat, ist eine Notiz in der ZEIT (19. März 2015 Seite 54):

… auf den Cayman Islands [sind] 80 000 Unternehmen registriert, aber nur 53 000 Einwohner.

Einerseits muss ich zugeben – Wirtschaftsstrukturen interessieren mich weniger als musikalische, andererseits bin ich deshalb noch lange kein Traumtänzer. Was tun? Ich mache mir Notizen und warte, ob sie weiterwirken. Noch kaufe ich das entsprechende Buch nicht. Ich lese in Wikipedia den Abschnitt, der nach dem Satz über Schildkröten und Muscheln folgt. Überschrift: Wirtschaft. Nicht nachlassen, die paar Zeilen kannst du absinken lassen, bitte HierWas braut sich da zusammen?

Die Cayman Islands liegen weit vor unserer Küste, off shore, vor jeder Küste, es ist der freie Raum da draußen. Aber man ist nicht einsam dort: eine ganze Schicht ist hier zu Hause, eine „globale Schicht, die aus hochvermögenden Einzelpersonen und Familien, Eigentümern/Managern großer Konzerne und Dienstleistungsunternehmen besteht“ (John Urry), sie verwenden „eine bestimmte ökonomische Strategie, quasi Kampftechnik, (…)  um ihre Gewinne zu erhöhen.“ Man nutzt den freien Raum.

Die Cayman Islands sind nur ein Beispiel, es gibt unzählige andere Orte außerhalb der „verwalteten Welt“, deren Verherrlichung natürlich nicht das Ziel dieser Notiz ist. Zugleich gilt es die Orte außerhalb zu entromantisieren.

Man denke an Offshore-Bohrinseln, auf denen Offshore-Energie-Unternehmen Öl aus dem Meeresboden pumpen. Man kann es onshore gut verkaufen, und diese Regel gilt eben nicht nur für Öl. Ich zitiere aus der Buchbesprechung, die referiert,

wie sich Konzerne und ihre Eigentümer, man kann auch sagen, das Kapital, darauf besonnen haben, dass sie gegenüber Staaten und Arbeitern einen Startvorteil haben: Sie sind mobil. Sie können ihr Geld über die Landesgrenzen hinweg verschieben und die Welt nach den geringsten Löhnen, niedrigsten Steuersätzen und lockersten Umweltauflagen absuchen.

Es geht also nicht nur um den Öl-Verkauf oder um billige Herstellung und profitablen Verkauf sonstiger Güter, sondern auch um die „Entsorgung“ von Müll und giftigen Chemikalien – und auch um das Angebot anderswo verbotener oder verpönter Dienstleistungen und Praktiken wie etwa Drogenkonsum oder Sex mit Teenagern.

Und nun der entscheidende Text:

Es ist nicht so, dass sich diese Offshore-Welt nicht verändern ließe, dass man sie nicht in eine Onshore-Welt zurückverwandeln könnte. Nötig wären hierfür Bündnisse unter einzelnen Regierungen, eine Art zwischenstaatliche Solidarität, theoretisch ist das möglich. In der Praxis versprechen sich Regierungen mehr vom zwischenstaatlichen Wettbewerb um die Gunst der Konzerne, in der Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze.

Und Ähnliches gilt auch für das Freihandelsabkommen TTIP, das man nach Strich und Faden bekämpfen sollte. Doch darüber später.

Quelle der Zitate und Anregungen: DIE ZEIT 19. März 2015 Seite 54 In die Tiefe des Raumes Wie schafft es das Kapital eigentlich, alles auszulagern, was seine Interessen stört? John Urry und Thilo Bode benennen in ihren Büchern die Tricks des Systems. Von Wolfgang Uchatius.

David Garrett nicht loben können

Musikkritik

Um es vorwegzunehmen: er kann virtuos Geige spielen. Er beherrscht die – für den „Normalgeiger“ – höchst bewundernswerte Kunst, sich nicht einspielen zu müssen. Er kauert eine halbe Stunde oder länger in der Small-Talk-Show, dann steht er auf, greift die Geige und fetzt den Hummelflug so leicht dahin, dass einem die Haare fliegen. Wie kann er das? Ich weiß, bei Julia Fischer geht es genau so (wie neulich zu sehen, aber sie spielte eben nicht den Hummelflug, sondern einen atemberaubenden Hindemith-Satz – und sprach nicht ohne Ironie den Gastgebern ihre Anerkennung aus, weil solch eine Klassik-Rekord-Länge – per Vertrag gesichert – hier möglich war). In meiner Studienzeit ging die Legende um, Ruggiero Ricci habe die Paganini-Capricen ohne Schnitt veröffentlicht, er traf im Studio ein, nahm die Geige aus dem Kasten, spielte von Nr. 1 bis Nr. 24  und packte wieder ein. „Wollen Sie nicht nochmal abhören?“ „Warum!?“ – So die Legende. Klar, er war ein Virtuose, ein Künstler war er nicht.

Ich habe vor Jahren in einer WDR-Sendung die von Ulrich Beetz eingespielten Schubert-Sonatinen verglichen mit solchen, die Gidon Kremer aufgenommen hatte, im Blindversuch sozusagen, und war (bin) absolut sicher, dass niemand sagen kann, wer wann spielt. Ich hätte auch nie gezögert, einen Namen zu nennen, wenn es um den größten Mozart-Pianisten unserer Zeit ging: Alexander Lonquich. Und wer geigt die wunderbarste Frühlingssonate? Leonidas Kavakos. Und wer den schönsten Brahms? Daniel Gaede. Mein einziger Fehler wäre: mit Superlativen überraschen wollen, um jeden Preis verblüffen wollen. Denn es geht ja nun mal nicht ohne Differenzierung. Die Erlebnisse, auf die ich mich beziehe, haben lange gedauert, sind wiedergekehrt, haben Verlässlichkeit bewiesen. In einer Medienwelt der Rankingmanie hat es Sinn, gegen den Trend zu bewerten. –

Bei David Garrett denke ich als erstes an den Geiger, der in Lederausrüstung an einem Kran hängend wie ein recht massiver Engel vom Himmel herabschwebt, Rock-Schlager in Oktaven hackend und fortwährend lächelnd. Unerträglich, sein Brahms interessiert mich nicht. Das ist alles. Wer kann mich überreden zu differenzieren? Er will die Klassik halt auch noch können, auf der Bühne vor seinem Lieblingspublikum stehend, nun endlich auch seriös, aber lässiger als andere, und er sagt dazu: „Ich hoffe, es wird euch gefallen.“ Ein Riesenproblem für die Musikkritik. Er wirkt lieb und bescheiden. Und er hat die Technik. Aber er hat keine Glaubwürdigkeit.

Und nun macht sich Julia Spinola an die Arbeit, seinen Brahms-Auftritt in Worte zu fassen. Ich habe oft beklagt, dass die ZEIT nicht angemessen über klassische Musik berichtet. Nun haben wir aber alles beisammen, was dazugehört: eine hervorragende Journalistin und einen Interpreten, dessen Sympathiewerte so unbezweifelbar sind wie sein Mangel an Klassikkompetenz .

Dieser Brahms kennt kein Sehnen, keine Verheißungen und keine Erfüllung. Er kommt nirgendwo her und will nirgends hin, hat keine Krisen und keine Geheimnisse. Er klingt nicht nur ernüchternd nuancenarm (Garrett liebt das stabile Mezzoforte), sondern auch bestürzend sinnentleert.

Woran liegt das? Zunächst einmal daran, dass Garrett den musikalischen Verlauf nicht als Entwicklung auffasst, sondern als Reihung melodischer Aussagen und harmonischer Zustände. In seinem Spiel klingen die Themen beim ersten Auftreten ganz genauso wie in den Wiederholungen, ganz gleich, durch welche Höhen und Tiefen sie in der Zwischenzeit gegangen sein mögen. Zweitens laufen Garretts Phrasierungen relativ stereotyp ab: In melodischen Aufschwüngen wird der Spitzenton stets über ein leichtes Portamento erreicht, Steigerungen unterstreicht er durch gewisse Eintrübungen der Intonation, und am Phrasenende folgt dann der Rundbürstenschliff.

