Archiv für den Monat: Dezember 2014

Gott, im Großen und Ganzen

Zen-Buddhismus HAN Reclam (Zum Lesen bitte anklicken!)

Gerade hatte ich das Büchlein von Byung-Chul Han – unbefriedigt – von vorn angefangen, Nacht-Lektüre, erstes Kapitel: „Religion ohne Gott“ (die anderen sind schnell genannt: „Leere“, „Niemand“, „Nirgends wohnen“, „Tod“ und „Freundlichkeit“). Etwas verärgert schon, weil er mit Hegel beginnt, um erst nach 4 Seiten zu sagen: „Auch Hegels Interpretation der buddhistischen Meditation verfehlt die Geisteshaltung des Buddhismus“, und nach 6 Seiten hinzuzufügen: „Dieser Widerspruch entspringt aber seiner Fehlinterpretation des Buddhismus“.

Wie sollte es denn anders ausgehen, wenn am Anfang der Vers steht: „Der Große Buddha / er döst und döst / den ganzen Frühlingstag“. (Shiki)

Ganz richtig vielleicht, dass Buddha nur als Statue „Groß“ ist, aber nicht „als“ Gott, nicht einmal als eine Art Christus. Und warum soll ich mit einer Deutung beginnen, Hegels nämlich, die zu Beginn, also VOR einer dann 200 Jahre währenden Buddhismus-Forschung hochmütigst unternommen wurde? Ist das in irgendeinem anderen Gebiet der Forschung üblich?

„Diesen Mangel der Subjektivität ’suppliert‘ man mit der Gestalt des Buddha. So wird das ‚Absolute‘ durch ein empirisches, endliches Individuum personifiziert und ‚verehrt‘. Daß ein endlicher Mensch als ‚Gott‘ angesehen wird, erscheint aber, so hieß es bei Hegel, ‚uns am widerwärtigsten, empörendsten, unglaublichsten‘.“ (Han Seite 16 nach Hegel)

Muss man darüber auch nur einen Moment lang nachdenken?

Gerne über Hegels „spekulative Grundfigur“ (Herbert Schnädelbach), bei deren Erläuterung dann irgendwann der Satz folgt „Gott ist das Sein“ und auch manches über die Idee das Ganzen. Meinetwegen, da er doch von der Theologie geprägt war. Aber der Buddhismus, die „Religion ohne Gott“, eben nicht.

Schlimm, dass mir das GANZE nun auch wieder in der neuen ZEIT begegnet. Halte ich es doch weiterhin mit Adorno: „Das Ganze ist das Unwahre“. Ein neues Buch von Volker Gerhardt, besprochen von dem Theologen Friedrich Wilhelm Graf, ZITAT:

Gerhardt redet hier sehr gern vom Ganzen: Nur wenn das „Ganze der Welt“, und das „Ganze des Daseins“ mit dem nach Einheit mit der Welt suchenden Ganzen des Individuums, der Person, zusammengedacht werde, könne „das Ganze des Menschen als das zugehörige Gegenüber des Ganzen der Welt“ begriffen werden. Den Einwand, mit solchen Denkfiguren nur die Überlieferungen von Pantheismus oder Panentheismus fortzuschreiben, lässt Gerhardt nicht gelten. Sein wirklich alle erlebten und erdachten Ganzheiten umfassendes, also allumfassendes Ganzes, gleichsam das ganz unendlich große Ganze aller endlichen Ganzheiten, darf von frommen Menschen auch als persönliches Gegenüber vorgestellt werden.

Quelle DIE ZEIT 17. Dezember 2014 Das ganz große Ganze / Gott ist gar nicht tot: Der Philosoph Volker Gerhardt erklärt in seiner Religionstheorie, warum es für denkende Menschen sinnvoll und nötig ist, an Gott zu glauben. Von Friedrich Wilhelm Graf.

Ja, geht’s denn noch!? Wenn das in diesem Stil gehen soll, kann ich ja gleich Manfred Lütz lesen. „Bluff! Die Fälschung der Welt“ – Wer sonst kann das alles erklären als der wohlgelaunte, ganz und gar allwissende Gott-Erklärer („Eine kleine Geschichte des Größten“).

Es weihnachtet sehr! Aufklärung in Zeiten der Verwirrung!!!

Kant Gerhardt

Zu empfehlen: Herbert Schnädelbach Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung / Junius Verlag Hamburg 1999 / 2007

Außerdem eine erstaunliche Webadresse: http://www.abcphil.de/

Oder auch, wenn man weiter nichts glauben oder wissen will, dies:

Schubert Belcea a

Ein Geschenk zum Beispiel?

Für Kinder oder Enkel (zwischen 7 und 13), Stichwort Perspektivenwechsel

Sehen Regenwurm vorn  Sehen Regenwurm rück

(Handy-Photo JR) Mehr hier.

Im Original ein visueller Genuss von Anfang bis Ende, ein hochformatiges, aber nicht sehr schweres Buch, mit ausklappbaren Bildteilen, für Leser/innen jedes Alters. Ich verschenke es ungern, bzw. sehr gern, weil ich es mit jedem Kind aufs neue ansehen darf. Beim Wort Perspektivenwechsel, das im Buch nicht vorkommt, denke ich natürlich an die Arbeit des Ethnologen. Man kann ebenso an die der Zoologen, Verhaltensforscher, Philosophen oder Künstler denken. (Bilder bitte anklicken)

Eichhörnchen Duprat

www.knesebeck-verlag.de München 2014

ISBN 978-3-86873-682-3

ZITAT

Das Sehen – ein Sinn von vielen. Der Sehsinn ist für uns Menschen und die anderen Primaten sehr wichtig, aber für viele Tiere spielt er keine so große Rolle. Für viele Tiere ist es nicht weiter schlimm, wenn sie nicht gut sehen können, denn als Ausgleich sind bei ihnen andere Sinne besser entwickelt als bei uns: der Geruchssinn, der Geschmackssinn, der Hörsinn oder der Tastsinn.

Originalausgabe ZOOPTIQUE Éditions du Seuil, Paris 2013 Mehr sehen HIER

Guilleaume Duprat (Ausschnitt)

Raubtierauge

Sehen Hunde eigentlich Farben? Können Katzen wirklich nachts jagen ? Wie finden Insekten Pflanzen? Welche Tiere sehen besser als andere? Diese und viele weitere interessante Fragen, wie Tiere sehen, beantwortet dieses Buch. Bei jedem Porträt verdeckt eine Klappe in Form einer Augenmaske die subjektive Perspektive des Tieres. Öffnet man die Klappe, zeigt sich, was genau das Tier sieht. Zusätzliche Informationen auf der Rückseite jeder Klappe verraten, wie und warum das Tier die Welt genau so wahrnimmt. Der aktuelle Stand der Wissenschaft nach Tausenden Experimenten spannend, kinder-, eltern- und menschengerecht umgesetzt!

(Werbetext, leicht verändert: JR)

Über die Sprachlosigkeit der Tiere und…

… warum sie nicht Klavier spielen

Marian Dawkins:

Will ich wissen, was Ihnen etwas bedeutet, kann ich Sie fragen. Sie könnten eine leidenschaftliche Rede über all das halten, was Ihnen wichtig ist – Familie, Karriere, das Sammeln alten Silbers oder was es auch immer sein mag -, und ich würde in recht kurzer Zeit eine deutliche Vorstellung davon bekommen, was Ihnen etwas bedeutet. Natürlich ist das bei anderen Lebewesen nicht möglich. Ich kann mich hinsetzen und sie beobachten und den Lauten zuhören, die sie hervorbringen. Doch woraus sie sich – wenn überhaupt etwas machen, darüber schweigen sie sich beharrlich aus.

Aber vielleicht liegen wir ganz falsch, wenn wir denken, nur über die Sprache erfahren zu können, was wir wollen. Vielleicht versperren wir uns, indem wir uns an die Sprache klammern, den Zugang zu einer noch ergiebigeren Informationsquelle. Sicherlich läßt sich über die Sprache schnell und geschickt herausfinden, was anderen Menschen wichtig ist, aber sie ist schließlich nicht die einzige Möglichkeit hierfür – auch bei Menschen, die unsere eigene Sprache sprechen. In mancher Hinsicht erfahren wir durch das, was Menschen tun, viel mehr über ihren Gefühlszustand als durch das, was sie uns in so vielen Worten über ihre Gefühle mitteilen. Jemand, der gelegentlich sagt, „Oh, ich möchte Klavier spielen können!“, drückt sehr viel weniger überzeugend aus, was er wirklich will, als jemand, der nichts sagt, aber jeden Tag vier Stunden seines Lebens opfert, um zu üben. (…)

Quelle Marian Stamp Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg etc. 1994 (Seite 192 f Kapitel 5. „Fühlen wie wir“)

ZITAT SZ „Drei Wege zum Gesang“

Ausgangspunkt für das genetische Riesenprojekt war die Frage, welche Gene Vögel brauchen, um singen zu lernen. Eine der großen Überraschungen ist nun die Erkenntnis, dass sich der Gesang wohl gleich dreimal in den verschiedenen Entwicklungslinien der Singvögel, der Kolibris und der Papageien ausgebildet hat. Die dafür zuständigen Gene sorgen beim Menschen für das Sprachvermögen und könnten auch bei anderen Tieren an unterschiedlichen Lernvorgängen beteiligt sein. Bislang war bereits klar, dass sich auch die Hirnstrukturen, die für das Singen bei Vögeln und das Sprechen beim Menschen zuständig sind, stark ähneln. Eine weitere Studie zeigt zudem, dass das Singen einen steuernden Einfluss auf 10 Prozent der Vogelgene hat – und liefert damit einen Hinweis darauf, wie das Verhalten eines Tieres und seine Erbanlage sich gegenseitig beeinflussen können.

Quelle Süddeutsche Zeitung 12. Dezember 2014 Drei Wege zum Gesang. Neuer Stammbaum zeigt, wie sich Vögel entwickelten. Von Hanno Charisius

Wie dem auch sei, entscheidend ist, daß die Sprache bei weitem nicht die einzige Möglichkeit darstellt herauszufinden, was anderen Menschen etwas bedeutet. Und zumindest einige der anderen Wege – beispielsweise Handlungen, die uns überzeugen, daß jemand meint, was er sagt, oder wirklich durch starke Gefühle an etwas gebunden ist – stehen uns auch offen, wenn es um andere Arten geht. Daß es keine entsprechende Büffel-, Birkhuhn- oder Bärensprache gibt, in der wir diese Tiere in Worten fragen könnten, was wir fühlen, ist also kein so gewaltiges Hindernis, wie es zunächst vielleicht scheint. Ganz im Gegenteil: Die Tatsache, daß wir gezwungen sind, bei ihnen nach direkteren und zwingenderen Methoden zu suchen, könnte sich im Endeffekt als Vorteil erweisen. Zumindest ist es schwieriger zu lügen, wenn man keine Worte benutzen kann. (…)

Tiere haben kein Geld zu vergeben und kein Klavier, um darauf zu üben. Wollen wir also über ihr Handeln herausfinden, was sie fühlen, müssen wir etwas Einfallsreichtum zeigen und uns Situationen ausdenken, in denen sie uns das eindeutig mitteilen.