Quelle DIE ZEIT 19. März 2015 Seite 56 Habt mich lieb! David Garrett will endlich wieder als seriöser Musiker verstanden werden und geht mit den Violinsonaten von Johannes Brahms auf Tournee. Von Julia Spinola.

Dem Pianisten ergeht es noch schlimmer. – „Und daher klingt auch das von Garrett als wild und ungebändigt angekündigte Scherzo in c-Moll geradezu deprimierend alltäglich und routiniert: von Einsamkeit, gar Freiheit keine Spur.“

Ich habe David Garrett nicht mit den Brahms-Sonaten gehört, glaube aber Julia Spinola aufs Wort, selbst wenn er nächstes Mal die Wiederholungen anders spielt und sich Portamenti an den entsprechenden Stellen versagt. Man nimmt ihm das alles nicht ab und muss es halt irgendwie begründen. Ich muss es nicht unbedingt gehört haben, um es sehr treffend zu finden, wenn es am Ende heißt:

Garretts Spiel tut niemandem weh. Dieser Mann hat nichts Eitles. Er will sich mit den Brahms-Sonaten nicht selbst inszenieren, seine Interpretationen haben nichts Aufgesetztes, nichts unangenehm Geschminktes, ja nicht einmal etwas Unauthentisches. Garrett spielt, wie er ist: hübsch, ein wenig blass, unverbindlich und uncharismatisch. Er ist der Held einer Zeit, die sich vor allem fürchtet, was ihre sicheren Allerweltsgefühle durcheinanderbringen könnte. Ganz so wie Garrett selber, der sich von einem Gefängnis ins nächste begeben hat, als er sich von drillenden Eltern und Lehrern befreite, um sich einer totalitären Vermarktungsmaschinerie in den Rachen zu werfen. Die künstlerische Freiheit als Stockholmsyndrom? Dann haftet einer Figur wie David Garrett durchaus etwas Tragisches an.

Und wenn er wirklich gesagt hat, dass er hier vor seine Fans tritt, um das „Intimste“ zu offenbaren, und zwar mit Stücken, die man eigentlich nur unter Freunden im Wohnzimmer spielen könne, und es gehe darum, „jeder Note eine Bedeutung“ zu verleihen.

Ja, das kann er wirklich gesagt haben, jeder kann es sagen und die abgedroschensten Allerweltsgefühle meinen. Was man heute eben so „Emotionen“ nennt.

Das Wort „Stockholm-Syndrom“ ist ein Treffer! Wenn die Kunst uns in Geiselhaft nimmt und wir sie aus lauter Not zu lieben beschließen…

Geistesgröße

Mit Erstaunen hören wir, dass wir leicht den Globus umrunden könnten, wenn nur die Nervenbahnen unseres Gehirns in diesem Sinne nutzbar wären:

Die Länge aller Nervenbahnen des Gehirns eines erwachsenen Menschen beträgt etwa 5,8 Millionen Kilometer, das entspricht dem 145-fachen Erdumfang.  (Zitat)

Andererseits ist es verlockend, sich auf die faule Haut zu legen, zumal sie ja auf Dauer schwer zu tragen ist:

Mit einer Fläche von eineinhalb bis zwei Quadratmetern ist die Haut das größte Organ des menschlichen Körpers. Sie macht rund ein Sechstel des Körpergewichtes aus. (Zitat)

Aber mir wird ganz bang um die Welt, wenn ich an den Darm denke:

Der Verdauungstrakt hat eine Oberfläche von 300-500 m2. Damit stellt er die größte Kontaktfläche des menschlichen Körpers zur Außenwelt dar. (Zitat)

 Ob mein Geist mit seinen unglaublich dünnen Nervenbahnen ausreicht, diese Größenordnung zu erfassen?

Die Sorge wächst, wenn ich die Grenzen seiner Macht zu ergründen suche und auf Gewissheit in der Schrift „Was ist Macht?“ von Byung-Chul Han hoffe. Dieser wiederum wendet sich an den großen Philosophen Friedrich Hegel:

Die Tätigkeit des Geistes beschreibt Hegel interessanterweise in Analogie zur Verdauung. Hervorgehoben wird dadurch eine machtlogische Affinität zwischen Verdauung und Geistestätigkeit: „Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit, welche der Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idealisierung oder Assimilation des Äußerlichen wird und ist er Geist.“ Der Grundzug des Geistes ist die Verinnerlichung. Er hebt das Andere, das Äußerliche in seinen Innenraum auf. Dadurch bleibt er im Anderen bei sich zu Hause. Das Erkannte oder das Begriffene ist dem Geist nicht äußerlich oder fremd. Es gehört zu ihm. Es ist sein Inhalt: „Nämlich Erkennen heißt eben das Äußerliche, Fremde des Bewußtseins vernichten und ist so Rückkehr der Subjektivität in sich“. Die Verinnerlichung, die Aufhebung des Außen ins Innen, verbindet Digestion und Begreifen. Essen und Trinken ist, so Hegel das „bewußtlose Begreifen“ der Dinge.

Quelle  Byung-Chul Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005  (Seite 71f)

Han zitiert Hegel aus folgenden Quellen: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in: Werke, Bd. 10 (Seite 21) u. Bd. 9 (Seite 485); Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12 (Seite 391).

Geschrieben ab 9.30 Uhr während der Sonnenfinsternis, ohne Lampenlicht… Ich bitte Schreib- und Denkfehler zu entschuldigen… Aber nicht einmal die Vögel haben aufgehört zu singen, vor allem die Singdrossel nicht. Nimmt sie ihren Namen als Vorschrift? Oder nutzt sie listig den trügerischen Nebel da draußen?

(Doch! Sie haben aufgehört, ab 10.17 Uhr war Ruhe. Abgesehen vom Rotkehlchen.)

Macbeth

Für eine Shakespeare-Begegnung dürfte man jederzeit offen sein. Ich habe auf die neue Gelegenheit gewartet, um mich endlich wieder vorbereiten zu müssen, zumal seit ich das neue Buch des Shakespeare-Übersetzers Frank Günther besitze, – das von Denis Scheck so überschwänglich empfohlen worden war, dass man glauben konnte, es verkaufe sich nicht. Unbegründet! Und nun sind darüberhinaus diese Eintrittskarten da. Ich spüre den latenten seelischen Druck „Macbeth lesen!“, sonst nichts, und habe entsprechend viel Zeit. Shakespeare Festival – quasi am Originalschauplatz – in „Originalsprache“ – Anfang Juni. Fest steht: man muss das Werk auf deutsch so gut wie auswendig können, ich weiß das von meinem vorigen Festival mit Romeo & Julia sowie Julius Caesar. Sein Englisch ist auch für Engländer kaum verständlich. Oder sagen wir: minimal zugänglicher als für uns Walther von der Vogelweide. Frank Günther betont offenbar mit Recht (Seite 222) :

(…) Shakespeare ist nicht berühmt für dramatische Erfindungen, Handlungen und Verwicklungen. Fast alle seine Stücke beruhen auf fremden Vorlagen; selbst ausgedacht hat er sich nur drei oder vier Stücke. Er ist nur ein genialer Bearbeiter, der seine Vorlagen allerdings unendlich bereichert hat – und dies vor allem mit dem Mittel seiner kunstvollen Sprache. Shakespeare ist ein Genie der Sprachkunst – und keiner versteht sie mehr…

Man soll also nicht glauben, dass man sie erfasst, wenn man sie live auf der Bühne erlebt: das geht nur mit dem zweisprachigen Text (samt Anmerkungen) in der Hand, – zuhaus. Was die Bühne vermittelt, ist eben das lebendige Bühnenleben. Dazu die Suggestion, dass all dies von der Sprache getragen wird. Die erneuerte Motivation – für Zuhause.