Quelle Dawkins (wie oben) Seite 193 f

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Raggiana Paradiesvogel (Wikimedia Common markerharper1)

Vor 100 Jahren

Mein Großvater und seine Familie 1914/18

Opa 1914gr Opa Familie 1914 Opa Familie 1915

Lebenszeiten: Vater (1882-1966) Mutter (1887-1965) Kind a (1910-1944) Kind b (1913-2005)

Opa Erinnerungen Anfang

ZITAT (SZ)

Was also bleibt von diesem Jahr des Gedenkens an einen lange vergangenen Krieg? Es bleibt zum Beispiel ein überraschender (und überraschend verbissener) Streit um Schuld. Niemand hatte wohl erwartet, dass 2014 in deutschen Feuilletons noch einmal darüber gestritten würde, wer den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu verantworten hat. All die „Schlafwandler“ in Berlin und Wien, Paris, London und Sankt Petersburg gemeinsam, wie der Historiker Christopher Clark die beteiligten Politiker, Diplomaten und Generäle genannt hat? Oder doch der tumbe, weltmachthungrige deutsche Kaiser und die preußischen Militaristen? Die Heftigkeit, mit der darüber debattiert wurde, zeigt, dass selbst einhundert Jahre nach jenem verhängnisvollen Sommer 1914 nicht nur um neue Erkenntnisse geht, sondern auch immer noch um die Verteidigung alter ideologischer Dogmen.

EINSCHUB (Clark)

In einer der interessantesten jüngeren Publikationen über diesen Krieg wird die These aufgestellt, dass er nicht nur keineswegs unvermeidlich, sondern tatsächlich „unwahrscheinlich“ gewesen sei – zumindest bis zu seinem Ausbruch. Daraus würde folgen, dass der Konflikt nicht die Konsequenz einer langfristigen Verschlechterung der Beziehungen war, sondern kurzfristiger Erschütterungen des politischen Systems. Ob man diese Anschauung nun teilt oder nicht, sie hat den Vorteil, dass sie das Element des Zufalls in das Geschehen einbringt. Und es triff mit Sicherheit zu, dass manche Entwicklungen, die ich hier untersuche, zwar unmissverständlich in die Richtung der tatsächlichen Ereignisse von 1914 verweisen, dass andere Vektoren des Wandels vor dem Krieg aber auch auf Ergebnisse hindeuten, die schließlich nicht Realität wurden. Dies im Hinterkopf, möchte ich in diesem Buch zeigen, wie die einzelnen Puzzleteilchen der Kausalität zusammenkamen, die, sobald sie an Ort und Stelle lagen, den Kriegsausbruch ermöglichten. Ich habe versucht, mir stets vor Augen zu halten, dass die in diesem Buch beschriebenen Menschen, Ereignisse und Kräfte in sich den Keim für andere, vielleicht nicht ganz so schreckliche Zukünfte trugen.

Quelle Christopher Clark: Die Schlafwandler Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog DVA München 2013 ISBN: 978-3-421-04359-7 (Zitat: Ende der Einleitung Seite 18f)

Ausgelöst wurde dieser Streit durch den ungewöhnlichen Erfolg von Clarks Buch. (…) Die wenigsten Menschen, die Clarks „Schlafwandler“ gekauft und gelesen haben, taten das, weil sie Revisionisten sind. Eher war es so: Clark und die vielen anderen Autoren, die 2014 neue Bücher zum Ersten Weltkrieg vorlegten, trafen – wohl zu ihrer eigenen Verwunderung – bei einem bemerkenswert breiten Publikum schlicht auf Neugier, auf ein großes, echtes Interesse an einem Ereignis, das trotz seines apokalyptischen Schreckens fern und rätselhaft geblieben ist.

In dieser Hinsicht war 2014 ein Jahr, in dem man viel lernen konnte – über deutsche und europäische Geschichte; darüber, wie Kriege beginnen können (auch wenn der oft bemühte Vergleich zwischen Sarajewo im Jahre 1914 und der Krim im Jahre 2014 nie richtig passte); manchmal auch nur über den eigenen Großvater und dessen von Kriegen gezeichnete Generation.

Quelle Süddeutsche Zeitung 13./14. Dezember 2014 Seite 4 Weltkriegsgedenken EUROPAS GLÜCK von Hubert Wetzel.

Meisterbrief Opa 1928 kl

50er Jahre

Aussage meines Großvaters: „Ich könnte wohl gut 100 Jahre alt werden!“

Aussage meiner Großmutter: „144000 jetzt lebender Menschen werden niemals sterben!“

Lieblingsbuch meines Großvaters / Lieblingsbuch meiner Großmutter

Opas Lieblingsbuch  Oma Lieblingsbuch

Was hat der Dichter nur gegen die Natur?