Es ist wie mit großer Musik, die man zu kennen glaubt, der man aber in der Realität oft nicht wirklich gewachsen ist.

Macbeth Eintritt

Macbeth Neuss

Was steht mir zur Verfügung?

Die phantastische Lesung der Übersetzung von Thomas Brasch, Katharina Thalbach 2005 in allen Rollen.

Macbeth Thalbach

Mein Exemplar vom 4.7.59 :

Macbeth 1959

Die überfrachtete Schullektüre aus derselben Zeit:

Macbeth Schule

Der umfangreiche Wikipedia-Artikel.

Man sollte ein solches Werk nicht verkleinern (historisierend verniedlichen), um es zu verstehen, – lieber das Verstehen hinausschieben, nur sammeln, was die Übersicht fördert. Auf den ersten Blick scheint mir wieder die Einführung von Walter F. Schirmer  (Rowohlt) nützlich. (Erster Blick: „Dämonologie“ – historisierend. Zweiter Blick:)

Der Aufbau

Von allen Tragödien Shakespeares hat ‚Macbeth‘ den dramatisch gewaltigsten, dabei den einfachsten Bau. Aus der einen Tat, die der Visionär Macbeth tatsächlich vollbringt, erwächst das gesamte Drama. Zu ihr drängt alles hin: Versuchung, Skrupel und äußerer Anlaß; aus ihr entspringt alles weitere: Furcht, Reue, endlose Greuel und Tod. Nachdem wir durch den Monolog (I,7) einen Blick in Macbeths verstörte Seele getan haben, die alle Skrupel vorwegnimmt und alles Entsetzens inne ist, scheint Macbeth nach dem Königsmord die Kraft zu haben, das Grauen zu überstehen. Aber sofort stehen dem Königtum nach dem Spruch der Hexen Banquo und seine Nachkommenschaft entgegen. So befiehlt Macbeth den Überfall auf Banquo und dessen Sohn Fleance und ihre Ermordung. Nach Banquos Beseitigung und Fleances Flucht ist ihm Macduff im Weg, und trotz der ihn entsetzenden Geistererscheinung des Banquo, trotz der in Wahnsinn verfallenden Lady Macbeth, läßt Macbeth Macduffs Sippe erschlagen, während Macduff selbst entkommt. Als die gerechte Welt unter Siward mit zehntausend Mann gegen ihn zieht, streckt er Siwards Sohn nieder, und noch zu Ende stellt er sich zum Kampf gegen Macduff. Dies Morden der Unschuld, das im ‚Othello‘ noch in einer Gestalt zentrierte, wird hier zum ausweglosen, im Absoluten endenden Gesetz.

Es ist dies das einzige Beispiel bei Shakespeare, daß alles Geschehen in einer Tat wurzelt, und folglich auch das einzige Beispiel, daß die durch eine zerrüttete Welt gehende Shakespearesche Nemesis uns so greifbar erscheint. Um dies zu verstehen, darf man nicht einen Schulbegrif der Schuld im menschlichen Sinne, der den Helden verkleinern würde, herantragen, und muß SCHILLERS Bearbeitung von Shakespeares Macbeth abrücken. Dem Shakespeareschen Drama liegt eine andere Tragödienauffassung zugrunde: In der Erschaffung des Bösen haben sich übernatürliche Mächte mit den unheimlichen Wesensschatten in uns gegen den Menschen verbündet.

Quelle Walter F. Schirmer: Zum Verständnis des Werkes. Zum Text und zur Entstehungszeit des Dramas / Macbeth-Ausgabe Rowohlts Klassiker 1958 Tempel Verlag Berlin und Darmstadt (Seite 160)

Der zitierte Text ist nur der Beginn des Abschnitts, und doch lohnt sich das Ganze, weil es die Aufmerksamkeit auf den inneren Gang des Dramas einstellt, den Frank Günther oben herunterzuspielen schien. Natürlich gelingt dies alles nur dank einer Sprache, die alle psychologischen Vorgänge konkret werden lässt.

Oder?

Ein ganz anderer Zugang: über den Film. Zum Beispiel diesen mit Jason Connery (Sohn von Sean Connery) aus dem Jahr 1997.Vollständig auf youtube HIER.

Leicht mitzulesen in der zweisprachigen Rowohlt-Ausgabe, wenn man die Sprünge im Text vermerkt (man muss den Film ohnehin mehrmals sehen).

Oder das BBC-TV-Drama aus dem Jahr 1988, Nicol Williamson als Macbeth, etwas künstlicher, theater- bzw. schulmäßiger, aber mit fortlaufend eingeblendetem Original-Text. HIER.

Oder die „moderne“ Version aus dem Jahr 2010 (Regietheater), Patrick Stewart als Macbeth, HIER.

* * * * *

Wenn man in dem ersten der oben angeführten Filme (1997) bemerkt (oder kritisiert), mit welcher Hingabe die Schreckensszenen visuell ausgearbeitet sind – die Hexen, die Ermordung Duncans, der Geist Banquos -, so muss man hinzufügen, dass die damalige Phantasie äußerst nahe an der Realität arbeitete: es gab Hexen und Geister aller Art. Shakespeare war ein „kombinatorisches“ Genie, aber kein über seine Zeit so erhabener Denker, dass er die Hölle nur als Symbol begriff. Und er glaubte an die absolute Macht des Königtums, das u. a. auch ihm die Existenz sicherte, verkörpert in Elisabeth I. (bis 1603), danach Jakob I. Der letztere war „furchtsam, abergläubisch und geradezu besessen in seiner Angst vor Hexerei, mit der er sich in seiner Schrift Daemonology 1597 befasste,“ schreibt Frank Günther in seinem Shakespeare-Buch (Seite 149). Und an anderer Stelle:

Und vor allem das Stück Macbeth ist auf Jakob zugeschnitten. Die Hexenszenen sind ein Kotau vor seiner Kennerschaft auf dem Gebiet der Dämonologie. Mit der Banquo-Erzählung dienert sich Shakespeare dem König geradezu an: Banquo ist ein Adliger, den Macbeth ermorden lässt. (…) In der Geisterparade der Hexen sieht Jakob einen Banquo-Nachfolger mit zwei Reichsäpfeln: sich selbst, Jakob, den König von Schottland und England. Jakob sieht sich in Shakespeares Stück wie in jenem Spiegel, den der Schauspieler dem Darsteller des achten Königs hinhält.

Frank Günther „Unser Shakespeare“ dtv München 2014 (Seite 152) – bezieht sich auf Macbeth IV,1 „Acht Könige erscheinen und gehn über die Bühne, der letzte trägt einen Spiegel; Banquo folgt.“

Siehe im Film ab 1:20:22 – Macbeth ruft: Let me know. Why sinks that cauldron? and what noise is this? Die Hexen: Show! Show! Show! Show his eyes, and grieve his heart! Come like shadows, so depart. (Erscheint! Erscheint! Erscheint! Erscheint dem Aug und quält den Sinn: Wie Schatten kommt und fahrt dahin.)

Im Nachwort des zweisprachigen dtv-Textes schreibt Schirmer in dem Abschnitt „Macbeth und die Dämonologie“:

Das, was wir heute sinnbildlich deuten, hat für den Menschen der damaligen Zeit Realität gehabt. Sie haben das Echo der Unterwelt in uns nicht nur vernommen, sondern auch sichtbar erfahren. Shakespeare hat an die Erscheinung von Hexen geglaubt und hat sie als Botinnen der Hölle verurteilt wie seine ganze hexengläubige Zeit. Er vermochte z.B. auch in der Jungfrau von Orléans nichts anderes als eine Hexe zu sehen, die man verbrennen muß (‚Heinrich VI.‘).