Ein Brief von Charles Baudelaire an Fernand Desnoyers (Ende 1853)

Mein lieber Desnoyers, Sie erbitten sich Verse für ihren kleinen Band, Verse über die Natur, nicht wahr? Über die Wälder, die großen Eichen, das Grün, die Insekten, – über die Sonne gewiß auch? Aber Sie wissen doch, daß ich unfähig bin, mich an pflanzlichen Gewächsen zu erbauen und daß meine Seele gegen die merkwürdige neue Religion revoltiert, die – wie mir scheint – für jedes spirituelle Wesen immer etwas Schockierendes hat. Ich werde niemals glauben, daß ‚die Seele der Götter in den Pflanzen wohnt‘, und selbst wenn sie dort wohnte, würde mich das nicht sonderlich beeindrucken und würde ich meine eigene Religion als ein höheres Gut schätzen als die der geheiligten Gemüse. Ich habe vielmehr immer gedacht, daß die blühende und sich erneuernde Natur etwas Schamloses und Widerwärtiges an sich habe.

Quelle Roland Schmenner („Die Pastorale – Beethoven, das Gewitter und der Blitzableiter“ Bärenreiter Kassel etc 1998 Seite 269), der in diesem ideenreichen, aber unordentlichen Buch recht ungenau angibt: vgl. Jauß, Kunst als Anti-Natur, Seite 133-154 (nur als Anmerkung, kein Vermerk im Literaturverzeichnis), siehe daher an anderer Stelle: Hans Robert Jauß: Kunst als Anti-Natur. Zur ästhetischen Wende nach 1789. In [derselbe]: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt am Main 1989, Seite 119-156.

Das französische Original ist hier zu finden, – der Text sei wie folgt wiedergegeben:

Mon cher Desnoyers,

vous me demandez des vers pour votre petit volume, des vers sur la Nature, n’est-ce pas ? sur les bois, les grands chênes, la verdure, les insectes, — le soleil, sans doute ? Mais vous savez bien que je suis incapable de m’attendrir sur les végétaux, et que mon âme est rebelle à cette singulière Religion nouvelle, qui aura toujours, ce me semble, pour tout être spirituel je ne sais quoi de shocking. Je ne croirai jamais que l’âme des Dieux habite dans les plantes, et, quand même elle y habiterait, je m’en soucierais médiocrement, et considérerais la mienne comme d’un bien plus haut prix que celle des légumes sanctifiés. J’ai même toujours pensé qu’il y avait dans la Nature, florissante et rajeunie, quelque chose d’affligeant, de dur, de cruel, — un je ne sais quoi qui frise l’impudence. / Dans l’impossibilité de vous satisfaire complétement suivant les termes stricts du programme, je vous vous envoie deux morceaux poétiques, qui représentent à peu près la somme des rêveries dont je suis assailli aux heures crépusculaires. Dans le fond des bois, enfermé sous ces voûtes semblables à celles des sacristies et des cathédrales, je pense à nos étonnantes villes, et la prodigieuse musique qui roule sur les sommets me semble la traduction des lamentations humaines.

C. B.
Quelle Texte établi par (préface de Auguste Luchet) Librairie de L. Hachette et Cie, 1855 (pp. 73-74).
Mehr zu Desnoyers: Sein Vorwort zum Salon des refusés „La Peinture en 1863″. Originaldruck hier nachzulesen.
Zum Salon des refusés hier.

Interessante Folgelektüre zum Thema „Kunst als ‚Anti-Natur'“ in: „Federico Garcia Lorca und der islamische Orient: die literarische Gestaltung einer kulturellen Fernbeziehung“ von Mirjam Schneider / Königshausen & Neumann Würzburg 2005 ISBN 3-8260-3016-8 (Seite 56 ff).

Natur global – regional

Ein Grund, nicht nur das Tageblatt zu lesen

Natürlich, es ist unentbehrlich. Ich erfahre nichts über Details aus dem Bergischen Land, meiner unmittelbaren Umgebung, wenn ich die Süddeutsche Zeitung oder die FAZ lese. Andererseits: was ist die Ursache, weshalb auch Neuigkeiten aus Kunst und Wissenschaft so unterschiedlich behandelt werden: als seien in der Provinz nur Kuriositäten gefragt, in der überregionalen Zeitung aber die Details? Der globale Blick schärft den Sinn für die wesentlichen Dinge auch im Detail. Und gerade weil sie so ausführlich behandelt werden, sind sie auch interessant und bedeuten mehr. Was links den Blickfang und die Schlagzeile ergibt, ist rechts nur eine Randbemerkung wert: „Die Analyse zeigt übrigens auch, dass die Falken enger mit Papageien verwandt sind als mit Adlern.“

ST Tierisch Falken Papageien kl  SZ Falken & Papageien

Mit Recht steht unter dem ausführlichen Artikel (rechts: Süddeutsche Zeitung 12.12.2014) auch ein Autorenname: Hanno Charisius. Man findet den Text nicht im Internet, aber ich habe ihn längst abgeschrieben. So viel Zeit muss sein. (Genau wie früher in den Klöstern, wenn Bruder Charisius mal wieder Vorbildliches aufs Pergament gebracht hatte…)

Man kann aber auch den verschlungenen Weg zu den Originaltexten nachvollziehen: z.B. Hier.

Da wir heute sozusagen in der Rubrik „Vermischtes“ unterwegs sind, darf ich noch einen Video-Link mitteilen, den ich Manfred Bartmann verdanke. Mein Lieblingsinstrument Dan Bao!

Wollen Sie das Instrument womöglich lernen? Oder lernen, wie man’s lernt? Schauen Sie HIER.