Auf die Vertrautheit der Schauspieler und Zuschauer mit dem Bühnenzauber der Hexen lassen auch die Andeutungen ihrer Gesänge (III,5 und IV,1) schließen. So muß der hinter der Bühne gesungene Song: „Come away, come away, etc.“ ein in Shakespeares Zeit so populärer Hexenreim gewesen sein, daß er hier für die Schauspieler nur angedeutet und nicht ausgeschrieben zu werden brauchte. In MIDDLETON’s Drama ‚The Witch‘ findet sich der vollständige Wortlaut: „Come away, come away; / Heccat, Heccat, come away! – Heccat: I come, I come / With all the speed I may.“

Ebenso ist die in Akt IV, Szene I gegebene Bühnenanweisung: „Music and a Song, ‚Black Spirits‘, etc.“ in dem genannten Drama bei Middleton voll aufgeführt als „A charm song about a vessel“: „Black spirits and white: Red spiritts [sic] and gray; / Mingle, mingle, mingle, you that mingle may. / Round, around, around; / All I come running in, all good keep out.“ Doch ist damit nicht Shakespeares Abhängigkeit von Middleton erweisen. Es besteht die Möglichkeit, daß beide Dramatiker REGINALD SCOTT, ‚Discovery of Whitchcraft‘, 1584, als Quelle benutzt haben.

Was uns heute als Gespinst der Phantasie erscheinen mag, war damals differenzierter Glaube: mit Hekates, der Mondgöttin, Hinweis „Upon the corner of the moon / There hangs a vaporous drop profound“ (III,5) ist ein aus Dünsten gebildeter Tropfen von tiefer geheimer Kraft gemeint, den Hekate vom Mond holen will, ehe der Tropfen herabfällt, damit sein Gift zu Macbeths Verblendung wirken kann.

Nicht mehr die Mondgöttin Cynthia, die in der englischen Dichtung Sinnbild für die Königin Elisabeth war, tritt auf, sondern die Mondhexe. Jakob I., der erste Stuart-König, der auch Shakespeares Schauspielertruppe patronisierte, verfaßte selbst [wie schon oben erwähnt] eine ‚Daemonologie‘ (1597 in Edinburgh gedruckt), welche dem herrschenden Hexenwahn neue Nahrung gab.

Quelle Walter F. Schirmer: Zum Verständnis des Werkes. Zum Text und zur Entstehungszeit des Dramas / Macbeth-Ausgabe Rowohlts Klassiker 1958 Tempel Verlag Berlin und Darmstadt (Seite 159 f)

(Fortsetzung folgt)

Dem Programmzettel der Macbeth-Aufführung am 14.05. Mai im prinz regent theater in Bochum (siehe am Ende des Beitrags „Unter Hekubas Leitung“ verdanke ich den Hinweis auf das Buch „Shakespeare heute“ von Jan Kott; es wurde am 1. Mai 1964 von Hans Mayer in der ZEIT besprochen, und dieser anregenden Rezension entnehme ich den Hinweis, dass hier „zwei Deutungsebenen für die Shakespeare-Darstellung gegeben“ seien: nämlich zunächst das „Endspiel des Feudalismus“. Und des weiteren „die Geistes- und Bewußtseinskrise des Menschen im Zeitalter der Renaissance, – des europäischen Humanismus, der großen neuen Naturwissenschaft.“ Mayer erwähnt das „Endspiel“ von Beckett, warnt aber zugleich davor, Shakespeare zu eilig im Lichte unserer modernen Erfahrungen zu lesen; es gehe darum, „ihn zunächst einmal als Zeitgenossen seiner eigenen Zeit verstehen lernen“.

ZITAT:

Bei Kott geht alles von den Königsdramen aus, denn sie geben Shakespeares wirkliche Welt, die Wirklichkeit der Shakespeare-Zeit. „Will man Shakespeares Welt als wirkliche Welt verstehen, so muß man mit den Königsdramen beginnen“, das ist die Grundthese von Jan Kott. Diese Welt der Königsdramen aber ist bei Shakespeare ein statisches Geschehen. Um es mit den Worten von Kott zu sagen: „Jede dieser großen Geschichtstragödien beginnt mit dem Kampf um den Thron oder dessen Befestigung. Jede endet mit dem Tod des Monarchen und der neuen Krönung.“ Ein großer Mechanismus von Machtverlust und Machtergreifung wird demonstriert. Darum werden bei Shakespeare, wie Kott zeigt, die entscheidenden und grauenhaften Ereignisse von Mord und Verrat, Speichelleckerei und Angst als einfache Spielregeln in einem mechanischen und statischen Geschehen dargestellt. Mechanisch und statisch, weil diese Feudalwelt in ihr Endstadium eingetreten, anachronistisch geworden ist.

Vom Endspiel dieser Feudalwelt her aber versteht Kott nicht bloß die eigentlichen Königsdramen, sondern ebenso den „Hamlet“ und den „Lear“. „Richard III. kündigt Hamlet an“, so sagt er, und setzt hinzu: „König Lear ist gleich Hamlet auch eine Tragödie des Menschen, des Zeitgenossen Shakespeare, die politische Tragödie des Humanismus der Renaissance.“

Quelle DIE ZEIT 1. Mai 1964 Shakespeare – von Beckett her verstanden / Von Hans Mayer

Die Intelligenz der Hand

Was denkt man beim Üben?

Ich weiß durchaus, dass die Hand von Natur aus nicht intelligent ist, aber noch sicherer weiß ich, dass sie durch ihren Tätigkeitsdrang, durch ihre taktile Leidenschaft, die Intelligenz anregt, sich mit ihr verbündet. Ganz besonders, wenn sie dabei Töne erzeugt. Man muss sich die schnellen Préludes von Chopin, Wunderwerke des Ausdrucks und der Intelligenz, natürlich im langsamen Tempo erschließen und dabei das Vertrauen in die eigenen Hände entwickeln. Etwa das Prélude Nr. 5, D-dur, Molto allegro, – im molto adagio! Ein so fabelhaft manuell erfundenes Stück muss nicht in 50 Sekunden vorbei sein, es kann der Hand, beiden Händen, 5 wunderbare Minuten bieten. Man halte die Hände vor sich, entspannt, ein Halbrund, der Daumen berührt nicht ganz die Fingerkuppe des Zeigefingers, er bildet die Gerade, über der sich der Bogen des Zeigefingers wölbt, mit dem Knöchel als höchstem Punkt. Und nun öffne man und spreize die Finger – ohne jede Anspannung. Was macht man nun mit der Figur  der linken Hand in den ersten 4 Takten? Man setzt den Zeigefinger auf den Ton G  und lässt den kleinen Finger nach links in die Richtung des Tones A weisen, den er „demnächst“ erreichen soll, den Daumen aber nach rechts in Richtung des Tones E, er befindet sich wohl schon in nächster Nähe. Und nun heißt es, an die Tasten zu tasten, ohne den Finger dorthin zu recken, zu spannen, zu zerren – oder was sich an schlimmen Worten dafür anbietet. Man gibt mit der Hand nach, um die Tasten zu berühren. Das ist jedenfalls das Wort und die Vorstellung. Eine durch und durch runde, weiche Bewegung.

Chopin Prélude 5

Schon mal etwas zum Hören… es geht um die ersten 3 Sekunden…

Es ist merkwürdig: dieses Prélude ist nicht leicht zu analysieren, obwohl so übersichtlich angelegt, und das taktile Erlebnis, das einen besonderen Anreiz bietet, ist schwer zu beschreiben. Im alten Reclam-Klaviermusikführer (1986) steht:

Eine pianistisch knifflige Studie, in der beide Hände weite Intervalle zu überwinden haben und in unbequemer Bewegung gegeneinander und ineinander geführt werden (…).