Vielleicht suche ich aber gar nicht dies, also etwas was Musik betrifft, sondern die Stille? Und höre, dass jemand sagt: „Stille ist nicht die Abwesenheit von etwas, sondern die Präsenz von allem.“ Gordon Hempton hat das gesagt, und er ist es, der sich oft genug im allerstillsten Gelände der USA befindet. Hier kann man hören, wie still es dort ist. http://onesquareinch.org/

Verführung zum Nicht-Lesen

Ein seltener Fall: die begeisterte Besprechung eines Buches zu lesen und zu beschließen, das besprochene Buch nie und nimmer zu lesen. Und so kann es einem gehen, wenn der eine Dichter den anderen als besonders sprachmächtig charakterisieren will, aber gerade das Gegenteil vermittelt. Ein Lehrstück in der neuen ZEIT: Martin Walser über Rudolf Borchardt und seine Sprache der Liebe.

In dem einzigen Buch, das ich je von Rudolf Borchardt gelesen habe und das mich beeindruckt, ja, begeistert hat, – „Der leidenschaftliche Gärtner“ -, findet sich eine zusammengefaltete Zeitungsseite, die Würdigung anlässlich des letzten Bandes der Gesammelten Schriften Rudolf Borchardts vom 1./2. Juni 1991, und schon diese hat bewirkt, dass ich nichts weiter von ihm lesen wollte. Auch damals ging es um die Liebe, und zwar in einer fragmentarischen Geschichte, überschrieben „Der bestrafte Leichtsinn“.

Marie Louise Borchardt, die verdienstvolle Sachwalterin der Werke ihres Mannes, hat bekannt, daß sie mit diesem Feuerwerk nicht eben viel anzufangen wußte und deshalb vielleicht ihren Teil zum vorzeitigen Abbruch beitrug.

Inmitten der Kapriolen, auf dem Wege zum Maskenfest im schwankenden Gefährt, finden sich die Liebenden zum innigsten Gespräch; überwältigt von der zarten Glut des unerfahrenen jungen Adi vergißt die Geliebte ihr Spiel des Anlockens und Abstoßens, gibt ihren sehnlichsten Wunsch preis und wechselt hinüber zur unverstellten Sprache der Liebenden: „Die Grenzen“, sage ich hinterm Fächer, „mußt Du selber kennen.“ „Wo sind sie?“ sagte er zwischen den Zähnen, ohne die Lippen zu regen. „Wo die Wirklichkeit beginnt; bis dorthin gelten Spielregeln; schenke mir Dein Herz, aber schneide es Dir nicht aus; wirf keine Mühlsteine in Netze aus Haaren. Erlaubt ist, was ich von Dir will, ich will von Dir, was ich brauchen kann; was das ist, mußt Du fühlen, durch Dein eigenes Gefühl. Was ich will, mußt Du wollen, unwillkürlich.“ „Eben“, sagt er durch die Mundwinkel, „hast Du gesagt, Du erlaubst mir, Dich zu lieben. Heißt das, was Du jetzt sagst, Du willst daß ich Dich liebe?“ „Es heißt vielleicht weniger vielleicht sogar noch mehr“, summe ich ihm aus dem Winkel zu, „aber eine Bedingung ist daran geknüpft. – Du mußt sie erfüllen.“ „Jede“, spricht er vor sich hin und schließt die Augen. „Fordere nie, daß ich Dir sage ‚Ich liebe Dich‘. Verlange nie mehr als die zwei Worte, immer die gleichen ‚Liebe mich‘.“

Das Zitat ist der Schluss (Höhepunkt) einer Besprechung aus dem Jahre 1991 und vielleicht der einzige Grund, weshalb ich Martin Walsers Besprechung der Liebesbriefe, die Rudolf Borchardt mit Marie Luise Voigt (bzw. bald Borchardt) real gewechselt hat, von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen habe, daraufhin jedoch die Lektüre der realen Briefe für immer verweigere.

Quelle 1 Süddeutsche Zeitung 1./2. Juni 1991 (Seite 145) Klaus Garber: Ein leidenschaftlicher Gärtner der Kultur / Zum Abschluß der Gesammelten Schriften Rudolf Borchardts.

Quelle 2 DIE ZEIT 11. Dezember 2014 (Seite 55) „Küsse meine Brust“ Der Sprachrausch ist die höchste Form der Erotik: Das beweisen die Liebesbriefe des Dichters Rudolf Borchardt und seiner Frau. Von Martin Walser.

Nein, ich kann nicht glauben, dass die Briefe beweisen, was Walser will. Fast könnte man meinen, dass mit der Überschrift die Erotik tatsächlich ihr Bewenden hat.

Nach diesem reinen Sinnlichkeitsmoment flieht er wieder dahin zurück, wo er herkam, in die Reflexion: dass er nämlich nichts von dem sagen könne, was ihn zu ihr hindränge. Aber er fühle schon ein stetes „Brausen und Brennen“; das schildert er zuerst als grandiosen Wetterwirbel, ein Metaphern-Gewitter ohnegleichen, bis er dann endlich sagen kann: „Ich liebe Dich.“ Und: „lass mich so werden, wie Du mich brauchst.“ Um dann sofort wieder in die pure Weisheit auszubrechen und dann doch wieder zurück zum Bekenntnis, er sei „durchglüht und berauscht, liebe geliebte Figur und Mund, Brust und Hände und sanftes Herz und reines heißes Auge, ich küsse Dich, ich küsse euch mit jedem Pulsschlage in meinem wunden Munde.“

Indische Musik SEHEN

„MUSIC IN MOTION“

Ein Weg, indische Musik in ihrem Verlauf zu sehen und zu verstehen. – Als Initiatoren dieser wunderbaren Methode, die keiner Notenschrift im westlichen Sinne bedarf, möchte ich hervorheben: Dr. Suvarnalata Rao und Dr. Wim van der Meer. Näheres erfährt man über die gleich anzuklickende Introduction (Einführungsseite).