Unbequem? Nur wenn man es schneller spielen will, als es die Finger gelernt haben. Aber auch langsam braucht es viel Zeit und Geduld, es geht nicht „von selbst“. Man muss es erst lieben.

Tadeusz A. Zielinski sagt:

Das kurze, äußerst bewegte (…) Prélude (…) ist eine Momentaufnahme, ein flüchtiges Gefühl oder eher der blitzschnell vorbeihuschende Schatten derselben: Hier verbinden sich – in Sechzehntelbewegungen beider Hände – die Ansammlung harmonischer Wechsel und schneller Modulationen mit einem zarten Wogen des Ausdrucks. Ungeachtet ihrer scheinbar einheitlichen Bewegung ist diese Miniatur von außerordentlichem musikalischen Reichtum.

Und er benennt auch in aller Kürze den Reiz des metrorythmischen Wechsels, der im ganzen Verlauf des Préludes in Erscheinung tritt. („Chopin“ Lübbe 1999 Seite 585)

Ich finde: gut sehen und verstehen kann man die Zusammenhänge, Beziehungen, Veränderungen nur, wenn man den Notentext sinnvoll anordnet, nämlich so, wie ich es bei ethnologischem Material auch tun würde; denn das Unbewusste ist schwer von Begriff, man darf es liebevoll wie ein Kind behandeln. Zwei Zeilen – die rot markierten, Taktzahlen 5 und 21- habe ich zudem jeweils in Vierer-Taktgruppen durchgezählt, damit offensichtlich ist, dass die untere nicht etwa länger ist als die obere, sie ist nur drucktechnisch in die Länge gezogen. Diese Zeilen bedürfen am ehesten einer verbalen Analyse. (Vielleicht folgt sie noch…) Ansonsten: Rosa bedeutet „Hab-Acht!“, Grün bedeutet „Nachklingeln“ der Zielkadenz.

Chopin Prélude 5 - sichtbare Beziehungen

Man erkennt auch leicht, dass der metrorhythmische Wechsel nur die rosa markierten Abschnitte betrifft, ablesbar an den tiefsten Basstönen der linken Hand, die in der ersten und dritten Doppelzeile mit den Off-Beat-Akzenten der rechten Hand zusammenfallen, in der fünften dagegen nicht, – was die Verhältnisse noch „wackeliger“ macht. Andererseits fallen hier die höchsten und die tiefsten Töne (rechts d“ und links D) viermal zusammen, womit gewissermaßen das Ende eingeläutet wird.

In den Doppelzeilen II und IV (ab Takt 5 und 21) entspricht das Metrum jedoch genau den harmonischen Kadenzierungen von der dritten Zählzeit zur ersten des nächsten Taktes. Die Irritation liegt nur im Wechsel von Hoch- und Tiefton der linken Hand und ihrer schön verzwickten Fingerfolge. – Der merkwürdige psychologische Effekt, dass die Doppelzeile IV (Takt 21 ff) als Steigerung der Doppelzeile II (Takt 5 ff) wirkt, obwohl 5 von 8 Takten völlig identisch sind, liegt an der Molleintrübung verbunden mit kleinen Chromatismen. Dann, rückwirkend, an der unterschiedlichen Reaktion auf den verminderten Septakkord, einmal in Fis-dur, einmal in D-dur:

Chopin Prélude Harmoniefolge

Der folgende Satz aus einem schwachen Werk über Chopin von Wakeling W. Dry aus London (1926) soll in diesem Hause nicht mehr gelten:

Chopin Prélude

Um zum Schluss auf das anfängliche Finger- oder Handproblem zurückzukommen, das keines geblieben ist, möchte ich doch noch zwei nicht leicht eingliederbare Töne hervorheben, deren man sich bewusst sein sollte: das GIS in der linken Hand gegen Ende von Takt 12, sowie das CIS in der rechten Hand gegen Ende von Takt 29. Im ersten Fall sollte man der Hand schon ab der zweiten Note (EIS) eine leichte Linksdrehung zu geben, die davor bewahrt, das hohe GIS mit einem Ruck erreichen zu müssen: der Daumen muss schon vorher gewissermaßen in der Luft liegen. Bei der anderen Stelle (Takt 29) sollte man beim Fingersatz 1 – 4 – 2 – 5 ( – 1- 5) , falls man beim Übergreifen des 2. Fingers  zu einer Linksdrehung der Hand neigt, genau die andere Tendenz einüben, nämlich eine leichte Drehung nach rechts, verbunden mit einem leichten Recken des Daumens in Richtung der Taste CIS, dieses „Recken“ aber nur in der frühen Phase des Übens, als eine Bewusstmachung: der Daumen muss von Anfang des Taktes an wissen, dass er genau dort landen muss.

Quelle der Noten (samt Fingersätzen): Alte Peters-Ausgabe C.F.Peters Leipzig [1879] Bearbeiter: Herrmann Scholtz (1845-1918) IMSLP Petrucci Music Library (hier)

Meine Aufzeichnungen beruhen auf Übe-Erfahrungen, die nicht weiter zurückgehen als auf den 17. März 2015.  Vorher kannte ich das Prélude nicht bzw. ich habe es nie beachtet. Jetzt sitzt es mir in den Händen – ich kann nicht sagen, dass ich es beherrsche, aber ich werde nie wieder die Finger davon lassen.

Zur Analyse eines exotischen Videoclips

Warisan Bintan 

Eine Übung

Mich interessieren zunächst alle Vorurteile, die sich beim Betrachten und Anhören dieses Videoclips einstellen, und erst im Nachhinein die unvoreingenommene Beschreibung dessen, was hier „wirklich“ stattfindet oder gemeint ist.

Vermutlich ist das erste Etikett, das sich dem westlichen Betrachter angesichts dieses Clips aufdrängt, zumindest ab 0:42 sobald der Bass eingesetzt hat, vollends wenn ab 1:03 der Solosänger dazugekommen ist: KITSCH. Übrigens sieht man nur Einzelmusiker (Laute, Geige, Akkordeon, Tamburin), kein Ensemble, das für diesen kommerziellen Sound zuständig sein könnte. Der weichliche Gesang passt zu den betont anmutigen Gesten des Sängers, der Name „Sultan Mahmoud“ lässt auf einen subalternen Schmeichelgesang tippen. Die absteigenden Sequenzen der instrumentalen Melodie, ihre dürftige Wiederholung, der quadratische Zuschnitt, die Variante der Sequenz im Sologesang, – alles ist voraussehbar, mit Ausnahme des schnellen Abstiegs (zum erstenmal bei 1:01), der an den arabischen Maqam Hijaz erinnert, – ein exotistischer Farbfleck. Die Melodie insgesamt entspricht in ihrer Machart billigen westlichen Heimatschnulzen. Ein Moment des Aufhorchens ergibt sich  bei 3:08 bis 3:12, wird aber durch das Auftauchen eines Hintergrundchorklangs und die Wiederkehr des Sängers sogleich zunichte gemacht. Und die Tänze? Die Kleidung ist zu schön, zu kostbar, zu nett und abwechslungsreich, auch die Bewegungen sind wie mal eben für den Film erfunden. Unmotiviert der Wechsel an den Strand. Aha: Wir sind auch Naturkinder! Aber es gibt eine Handlung… Eine Frau  huscht vorbei, dann eine Art Apotheose der Laute, ein Adelsschlag durch den Sultan? Und eh du’s gedacht, ist alles vorbei. Ein romantisches Traumbild.

Oder ein didaktischer Film? Für die breite Masse, die die alte Musik (vertreten durch die Laute) nur erträgt, wenn sie in Kitsch gebettet in Erscheinung tritt? Vielleicht ist die Bedeutung des Films, – das was er meint, wichtiger als das was wir (wir) hören und sehen?

Jetzt erst wird es wirklich interessant. Wir schauen der Wissenschaftlerin in die Papiere, während sie den Einheimischen über die Schulter geschaut hat, die den eigenen Videoclip anschauen.