Dies ist die Kopie (Screenshot) eines Teils der Einführungsseite

Indien Screenshot kl

Man rufe den Blogbeitrag, der hier vorliegt, zusätzlich  in einem zweiten Fenster auf und klicke auf dieses Bild, um es in Vergrößerung betrachten zu können, so dass man problemlos zwischen dem Text hier und dem vergrößerten Bild dort hin- und herschalten kann. Ich beziehe mich zunächst auf die Worte, die in orangener Farbe zu lesen sind.

Die oberste Zeile („upper part gives the breader view“ etc.) besagt, dass dieser grau unterlegte Bild-Abschnitt eine weiter gefasste Übersicht über den Verlauf der Melodie gibt: diese ist in Gestalt der gezackten Linien wiedergegeben, in diesem Fall in 5 Melodiezügen. Es ist also die verkleinerte Wiedergabe dessen, was im unteren Abschnitt passiert. Die senkrechte blaue Linie („curser“) entspricht genau dem aktuellen Zeitablauf, oben genau so wie unten, man hat oben aber Gelegenheit, mehr vom vergangenen und bevorstehenden (!) Melodieverlauf im Auge zu behalten. Die Punkte über dem unteren Rand des grauen Bereichs bezeichnen den Sekundenverlauf.

Im helleren Teil des Bildes sieht man in der Mitte den senkrechten blauen Strich, der genau den jeweiligen Stand des Melodieverlaufs bezeichnet. Man kann auch nach Bedarf stoppen, um den Verlauf analytisch zu bedenken. Am unteren Bildrand ist der Sekundenverlauf bezeichnet, so dass man beliebige Stellen gezielt ansteuern kann.

Am linken Bildrand die Töne angezeigt, die im Raga (der Melodie) verwendet werden („sargam of notes“), man sieht von unten nach oben die Anfangsbuchstaben der Töne Pa, dann Sa Ri Ga Ma Pa Dha Ni Sa und ganz oben Ma, also der „Singe-Silben“ der Töne; in westlicher Notation (Grundton Sa als Ton C genommen) wären das G, dann C d e f G a h C und E, wobei ich jetzt die möglichen Varietäten (es oder fis u.ä.) außer Acht lasse.

Das Wort „tanpura“ in der Mitte des linken Feldes bezieht sich auf die Stimmung der Grundtonlaute Tanpura; die 3 Pfeile zeigen auf den Grundton Sa, die Quinte Pa und die höhere Oktave Sa. Dies sind auch die Hauptlinien der waagerechten rosafarbenen Linien der Tonhöhen, vor denen sich das Auf und Ab der gezackten Melodielinie abzeichnet („the melodic line“). Außerdem erkennt man die waagerechten grauen Linien, insgesamt eine Linienfolge, die eine Halbtonskala in Vielfachen von 100 Cents erkennen lässt („grey scale position“ etc.).

Irritierend ist vielleicht zunächst, dass die hier ganz mechanisch aufgezeichnete Melodielinie auch „Zacken“ wiedergibt, wo wir nur einen einzigen (nämlich den „gemeinten“) ausgehaltenen Ton wahrnehmen, zuweilen auch kleine Tongirlanden, wo wir („oberflächlich“) nur ein Glissando wahrnehmen. Daran gewöhnt man sich…

Bleibt noch die Zahlenreihe am unteren Bildrand: die Sekundenfolge, die mit dem Einsatz der Aufnahme beginnt.

Ich würde vorschlagen, in der Praxis mit dem Raga Madhuvanti zu beginnen, den wir schon in einem früheren Beitrag (HIER) hervorgehoben haben (die Geigerin Kala Ramnath 2006 in Utrecht) . Man findet diesen Raga in „Music in Motion“ auf folgendem Wege: Auf der oben angegebenen Seite „Introduction“  sieht man links die Spalte „Rags“ mit einer alphabetischen Auflistung der behandelten Ragas. Also: auf „Madhuvanti“ gehen und klicken. Oder auch, bei späterem Bedarf, direkt HIER.

Was nun?

Ein notenkundiger Mensch bei uns wird sich das Tonmaterial des Ragas vielleicht gern in westlichen Noten oder auf der Tastatur des Klaviers vorstellen: (aufwärts) C D ES FIS G H C / (abwärts) C H A G FIS ES D C.

Man beschränke sich zunächst auf die Interpretation mit Ashwini Bhide (Bio hier). Etwas irreführend steht unmittelbar unter ihrem Oszillogramm „Performance by Aslam Khan“, was sich bereits auf die nächste Darstellung bezieht. Während des Hörens auch das über dem Verlaufsbild aufgelistete Protokoll verfolgen, aber nicht um jeden Preis verstehen wollen, vor Sekunde 73 – d.h. bevor die Tabla-Trommel einsetzt – anhalten und die Tala-Markierung studieren, die senkrechten Linien.

Die Aufführung (der Verlauf im Detail)

4-8: die Interpretation beginnt auf dem tiefen Ni (H), einem wichtigen Ton dieses Ragas

20-28: es gibt eine Oszillation, eine Bebung (andol) auf dem GA (ES), sie führt zum erhöhten MA (FIS), welches ausgehalten wird und zum GA (ES) zurückkehrt.