Jähnichen Seite 1 sw (Bitte anklicken!)

Inseln und Orte: Pulau Penyengat, Tanjung Pinang, Riau Lingga, Singapore.

Ich habe versucht, mir ein Fazit der Arbeit zu notieren, es folgt dem abschließenden Text der Arbeit von Gisa Jähnichen, ohne zu beanspruchen, eine wirklich genaue Übersetzung zu liefern. Man sollte es an Ort und Stelle nachlesen, vor allem aber die Synopsis zum Verlauf des Filmes Punkt für Punkt studieren (Seiten 150 bis 159 ausdrucken, damit man sie im Querformat lesen kann).

Der Handlungsablauf des Videoclips kombiniert eine Reihe von Geschichten. Eine davon betrifft die Reise als ein Symbol. Dieses Symbol wird auf zwei Ebenen behandelt: die eine ist die Reise des Islam in die Malayische Welt, die Ankunft des Glaubens und der kulturellen Implikationen, die die Ankunft des Islam begleiten, darunter die symbolische Bedeutung des Gambus.

Die andere Ebene ist die Reise eines jeden guten Malayen zu entscheidenden Orten der religiösen und kulturellen Geschichte, von denen einer auf Penyengat Island gelegen ist, einer Insel, die über Tanjung Pinang auf dem größeren Bintan Island im Riau Archipelagu zu erreichen ist.

Eine weitere Geschichte betrifft das Verhalten des Gambus-Spielers, der als Pilger auf dem Panyengat Island eintrifft und von Liebe zu einer Schönen der Vergangenheit ergriffen wird. Am Ende kehrt er mit dem Gambus in Händen zurück, dem Symbol des kulturellen und religiösen Erbes.

Eine zentrale Geschichte betrifft den engen Zusammenhang zwischen Musik und Tanz, was für Lebendigkeit, Freude, Frieden, Harmonie und Gemeinschaft einsteht, ausgedrückt in verschiedenen Möglichkeiten des gemeinsamen Tanzens.

Und noch eine andere Geschichte ist die Begegnung mit dem Sultan und dem Prinzen, worin sich ein tief verwurzelter Respekt für die Autorität, das Königtum und – insgesamt – für die malaysische Geschichte manifestiert.

Musikalisch umfasst die Geschichte ein artifizielles Taqsim in Nahawand und Hijaz. Absteigende Skalenfragmente von Hijaz erscheinen auch am Ende jedes „Kopak Tengah“ (mittlere Section, „Übergang“). Diese Beobachtung kann bestätigt werden durch die generelle Tendenz, dass Maqam-Fragmente oft in Übergängen, Abschlüssen und Anfängen musikalischer Einheiten erscheinen. Sie dürften einen Eindruck von Seriosität, legitimer Zuordnung und kultureller Angemessenheit der Aufführung vermitteln.

(Ich übergehe hier die formal-poetische Zuordnung des gesungenen Textes. JR)

Die Kreativität des Komponisten kann in seiner Fähigkeit gesehen werden, all die teilweise widersprüchlichen symbolischen Bedeutungen zu überbrücken, die er in ein akzeptables historisches Gesamtbild zu fügen sucht.

Einige dieser Widersprüche liegen in der Wahrung prae-islamischer Bestandteile in den künstlerischen Ausdruckformen, so etwa wenn dem Tanz das gleiche Gewicht wie der musikalischen Vorführungen zugebilligt wird. Die Wahl von Farbmischungen mit Rot und Orange, die Lebendigkeit signalisieren, mögen sogar aus einer älteren Sichtweise heiliger Kräfte stammen, wie sie im Hinduismus überliefert wird. Die Wichtigkeit wechselnder rhythmischer Aktivitäten, durch die Emotionalität befördert wird, auch die Allusion sexuell ablenkender Momente, welche die erzählten Geschichten würzen, bedeutet eine andere Sphäre ekstatischer Elemente. Diese Bestandteile kontrastieren in gewisser Weise mit der Absicht, den Respekt gegenüber den Errungenschaften der Vergangenheit, den Autoritäten, dem Königtum, dem Sultanat und den hohen Lehrern des muslimischen Glaubens voranzutreiben. Interessanterweise dominiert Gelb als königliche Farbe klar über das islamische Grün, worin sich eine individuelle Neigung zeigen mag, die Zeichen des Königtums über die religiöse Tendenz zu setzen.

Jedenfalls deuten Bewegungen und Aktionen ebenso wie die Kombination von Musik und szenischen Abläufen auf das starke Verlangen nach einem sicheren geschützten Dasein in Lebensfreude und einer friedlichen Harmonie durch eine gemeinsame Weltsicht.

Das ultimative Symbol materialisiert sich im Gambus, das nicht nur ein Musikinstrument ist, sondern ein Werkzeug, in dem das Vermächtnis der Vergangenheit fortwirkt. Musikalische Geschichte, so scheint es, zeigt sich im Engagement des Gambusspielers: er wählt den Teil der Geschichte, der erhalten werden soll. Dieser Teil zeigt sich im Maqam-Prinzip, wie auch immer fragmentiert und de-komponiert innerhalb der harmonischen Progressionen des Stückes. Es ist mit dem Gambus verbunden und untrennbar von der materiellen Manifestation und ihrer Sichtbarkeit.

(Nach dem Text von Gisa Jähnichen, incl. möglicher Missverständnisse meinerseits. JR)

Ich frage mich nach der Lektüre dieser wissenschaftlichen Arbeit, ob die in meinem Einleitungstext angedeuteten westlichen Vorurteile behoben oder gemindert worden sind. Wenn die Bedeutung des Instruments und der Maqam-Anteile so wesentlich sind, so scheinen sie mir doch im Film allzu stiefmütterlich behandelt, am Schluss sogar deutlich dem Traumbereich zugewiesen.

Zweifellos fehlt mir ein wichtiges Kriterium, nämlich die Übersetzung des gesungenen Liedtextes, dessen verbale Aussagen ebenso wichtig wie die symbolischen Zuordnungen sein dürften. Vielleicht sogar entscheidende Indizien von Ideologie oder politischem Programm zutage brächten.

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Mehr über das Gesamtprogramm des Festivals in Aserbeidschan: HIER

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Es ist noch zu wenig, also irreführend, was ich über den Hintergrund des Videoclips exzerpiert habe. Ein weiterer Versuch:

Es geht um die Promotion des insularen (!) Vermächtnisses der Malay Singapurischen Bevölkerung, einer Minorität im Staate Singapur. Ihre Identität stellt Kultur an die Seite der Religion. Obwohl eine Anzahl von südasiatischen Muslimen aus Indian und Pakistan existiert, glauben die Malay Singapurer an ihr eigenständiges Erbe, das  durch eine enge Verbindung zu arabischen Modellen charakterisiert ist, eine wenig kritische Adaption materieller Symbole und eine Re-Interpretation schon vorhandener expressiver Mittel. (…)

Diese Video „Warisan Buntan“ wurde 2003 in Pulau Penyengat und Tanjung Pinang gedreht, Inseln, die zu Riau Lingga gehören, insbesondere zu der größeren Insel Bintan. Riau Lingga hat eine wichtige bedeutung für alle Singapurer Malayen: es wird als der Ort gesehen, von dem alle Kultur und Weisheit kommt, samt allen eingewanderten kulturellen Elementen. Bintan ist auch anderen Singapuren bekannt als Urlaubsziel, Wochenendzuflucht, eine aufgeschlossene obwohl muslimische Zone, wo persönliche Freiheit geschätzt wird. Riau Lingga gehört zu Indonesien, dem Land, das überraschenderweise mehr Einfluss als Malaysia hat, nach den Begriffen Malayischer Kultur. Tanjung Pinang, die Hauptstadt von Bintan Island, ist das kulturelle Zentrum und attraktiv wegen seiner sichtbaren Verbindung mit der Vergangenheit. (…)

Die winzige Insel Penyengat war während des 18 Jahrhunderts der Sitz der mächtigen Bugis Herrscher. Der Palast und die königlichen Grabstätten gehörten Sultan Haji, von dem die erste Malayische Grammatik geschrieben worden sein soll. Als Hintergrund des Videos wurde das neu errichtete kulturelle Zentrum gewählt, das ein Publikum aus der Malayischen Welt durch Musik und Tanzaufführungen anziehen soll. Wichtige Szenen wurden in der Königlichen Moschee aus dem Jahre 1844 aufgenommen, die im alten Stil grün und gelb bemalt ist. (…)

Die Insel kann von Tanjung Pinang aus in kaum 15 Minten Bootsfahrt erreicht werden. Man sieht sie von der Küste der Hauptinsel Bintan aus.