30-51: in den nächsten Phrasen wird zunächst PA (G) gehalten, gefolgt vom mittleren NI (dem eine Terz höheren H). Beachte die Phrase, die über DHA (A) zum PA (G) zurückkehrt.

52-57: die Melodie geht weiter abwärts („sown“ = Druckfehler) zum GA (ES), nachdem sie auf dem scharfen MA (Fis) innegehalten hat. Beachte ein Ornament (murki), das die Töne GA, MA, Pa und Dha (ES-FIS-G-A) umfasst (52-53).

73-105: die erste Zeile der Komposition wird präsentiert und mit einigen Varianten wiederholt. Beachte den akzentuierten Schlag (sam) der 16-Schlag-Periode (rhythmic cycle), der zusammentrifft mit einem melodischen Gleitton S/M (vom C zum FIS)

106: zweite Zeile beginnt [das heißt: mitten im Zyklus. Wir haben bis hier 4 vollständige Zyklen gehört – viermal „sam“, die 1 -, nach dem Beginn des 5. Zyklus beginnt die neue Text(!)-Zeile, eben auf 106]

142: zweiter Teil der Komposition (antara) beginnt, zum hohen SA (C) führend und darüber hinaus

163: Schlusszeile der Komposition

188-255: Ausarbeitungen um das tiefere NI (H) und das mittlere Ga (ES) mit Hilfe des Vokals „aa“. Oszillationen auf dem Ton GA (ES) (238-239)

256-291: Ausarbeitungen um den Ton MA (FIS). Gleitende Tonverbindungen vom tieferen NI (H) und mittleren SA (C) zum MA (FIS) und zurück (275-284)

294: die Bewegungen schließen auch das mittlere PA (G) ein,  ein wichtiger Ruheton. Beachte, wie die Phrasen auf GA (ES) enden, nachdem der Ton PA (G) gehalten wurde.

Nachtrag JR zum rhythmischen Zyklus: der Tala also heißt Sitarkhani. (Info z.B. hier). Vorschlag: Zählen üben ab 73 und dabei die Melodie nicht aus dem Sinn lassen (Aufmerksamkeit teilen!).

Und was bringt diese ganze Arbeit? Intensivierung der Wahrnehmung, Kenntnis des Ragas, des Talas, Sinn für die Schönheit der melodischen Linie, das Ebenmaß des Zeitablaufes, der Relation dieser beiden Parameter. Kurz: SINN.

Radikal kurz…

…die deutsche Literaturgeschichte

Ich kürze sie radikaler als Bismarck die Emser Depesche und schlage zugleich vor, sie später im Original und in Echtzeit zu studieren, vieles ist atemberaubend:

Der von den Literaturgeschichten suggerierte Zusammenhang einer deutschen Literatur vom achten Jahrhundert bis zur Gegenwart ist eine erfundene Tradition. Sie wurde von Germanisten eben in der klassisch-romantischen Periode der deutschen Literatur behauptet, um den nationalen Anspruch auf ein uraltes Fundament zu stützen. So plötzlich trat im 18. Jahrhundert eine deutsche Literatur von höchstem Rang hervor, daß selbst die Zeitgenossen glaubten, es müßten vergessene Vorläufer in der deutschen Vergangenheit zu finden sein.

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 18 f)

Widersprüchlich muß es erscheinen, daß die deutschen zu den alten Kulturvölkern Europas gehören, im Mittelalter als Zentralmacht sich auf die Tradition des Imperium Romanum beriefen, und daß dennoch eine kontinuierlich wirksame literarische Überlieferung erst seit 250 Jahren besteht. Bei anderen europäischen Nationen besteht sie seit 500 Jahren – so in Frankreich, England, Spanien – oder gar seit 700 Jahren – so in Italien, wo sich die Erinnerung an Dante, Petrarca und Boccaccio bis heute nicht verloren hat. Deutsche Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit hingegen stehen wie eine fremde Literatur mehr außer- als innerhalb der literarischen Tradition in Deutschland. Als letzte unter den westeuropäischen Sprachen, lange nach der portugiesischen und selbst nach der niederländischen (die sich von der hochdeutschen getrennt hat), findet das Deutsche, von Gottsched auf den Weg und von Goethe ans Ziel gebracht, zur allgemein akzeptierten Gestalt einer Literatursprache, die dann auch zur grammatischen und stilistischen Norm nicht-literarischer Prosa wird. Traditionen sind in der Geschichte der deutschen Literatur so kurzlebig, daß sie gar nicht Traditionen heißen dürften. Die Kenntnis althochdeutscher Dichtung geht nach 1150 verloren, die der mittelhochdeutschen nach 1450, die der frühen Neuzeit nach 1770. Die Geschichte der deutschen Literatur besteht aus einer Serie verlorener Anfänge, ehe es zu einem Anfang kam, der Bestand haben sollte. Die ältesten deutschen Werke, die das literarische Gedächtnis bis heute behalten hat, sind Lessings Dramen, Goethes Werther, einige Gedichte Klopstocks, Bürgers, Claudius‘ und des jungen Goethe.

Es liegt auf der Hand, Namen zu nennen, die Schlaffers Meinung zu widerlegen scheinen (von Meister Eckhart oder Walther von der Vogelweide bis zu Grimmelshausen), – sie taten keine Wirkung (oder erst bei der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert), sie gehörten nie zum öffentlichen Bewusstsein, der Gebildete in Deutschland verwendete Latein, die Klöster, der 30jährige Krieg, die Reformation usw. all dies bedeutete nicht eben einen Aufschwung der humanistischen Idee und der Renaissance.

In Deutschland, wo der Buchdruck erfunden wurde und sich das Verlagswesen am frühesten entwickelte, erschien in der frühen Neuzeit weniger weltliche Literatur in der eigenen Sprache als in anderen Ländern, und, was wichtiger ist als die Quantität, darunter keine, die heute noch Leser vergnügen, erstaunen, anrühren können. In der deutschen Literatur gibt es kein Gegenstück zu Villon, Ronsand, Rabelais, Montaigne in Frankreich, zu Sannazaro, Ariost, Tasso in Italien, zu Chaucer und den Elisabethanern in England, die alle zur Weltliteratur zählen. (Seite 36)

Deutschland ist das Land der Verspätung. Sehr interessant z.B. die Einschätzung des Begriffs „Barock“.

Die Serie der Verspätungen setzt sich im 17. Jahrhundert fort. Sie wäre deutlicher sichtbar, wenn man die – mit dem Klassizisten Opitz beginnende und mit dem Manieristen Hofmannswaldau endende – Epoche nicht „barock“ sondern „Renaissance und Manierismus“ genannt hätte. Der Begriff „Barock“ ist der Kunstgeschichte entlehnt, die ihn für Stilphänomene in europäischen Bauwerken und Gemälden des 17. und 18. Jahrhunderts verwendet. Die Eigenheiten dieses Stils sind ohne gewaltsame Interpretation in der deutschen Literatur des „Barock“ nicht wiederzufinden, doch verleihen sie ihr den Nimbus des Zeitgemäßen und gar einer Vorläuferschaft in der europäischen Kunstgeschichte. Durch geschickte Namensgebung hat die Germanistik das Abgeleitete zum Ursprünglichen umgetauft.

Nicht nur verspätet gelangt die Nachricht von der Wiederentdeckung der Antike nach Deutschland, sondern auch entschärft und entleert. (Seite 38)

Was ist mit meiner Langversion aus dem Jahr 1964?

LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte VI

ZITAT

Erst die Dissertation von Julian Schütt kehrte 1996 hervor, dass de Boor vorbildliche Arbeit für den NS-Staat leistete, indem er zum einen die deutsche Studentenschaft in der Schweiz zur Regierungspropaganda anregte und zum anderen im Auftrag der Kulturabteilung der deutschen Gesandtschaft in Bern die politischen Einstellungen der Berner Universitätsdozenten auskundschaftete. Leider verfiel der Schweizer Bundesrat erst 1945 darauf, de Boor zusammen mit seinem Gesinnungsfreund Richard Newald des Landes zu verweisen, auch wenn den beiden, wie Max Wehrli unterstrich, „wissenschaftlich […] kaum etwas vorzuwerfen“ war. Die Rubrik ‚Literatur‘ (gemeint ist Sekundärliteratur) nennt weder Schütts Monographie, noch Wehrlis Aufsatz, leider; auch wäre im Falle de Boor die Tatsache, dass er 1937 in die NSDAP eintrat, besonders aussagekräftig gewesen, da dahinter weniger Karrierekalkül, denn politische Überzeugung zu vermuten ist, schließlich lehrte de Boer zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre lang in der Schweiz. Nicht eigens Erwähnung finden im Übrigen de Boors wie auch Burgers Beitrag zum germanistischen Kriegseinsatz-Projekt ‚Von deutscher Art in Sprache und Dichtung‘.

Quelle Geschichte der Germanistik / Mitteilungen herausgegeben von Christoph König in Verbindung mit Michel Espagne, Ulrike Haß, Ralf Klausnitzer, Ulrich Wyss / 2004 Doppelheft 25/26  Wallstein Verlag (Seite 31)

Kritische Worte zum enzyklopädischen Ansatz

Ein Literaturhistoriker, dem in dem vielbändigen Großunternehmen Geschichte der deutschen Literatur (begründet von de Boor und Newald) die Darstellung des 15. und 16. Jahrhunderts zugefallen war, wehrt sich gegen das „Vorurteil“, daß die deutsche Dichtung dieser Epoche „minderwertig sei und die Mühe einer systematischen Beschäftigung nicht lohne“. Er hofft, das Vorurteil dadurch widerlegen zu können, daß er „philologisch sachliche Stofferfassung und -darbietung“ verbindet, an „die Stelle einer Geschichte der poetischen Literatur die Schrifttumsgeschichte treten“ läßt, um auf diese Weise zwei Bände mit mehr als 1400 Seiten zu füllen. Unter den vielen hundert Dichtern, die hier angeführt sind, kennt selbst der Gebildete (falls er nicht professioneller Germanist ist) lediglich den Namen – nicht das Werk – von Hans Sachs, und auch dies nur dank seiner Würdigung durch Goethe und seinen Auftritt in Wagners Meistersingern. Kultur- und Schrifttumsgeschichte läßt sich, da Kultur immer stattfindet und irgend etwas immer geschrieben wird, auch dann betreiben, wenn es an lesens- und erinnernswerter Dichtung fehlt. Wer diese beiden Bände liest, erfährt von der Existenz vieler Schriften, deren Lektüre er sich trotz dieser Unterrichtung dennoch nicht vornehmen möchte. Wie so oft ist das „Vorurteil“ Ergebnis eines vielfach bestätigten Urteils. Es ist nicht sinnvoll, das Urteil über die deutsche Literatur der frühen Neuzeit zu korrigieren, sinnvoll ist es aber zu erklären, weshalb es zutrifft.

Quelle (s.o.) Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 35 f)