Interessanterweise wird die schlichte Geographie schon als symbolischer Hinweis verstanden: Penyengat Island gehört zu der Hauptinsel Bintan, die zum Riau Archipelago gehört, welcher zur großen Malayischen Welt gehört. Dementsprechend wird der ganze Erdball gewissermaßen verbunden und harmonisiert durch die Wahl seines kleinsten Teils als Punkt des Aufbruchs.

Quelle Englischer Text von Gisa Jähnichen „Warisan Bintan: Maqam within a visualized heritage“ in www. mugam.az (2015) HIER.

Auswahl und Übersetzung J.R.

Mir scheint, man muss eine Vorstellung von der komplexen kulturellen Situation an genau diesem seltsamen Punkt der Welt haben, ehe man den Videoclip mit dem Wort Kitsch belegt.

Frühlingsraga in Bielefeld

Kala Ramnath live aus der Oetkerhalle

HÖRZU Indien 150311 Programmzeitschrift HÖRZU

Kala & Werner Fuhr 140311 kl Kala Ramnath & Werner Fuhr (WDR)

Zur Oetkerhalle – zeittypisch, dass man nichts über den Wandteppich im Kammermusiksaal erfährt, wohl aber, was Helge Schneider zum Holzcharakter der Halle eingefallen ist. Adorno hat gesagt, Architektur sei gefrorene Musik??? Es ist heute leicht, sich eines besseren zu belehren, siehe unter dem Begriff „Bezüge“ im Wikipedia-Artikel Architektur. Die Jury hatte einst gesagt:

„Der architektonische Aufbau des Ganzen ist von großer melodischer Schönheit.“

Niemals im Leben ist mir der zweifache Kontrast der Kulturen wunderbarer erschienen, als jetzt, angesichts der melodischen Schönheit Indiens, inszeniert vor dem barocken Wandteppich.

Probenbild (Handyfoto JR)

Kala Bielefeld Handy 150311 x

Frühling in Indien: Raga Basant (Provincial Mughal c. 1610) Krishna mit Gespielinnen

Basant Miniatur kl

Blick vom Sparrenberg auf Bielefeld (der Frühling lässt noch auf sich warten)

Bielefeld 7

Bielefeld 13

Bielefeld 12

Fotos: E.Reichow

Programm Kala Ramnath (bis 10. April 2015 nachzuhören HIER)

1) Raga Gorakh kalyan (ab 4:16 bis 53:34) anschl. Pausenbeitrag JR (Text hier)

Raga Gorakh kalyan

2) Raga Basant (ab 1:18:44 bis 1:37:53)

Raga Basant

In beiden Ragas, also 1) und 2), ist der Tala des jeweils ersten Teils: EKTAL (12). In 1) im Tempo Vilambit (Slow), was  bedeutet: 48 micro beats; in 2) schnelles Tempo. Ähnlich wie in der Übung (siehe unten).

3) Raga Chayti (ab 1:39:43 bis 1:51:35)

4) Raga Bhairavi (erst nach Ende der Sendezeit)

Übung „Music in Motion“ Gorakh Kalyan HIER, Basant HIER. Tala Ektal z.B. HIER (beginnen bei 3:07).

Bielefeld Bühne Kammermusiksaal Gobelin

Nachtrag (Nach-trag, nicht Nacht-rag) 15.03. 6:00 h

Etwas, was ich nicht vergessen möchte: K.R. erwähnte im Gespräch, dass sie die Töne sehen kann. (Sie kennt noch nicht „Music in Motion“. Also: das ist nicht gemeint!!!) Ich hätte nachfragen müssen, wie denn? Körperhaft, wie „Korpuskeln“? An bestimmten Orten, die sie im Spiel aufsuchen wird, wo sie ihnen auf dem Gang durch den Raga begegnet? Ich fühlte mich an Wagner erinnert, der erzählt, dass ihm als Kind Töne leibhaftig erschienen seien, die Quart, die Quinte… Vor allem an Viktor Zuckerkandl, der meines Wissens als einziger solche Fragen untersucht hat: die nach dem Ort in der Musik. Wo befinden sich die Töne, die ich höre, – in welchem Raum? Ich habe einmal eine SWR-Sendung über V.Z. gemacht und das arg esoterisch strapazierte Rilke-Wort vom Weltinnenraum dafür verwendet. Aber Zuckerkandl – das ist bemerkenswert – untersucht es wissenschaftlich-konkret, gewissermaßen topographisch. Und so schien es mir auch hier im Gespräch gemeint. – Ausführlich erläuterte sie, weshalb für sie Musik-Interpretation mit Meditation identisch sei. Leider habe ich nicht nachgefragt, weil mir das ein indischer Topos zu sein schien; aber vielleicht wäre doch Spezifisches zum Vorschein gekommen.

Ein anderes Thema mit A.Banerjee: dass ihm afghanische Rhythmen seltsam „irrational“ (dieses Wort hat er nicht gebraucht) erschienen seien: es habe sich – nach Meinung der Interpreten um Fünfer oder Siebener gehandelt, aber sie seien so „zusammengezogen“ ausgeführt worden, dass man es unmöglich zählend erfassen konnte. (Ich fühlte mich mich an die polnischen Rhythmen und an die bekannte Diskussion zwischen Chopin und Meyerbeer über den Mazurka-Takt und seinen „Nationalcharakter“.) All dies schließt sich „zufällig“ (jedenfalls nicht explizit) an das im Pausenbeitrag behandelte Phänomen an. Die beiden kannten ihn ja nicht. Aber K.R. reagierte lebhaft, als ich von Madhup Mudgal sprach, offensichtlich ein Künstler, der sie interessiert. Vielsagend, wie sie auf andere Namen mit Zurückhaltung reagiert. Insbesondere auf solche, die für Fusion einstehen, auch sehr bekannte, ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst auch zuweilen in solchem Zusammenhang genannt wird. Eine westliche Manie, unsere Journalisten sehen darin reflexartig eine fortschrittliche Haltung.

***

Bemerkenswert ist die zufällige Ähnlichkeit der Bildsujets: Die Visualisierung des Ragas Basant stellt Krishna im Kreis der Gopis (Hirtinnen) dar, die am Ufer eines Gewässers Musik machen und tanzen; der Wandteppich zeigt einen behelmten Mann, der in den Kreis tanzender Mädchen einbezogen ist, eins von ihnen sitzt im Gras und schlägt ein Tamburin. Im Hintergrund ein Schiff. Odysseus trifft auf Nausikaa? (Keuscherweise alle bekleidet, anders als bei Homer, wo sie zudem nicht tanzen, sondern sich mit Ballspiel vergnügen.)

Die kleine und die große Geschichte

Das Private und die Welt

Es ist keine Überheblichkeit, sich selbst in Beziehung zum Ganzen zu setzen, so wie es kein Zeichen von Bescheidenheit ist, wenn man sich selbst als Nichtigkeit behandelt. Man bewegt sich auf gebahnten Wegen, auch wenn man den nächtlichen Sternenhimmel betrachtet und sich als Sandkorn fühlt, man beruft sich auf Immanuel Kant, die Erbauer der Pyramiden oder Millionen Menschen vorher oder gleichzeitig. Wenn einem zwei von ihnen zum erstenmal gegenüber sitzen, wird man doch sehr bald von Großeltern und Verwandten reden, von der Gruppe, aus der man kommt, von den Generationen vorher, von der Geschichte der Sprache und der Ernährung, von der Bedeutung der Musik hier und dort. Zumal im Fall Indien, wo die klassische Musik, d.h. diejenige von bleibender Bedeutung, sich vor Jahrhunderten in zwei große Stile gespalten, den der karnatischen Südindiens und den der Hindustani-Musik. Im Fall der Geigerin Kala Ramnath innerhalb ein und derselben Familie, das Instrument selbst führt in die Tiefe der Geschichte. Im Fall des Tabla-Spielers Abhijit Banerjee schnell zurück zu jenem Punkt, als die Begegnung mit dem berühmten Namensvetter ihn in den Fokus öffentlicher Wahrnehmung führte. Weltöffentlichkeit. Das Dokument der Zusammenarbeit mit Nikhil Banerjee bedeutet ihm persönlich viel.

Kala Ramnath & Abhijit Banerjee

Banerjee CD

Die Jahreszahl trügt, entstanden ist die Londoner Aufnahme in den frühen 80er Jahren, Nikhil Banerjee starb am 27. Januar 1986, noch nicht 55jährig; Abhijit war ein junger Mann am Anfang seiner Karriere.

Das folgende Buch erreichte mich am Tag der Abreise nach Bielefeld, wo am 11. März das Konzert der indischen Künstler stattfand. Das ist der einzige Zusammenhang… Typisch. „Im Anfang war das Wort – aber sicher nicht die Schrift.“ Ob es in dieser Schrift ein Wort über die Musik gibt?

Parzinger Titel 1 Parzinger Titel 2

Nachtrag 18.03.2015

Schließlich machen wir Bekanntschaft mit den frühen Zeugnissen der Kunst. Wir staunen über frühe Musikinstrumente, doch stehen wir manchmal ganz und gar ungläubig vor Felsbildern, deren künstlerische Qualität und Ausdruckskraft noch heute dem Betrachter den Atem rauben. Waren es heilige Orte, an denen sich von Zeit zu Zeit Menschen versammelten und ihre Gedanken und Vorstellungswelten an den Höhlenwänden verewigten? Was bedeuten die Hände, die als Zeugnisse früher Individualität, was die Mischwesen, die vielleicht als schamanistische Bildelemente erscheinen? In diesen Fällen müssen wir bei der Interpretation besondere Vorsicht walten lassen, um nicht unsere eigenen Erwartungen und Vorstellungen in eine unendlich ferne Vergangenheit zurückzuspiegeln. Darin liegt generell wohl die größte Gefahr im Umgang mit prähistorischen Gesellschaften, die uns nicht bewusst mit Zeugnissen über sich selbst versorgt haben. Ein entscheidendes merkmal, die uns in diesem Buch begegnen, ist ihre Fremdheit und die Fremdheit der Lebensbedingungen, unter denen sie entstanden und wieder vergangen sind.

Quelle Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus Verlag C.H.Beck München 2014 (Seite 15)

Cueva_de_las_Manos Argentinien

Foto: Christof Berger January 2000 (Wikimedia siehe hier)

Zu Hand siehe auch HIER und hier.

Ravanastron – ein alter Irrtum

Urahn der Violine? 

Dieser Name fällt immer noch, wenn von der mythologischen indischen Heimat der Streichinstrumente die Rede sein soll. Der Ursprung dieser Theorie liegt offensichtlich in Europa, bei Wikipedia findet man folgenden Passus:

 Der französische Naturwissenschaftler Pierre Sonnerat (1748–1814) ließ sich in Voyage aux Indes orientales et à la Chine, fait depuis 1774 jusqu’à 1781 neben indischer Geschichte und Mythologie auch über die als harmonielos und unvollkommen beklagte  indische Musik und die ravanastron aus. Er schrieb, dass sich Bettelmönche, die er Pandarons nannte, auf der Fiedel ravanastron begleiteten. Ravanas Musikbogen ravanahattha, wie er in den altindischen Epen vorkommt, hatte sich zu einer Bogenharfe und schließlich zu einer Stachelgeige, also zu einem von der pinaki vina verschiedenen Instrumententyp entwickelt.

Zahlreiche frühere Musikologen beriefen sich auf Sonnerat und hielten den Streichbogen für eine sehr alte indische Erfindung. Der belgische Musikhistoriker François-Joseph Fétis (1784–1871) zitierte in seiner Biografie über Antonio Stradivari (Antoine Stradivari, luthier célèbre) von 1856 Sonnerats Feststellung zum Alter der ravanahattha und erklärte, dass der Violinenbogen aus Indien stamme.1915 fasste Curt Sachs die bisherige Einschätzung der ravanastron mit dem Wort „Stammvater aller Streichinstrumente“ zusammen.

Quelle Wikipedia HIER. (Die Anmerkungen und Links habe ich weggelassen.JR)

Nicht bekannt ist demnach, dass auch der große Instrumentenkundler Curt Sachs seine Ansicht später revidiert hat.

Den letzten Stand der Wissenschaft kann man im MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) Sachteil Band 8 Artikel „Streichinstrumente“ 1998) nachlesen, Autorin ist Marianne Bröcker. Wenn hier vom „Quellenbestand“ die Rede ist, kann man davon ausgehen, dass nichts unberücksichtigt geblieben ist, was zum Thema gehört und überprüfbar war.

Inzwischen gelten diese Theorien als überholt, denn nach dem bisher bekannten Quellenbestand haben Streichinstrumente weder ein so hohes Alter, noch sind sie auf eines der früher diskutierten Instrumente zurückzuführen. Tatsächlich lassen sie sich nicht vor dem 10. Jahrhundert nachweisen und entstanden, wie Werner Bachmann überzeugend dargestellt hat, offensichtlich in Mittelasien (…)

Die Existenz des Streichinstrumentenspiels läßt sich in Indien erst im 12. Jahrhundert und in Ostasien im 13. Jahrhundert eindeutig nachweisen (…). In Europa begann es sich Anfang des 11. Jahrhunderts, über das arabische Spanien und Byzanz kommend, zu verbreiten und entwickelte hier sehr schnell eine große Vielzahl an regional unterschiedlichen Streichinstrumenten. (…)

Es ist davon auszugehen, daß der Ursprung der Streichinstrumente nicht in der ‚Erfindung‘ eines neuen, eigens entwickelten Instrumentes zu sehen ist, sondern daß existierende Saiteninstrumente nicht mehr gezupft, sondern mit einem Reibstab oder Bogen angestrichen wurden.

Man kann sich also nach wie vor auf die im Jahre 1966 vorgelegten Forschungen von Werner Bachmann berufen, wenn gleich er selbst am Ende des Kapitels zur philologischen Untersuchung auf Grund literarischer Belege – eine seltsame Theorie zur uigurischen Herkunft des Streichbogens zitierend – vorsichtigerweise schreibt:

Trotz dieser und ähnlicher Untersuchungen aus jüngster Zeit ist die „Indientheorie“ im Forschungsbereich der Vor- und Frühgeschichte des Streichinstrumentenspiels bisher noch nicht faktenmäßig widerlegt und wird auch neuerdings zur Diskussion gestellt.

Wie gesagt: das war der Stand 1966. Die Musikethnologin Marianne Bröcker ist mit dem von ihr referierten Stand 1998 nicht weniger vertrauenswürdig als Bachmann. Hier sein Inhaltsverzeichnis, soweit es unser Thema betrifft:

Bachmann Streichinstrumente Inhalt

Zum Begriff Ravanastron siehe die Korrektur des Artikels der Enyclopedia Britannica HIER.